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Kapitel 6 Zwischenwelt

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»Da bist ja wieder.«

Mit dieser Feststellung erreichte sie das Bild eines … ja was? … grauen Schattens, mehr war es nicht. Was geschah hier? Das war Lukas, der Junge von vorhin … oder wann? Auf jeden Fall musste der mit seinen Polypen etwas machen. Das Näseln war fürchterlich. Ganz langsam wurde aus dem grauen Schatten, eine graue Figur mit Gesichtszügen, wie auf einem Schwarz-Weiß-Foto. War etwas mit ihren Augen? Hier fehlte eindeutig Farbe. Mit diesem Gedanken knipste jemand die Farbe an. Nein. Nicht jemand. Eindeutig sie. Sie war in einer Geschichte. Doch nicht in der, die sie denken wollte. Egal … sie sah einen rothaarigen Jungen mit vielen Sommersprossen im Gesicht. Das war also Lukas. Er war ungefähr in ihrem Alter, vielleicht ein Jahr jünger und trug eine Jeans sowie ein kurzärmliges blaues T-Shirt. Seine nackten Füße standen in kurz gewachsenem Gras.

Gras? Nackte Füße? Jana sah an sich herunter. Tatsächlich auch ihre Füße waren unbekleidet und standen auf einer Wiese.

»Ich sehe dich«, stellte sie fest. Ihre Kleidung war seiner ähnlich. Eine etwas anders geschnittene Jeans und darüber ein gelbes Shirt. Sanfter, angenehm warmer Wind streifte die Teile ihres unbedeckten Körpers und rief angenehme Gefühle hervor. Sie hob den Blick und sah, was nicht sein konnte. Soweit ihr Auge reichte, Gras, unterbrochen von wenigen Bäumen mit mächtig ausladenden Kronen. Die Landschaft kannte sie. Doch woher, fiel ihr nicht ein. Sie sah zum Himmel hoch, der tiefblau über ihr hing. Keine Wolke und etwas tiefer, als sie in Erinnerung hatte. Keine Sonne und trotzdem taghell. Sie wusste, wenn sie jetzt den Blick nach unten richtete, blühten dort Gänseblümchen oder Krokusse oder Tulpen oder … eben die Blumen, die sie sich wünschte. So hatte es Opa erzählt. Und tatsächlich. Genau so war es. Sie dachte an eine schwierige Blume: Ranunkel. Und tatsächlich, eine neben der anderen, in leuchtenden Farben. Sie war also doch in ihrer Geschichte und wieder nicht. »Ich bin tot.« Die Feststellung kam leidenschaftslos über ihre Lippen.

»Nein. Weder lebst du, noch bist du tot«, stellte die Frau fest, die sie schon im ersten Gespräch kennengelernt, vielmehr gehört, hatte. Sie trug eine Jeans der gleichen Marke, wie Jana und ein gelbes Shirt. Sie war schon alt, wie Jana sah. Mindestens dreißig Jahre. Ihr rotes Haar war kurz gelockt und umschloss ein rundes angenehmes Gesicht. Die Augenfarbe war blau, wie bei Lukas. »Ich bin Vivian. Wir warten auf eine Entscheidung, was mit uns geschieht. Ob wir sterben oder leben.«

»Das verstehe ich nicht«, sagte Jana ganz ruhig. Sie empfand keine Angst mehr. »Mein Opa hat mir von diesem Garten erzählt. Als Einschlafgeschichte, und immer, wenn ein Tier starb oder ein lieber Mensch, den ich kannte. Alles sieht so aus, wie ich es aus seinen Geschichten in Erinnerung habe. Bis auf die vielen Menschen.« Sie beobachtete die wabernde Masse in stetiger langsamer synchroner Bewegung mit stumpfen Gesichtern. Alle starrten mit blassblauen leeren Augen irgendwo hin. Die weiblichen Personen trugen die gleiche Kleidung, wie sie und die männlichen Personen, wie Lukas.

»Dein Opa ist ein kluger Mann. Du hast keine Angst, wie ich sehe. Ich bin übrigens Stefan.« Der Mann, den sie bereits letztens gehört hatte, war dicklich und trug die gleiche Kleidung wie die Jungen. Er war nur mittelgroß, vielleicht ein Meter siebzig und hatte ein freundliches rundes Gesicht und eine spiegelblanke Glatze.

