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3.3 Erinnern in der EinwanderungsgesellschaftEinwanderungsgesellschaft

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Auch die globalen Wanderungsströme der zurückliegenden Jahrzehnte verändern die ErinnerungskulturErinnerungskultur. Welche Auswirkungen hat die Zuwanderung ethnischer und religiöser Minderheiten auf bestehende Erinnerungsgemeinschaften im Einwanderungsland? Vor welchen Herausforderungen stehen Mehrheitsgesellschaft und Migranten bzw. Einwanderer-Communities, jeweils für sich und im gesellschaftlichen Mit- und Gegeneinander? Das sind hochpolitische Fragen, die sich bereits heute stellen und im ‚Zeitalter der Migration‘ absehbar weiter an Bedeutung gewinnen werden.

Deutschland ist ein Einwanderungsland. Es hat lange gedauert, bis sich Gesellschaft und Politik zu diesem empirisch unbestreitbaren Befund bekannten. Insgesamt leben bereits heute rund 16,5 Millionen Menschen mit Migrationshintergrund in der Bundesrepublik, das sind über 20 Prozent der Bevölkerung. Frühere ‚Gastarbeiter‘-Familien (→ Glossar) befinden sich inzwischen in zweiter und dritter Generation in Deutschland, ihre Kinder und Enkel sind hier geboren, oft im Besitz der deutschen Staatsangehörigkeit – und nicht selten geprägt von einem doppelten, z.T. sogar multiplen Heimat- bzw. Zugehörigkeitsgefühl.

Zuwanderung (und im Übrigen auch Auswanderung) hat es immer schon gegeben. So berichtet jedes örtliche Telefonbuch des Ruhrgebiets mit der Massierung polnischer Nachnamen vom ‚Pott‘ als Einwanderungsregion im Zeitalter der Industrialisierung. Und auch die Anfangsjahre der Bundesrepublik waren von einer immensen Integrationsaufgabe geprägt: Die Millionen Vertriebenen aus den ehemals deutschen Ostgebieten mussten nicht nur in Lohn und Brot gebracht werden, auch ihre Erinnerungen an FluchtFlucht und Vertreibung und Vertreibung, an die alte Heimat und die abgebrochenen deutschen Kulturtraditionen im Osten verlangten nach politischer und gesellschaftlicher Achtung (→ Kapitel 4.1).

Während der Staat sich bemüht, das ostdeutsche Kulturgut in den erinnerungskulturellen Haushalt der Bundesrepublik aufzunehmen, gibt es derzeit wenige Versuche, auch die Erfahrungen der Zuwanderer aus anderen Staaten und Kulturen in die kollektive Erinnerung einzubeziehen. Als „augenfällig blass und unterbelichtet“ beurteilten die Historiker Jan MotteMotte, Jan und Rainer OhligerOhliger, Rainer die historische Dimension im Migrationsdiskurs. Sie kritisieren, Einheimische und Zuwanderer bzw. deren Kinder lebten noch immer in „getrennten Erinnerungslandschaften“ (Motte/Ohliger 2004, 47). Unter Migranten wie unter Angehörigen der Mehrheitsgesellschaft herrschen wechselseitig gravierende Defizite im Wissen um die Geschichtsbilder ihres Gegenübers. Allenfalls das Foto des Portugiesen Armando Rodrigues, der 1964 als millionster Gastarbeiter ein Moped geschenkt bekam, zählt als Ikone der Wirtschaftswunderjahre zum nationalen Bilderschatz. Eine Historisierung der Migration steckt aber noch immer in den Anfängen, auch wenn deutsche MuseenMuseen begonnen haben, Migrationsprozesse darzustellen, und die Musealisierung der Migration international durchaus Konjunktur hat (siehe Baur 2009; ders. 2010; ders. 2013).


Abb. 3: Migration im Museum: Vitrine des Realschulprojekts in der Geschichtswerkstatt zur Sonderausstellung des DHMMuseenDHM „Zuwanderungsland Deutschland“

Die öffentliche Zuwanderungs-Debatte pendelte in Deutschland lange zwischen den Auswüchsen von Fremdenfeindlichkeit in der Mehrheitsgesellschaft einerseits und andererseits einem Nützlichkeitsdenken in Wirtschaft und Politik, in dem Zuwanderung angesichts des demographischen Wandels zur Sicherung des Sozialstaats ausdrücklich gefordert wird. Seit einigen Jahren gewinnt unter dem Schlagwort „Zweite deutsche Einheit“ das Bemühen um eine bessere gesellschaftliche Integration der Zugewanderten an Fahrt. Dabei geht es vorrangig um Spracherwerb, um Ausbildungs- und Beschäftigungsperspektiven, um die Überwindung der Bildungssegregation, also der ungleichen Verteilung von Bildungschancen. Integrationsbemühungen berühren aber auch ganz wesentlich Fragen von Zugehörigkeit und Identität, und dabei bündeln sich vielfältige Dimensionen von Geschichte und Politik. Wie bei der Teilhabe am Arbeitsmarkt geht es auch hier um Partizipation, um emotionale Zugehörigkeit. So betonen Jan MotteMotte, Jan und Rainer OhligerOhliger, Rainer (2004, 48) die Notwendigkeit historisch-symbolischer Anerkennung als wichtigen Baustein „einer vollständigen, auch staatsbürgerlichen Akzeptanz und Voraussetzung für volle Partizipation im Gemeinwesen.“

Unter dem Begriff Integration sammeln sich ganz unterschiedliche Vorstellungen gesellschaftlichen Zusammenlebens, ihre Schlagworte lauten u.a. „Kulturelle Vielfalt“, „Multikulturelle Gesellschaft“, aber auch „Leitkultur“ und „Assimilation“. Die öffentliche Debatte fokussiert – so wie während der leidenschaftlich geführten Debatte zu Beginn des Jahrtausends, als sich die deutsche Mehrheitsgesellschaft in überaus kontroversen Diskussionen ihrer zentralen Werte und Normen vergewisserte (siehe Lammert 2006) – vorrangig auf die Integrationsbereitschaft der Migranten in die verfassungsrechtlichen und kulturellen Grundlagen der Mehrheitsgesellschaft. Den gesellschaftlichen Veränderungen, die Zuwanderung auch für die aufnehmende Gesellschaft brachte, und den Erfahrungen der Migranten wurden und werden hingegen nur wenig Aufmerksamkeit und Interesse entgegengebracht.