»Ich bin also nicht tot«, stellte Jana fest. »Was tue ich dann hier?«

»Du bist im Koma. Weshalb?, weiß ich nicht.« Marco baute sich vor ihr auf und sah sie ernst an. »Wir sind alle im Koma. »Ich hatte einen Verkehrsunfall mit meinen Eltern. Mein Vater kam von der Straße ab und das Auto überschlug sich an einer Böschung. Er war anfangs kurze Zeit bei mir. Doch jetzt ist er weg. Er wurde geholt.«

»Wie? Weg?« Jana schüttelte sich vor der Erkenntnis, die in ihr aufkam.

»Na ja, du weißt schon.« Marcus druckste herum.

»Du meinst doch nicht etwa tot.« Sie sprach aus, was sie faktisch wusste.

Marco nickte und hatte Tränen in den Augen. Jana nahm ihn in den Arm und strich über sein Haar, das sich nicht anders anfühlte, als in der richtigen Welt.

»Wer hat ihn geholt?« Jana schob ihn ein Stück weg.

»Sein Dunkles Ich«, er sah sie angstvoll an.

»Ich verstehe dich nicht.« Sie ließ ihn los und trat zurück, um seine Augen sehen zu können. Sie waren blassblau, wie die der anderen, ohne Ausdruck. Ob ihre Augen jetzt auch diese Farbe hatten? Wahrscheinlich. Ihre waren normal dunkelblau, diese hier fast durchsichtig.

»Jana.« Stefan sprach sie an. »Setz dich.« Er klopfte auf den Rasen neben sich, wo er schon saß. »Das ist alles neu für dich. Wir hatten anfangs auch Probleme.«

Sie nahm Platz und beobachtete, wie Marco und Vivian sich niederließen.

»Ich gehe so lange zu den anderen«, sagte Lukas, irgendwie genervt, und verschwand vor ihren Augen.

»Was ist denn jetzt wieder geschehen?«, fragte Jana erstaunt.

»Er hat keine Lust, die Geschichte schon wieder zu hören«, bemerkte Vivian. »Sieh dich um.«

Jana hob den Blick und ließ ihn über die Wiese schweifen. Da waren die vielen Hundert Menschen, die ihr schon vorher aufgefallen waren. Sie bildeten Gruppen. Normalerweise hätte sie gesagt, sie gingen spazieren, das stimmte jedoch nicht. Sie verhielten sich wie ein Schwarm. Dabei bildeten sie eine optische Einheit, in der die einzelnen Individuen sich nicht berührten. Jede Gruppe ein Schwarm und viele dieser Gruppen eine geschlossene Formation. Sie wirkten ruhig und doch fühlte Jana die Spannung, die in der Luft lag. Die Personen hatten eins gemeinsam. Sie warteten. Sie warteten auf ein bestimmtes Ereignis, das sie nicht greifen konnte. Doch die Erwartung war fühlbar und steigerte sich sekündlich.

Aus dem Nichts waberten Nebelschwaden über den Boden und nahmen ihr die Sicht. Dennoch nahm sie am Rande ihres Gesichtsfeldes unaufgeregte Veränderung wahr. Die Menschen glitten in einer Bewegung auseinander und öffneten eine kreisförmige freie Fläche von ungefähr zwanzig Metern. In deren Mitte standen zwei Männer. Vom Aussehen waren sie Zwillinge. Nur die Kleidung unterschied sie. Während der eine die übliche Männerkleidung trug, war der andere in dunkles Rot gewandet. Jeans und Shirt waren rot. Der rubinrote Mann machte eine völlig unbeteiligte Miene, besaß jedoch eine machtvolle Ausstrahlung, die durch die leuchtenden roten Augen untermalt wurde. Der Zwilling im blauen Shirt sah seinem Gegenüber mit so viel Liebe entgegen, das es Jana schmerzte. Wie zum Ende einer amerikanischen Seifenoper, dachte sie. Der Rote öffnete die Arme und empfing seinen Zwilling, zog ihn zu sich und verschmolz mit ihm. Dann stand er kurz still und verschwand, wie vorhin Lukas.

»Jetzt werden wieder Maschinen abgeschaltet und eine Familie wird vielleicht traurig sein«, stellte Vivian fest.

»Das heißt, der Mann ist jetzt tot.« Jana sah Stefan an, der nickte. »Er hat sich nicht gewehrt«, fuhr sie nach kurzer Überlegung fort.

»Weshalb sollte er?«, fragte Marcus.

»Ich weiß es nicht.« Jana zuckte mit den Schultern. »Es fiel mir auf.« Da war sie in eine merkwürdige Geschichte gestolpert. Vorhin? Gestern? Wann? Sie ging über den Marktplatz in Aachen und wollte zum Westbahnhof. Der Schmerz kam aus dem Nichts und das Nächste, an das sie sich erinnerte, war Lukas Stimme.

»Jana«. Stefan holte sie aus ihren Gedanken. »Ich wollte dir erzählen, was hier geschieht. Sonst machst du dir Gedanken. Du kennst das Sternbild der Zwillinge, das nach den Zwillingsbrüdern Castor und Pollux benannt ist.« Er wartete, bis sie nickte. »Pollux war der Sage nach unsterblich, da er der Sohn des Göttervaters Zeus war, Castor dagegen hatte einen menschlichen Vater und zählte daher zu den Sterblichen. Die beiden Brüder waren große Helden und trennten sich niemals voneinander. Als Castor bei einem Kampf getötet wurde, war sein Bruder Pollux untröstlich. Besonders quälte ihn, dass Castor in das finstere, unterirdische Totenreich steigen musste. Pollux bat seinen Vater, ihn auch sterben zu lassen, damit er seinem sterblichen Bruder folgen könne.«

»Zeus war von der Bruderliebe des Pollux so gerührt, dass er ihm vorschlug, statt immer bei den Göttern im Olymp zu wohnen, mit Castor zusammen abwechselnd einen Tag im Totenreich und einen Tag im Olymp zu verbringen.« Vivian übernahm die Erzählung der Geschichte. »Ohne lange Überlegung wählte Pollux die zweite Möglichkeit, um nie mehr von Castor getrennt zu sein. Später soll Zeus die beiden Brüder zum Lohn für ihre treue Verbundenheit dann in Sterne verwandelt haben. Als Sternbild stehen sie seitdem am Winterhimmel und erinnern die Menschen an Bruderliebe und Kameradschaft.«

»Der Zyklus begann, als drei Brüder ihren Vater umbrachten, der machtgierig war und sie vernichten wollte.« Marco erzählte weiter. »Nachdem Kronos, der Vater, überwunden war, teilten die Brüder die Welt auf, indem sie Lose warfen. Dabei erhielt Zeus den Himmel, Poseidon das Meer, also die Oberwelt und Hades, die Unterwelt. Die Erde und der Himmel waren und sind ein gemeinsamer Bereich. Seitdem haben die Menschen einen Zwilling oder Drilling, ich weiß es nicht genau. Einer lebt im Himmel bei Gott oder den Göttern, der andere auf der Erde und ein weiterer im Hades.«

»Der Zwilling im Himmel hat immer Sehnsucht nach seinem Gegenstück, genauso wie damals Pollux. Dein Gegenstück wird mit allen Tricks versuchen, dich in den Himmel zu bekommen. Doch das kann es nur, wenn du in diesem Zwischenbereich bist, in dem wir uns jetzt befinden.« Stefan strich mit der Hand über seine Glatze. »Da ist aber auch noch Hades oder der Teufel, wie er heute genannt wird. Nur er oder seine Gehilfen können dich in sein Reich holen. Hades selbst kommt nicht in die Zwischenwelt und ganz selten auf die Erde. Wenn er jedoch kommt, dann in einer von vier schwarzen Rössern gezogenen schwarzen Quadriga.«

»Und seine Gehilfen mit der Sense.« Jana kicherte.

»Mädchen, sei nicht übermütig.« Vivian erhob die Stimme. »Du musst so wenig, wie möglich auffallen. Auch die Götter sehen nicht alles. Vielleicht übersehen sie dich und du kannst in deinen Körper zurück.«

Wie bin ich in diese Runde von Verrückten geraten?, überlegte Jana. Die waren doch nicht dicht. Wenn da nicht, Opas Geschichten wären? Außerdem erinnerte sie sich an die Sage von Castor und Pollux. Sollte da tatsächlich etwas dran sein? Eine weitere Geschichte in ihrer Geschichte? Sie schüttelte den Gedanken ab. Denn da war noch etwas. Zu Hause geriet sie gleich in Panik, wenn etwas Ungewöhnliches geschah. Hier legte sie eine Gelassenheit an den Tag, die nicht zu ihr gehörte. So etwas Beklopptes. Ein Rotes und ein Schwarzes Ich. Die Landschaft und Gesellschaft vor ihren Augen verschwamm und es wurde wieder schwarz.

*

Dem Jenseits entkommen

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