Im schier uferlosen Strom wissenschaftlicher Literatur zur ErinnerungskulturErinnerungskultur bilden die Studien, die sich dezidiert dem Erinnern in der EinwanderungsgesellschaftEinwanderungsgesellschaft widmen, noch immer ein Rinnsal. Vor allem die Erziehungswissenschaften leisten wichtige Pionierarbeit. Viola B. GeorgiGeorgi, Viola B. erkennt sechs „Dimensionen historischer Sinnbildung“ in der Einwanderungsgesellschaft: „1. Die Geschichte des Aufnahmelandes bzw. des Einwanderungslandes, die als Nationalgeschichte verfasst ist, also die öffentlichen Narrative der Mehrheit. 2. Die familiär-tradierten Geschichten und Erzählungen der Repräsentanten der Mehrheitsgesellschaft, also die privaten Narrative der Mehrheit. 3. Die Geschichte der Herkunftsländer und Regionen der Migranten und Migrantinnen, die als Nationalgeschichte verfasst ist, also die öffentlichen Narrative der Minderheit. 4. Die familiär-tradierten Geschichten und Erzählungen der Repräsentanten der Einwanderer-Communities, also die privaten Narrative der Mehrheit. 5. Die spezifische Migrationsgeschichten der und über die Einwanderer-Communities, also die Narrative der Migration. 6. Die im doppelten Sinn geteilte – trennende und gemeinsame – Geschichte der Beziehungen von Einheimischen und Eingewanderten, also die geteilten Narrative.“ (Georgi/Ohliger 2009, 11)

Menschen mit Migrationsgeschichte stehen in einem Spannungsfeld zwischen dem Wunsch nach Anerkennung der eigenen Vergangenheit einerseits und nach Zugehörigkeit zur Geschichte der Mehrheitsgesellschaft andererseits. GeorgiGeorgi, Viola B. unterscheidet bei Jugendlichen mit Migrationshintergrund deshalb fünf Varianten der Aneignung von Geschichte (ebd. 12f.): 1. Orientierung an den historischen Traditionen des Herkunftslandes; 2. Übernahme kollektiver Geschichtsdeutungen aus der Mehrheitsgesellschaft; 3. Verortung ausschließlich in der ErinnerungskulturErinnerungskultur der jeweiligen Einwanderer-Community, die mit konstituiert und tradiert wird; 4. Mischen von Elementen unterschiedlicher Kollektivgedächtnisse; 5. Geschichts- und Erinnerungslosigkeit, weil einerseits Verlust der historischen Traditionen aus dem Herkunftsland und gleichzeitig Ausschluss vom GeschichtsbewusstseinGeschichtsbewusstsein des Einwanderungslandes.

In der multi-ethnischen Gesellschaft erfahren die an sich schon pluralen ErinnerungskulturenErinnerungskultur also weitere Diversität. „Das Vielfältige ist die Zukunft der Vergangenheit“ (Georgi/Ohliger 2009, 20) – dieser programmatische Satz zeigt: Das Kaleidoskop der historischen Betrachtung wird in der modernen EinwanderungsgesellschaftEinwanderungsgesellschaft mit seiner ethnischen, kulturellen und religiösen Vielfalt bunter. Historische Erzählungen und Geschichtsbilder können neue, bislang nicht vorhandene Formen annehmen. Migrationsgeschichte, Herkunftsgeschichte, Familiengeschichte und die Geschichte der Aufnahmegesellschaft müssten, so die Forderung der Wissenschaftler, zukünftig weit stärker auf ihre Gemeinsamkeiten, Zusammenhängen und Wechselwirkungen hin betrachtet werden.

Für die ErinnerungskulturErinnerungskultur im Einwanderungsland Deutschland stellen sich vor diesem Hintergrund und unter dem Gesichtspunkt nationaler Identität, also der Bindekraft miteinander geteilter Erinnerungen, gravierende Herausforderungen. Es wird verstärkt auszuhandeln sein, welchen Stellenwert die verschiedenen Erinnerungskulturen innerhalb der Gesellschaft haben sollen. Hier sind besondere Vermittlungsanstrengungen nötig, denn mit einer dauerhaften ‚Segregation der Erinnerung‘ gehen Ausgrenzungsprozesse einher, fehlen zentrale Aspekte des gesellschaftlichen Alltags in der Erinnerungskultur.

Konfliktpotential steckt insbesondere in der Frage, wie sich Eingewanderte zu den kollektiv erinnerten Geschichten der Mehrheitsgesellschaft positionieren. Zu berücksichtigen ist dabei, dass nicht alle historischen Erzählungen der Mehrheitsgesellschaft für Zuwanderer anschlussfähig sind, gerade bei schuldbeladenen Narrativen, die zum identitätsstiftenden Grundbestand der deutschen ErinnerungskulturErinnerungskultur gehören, ist das schwierig. Gefragt wird etwa, wie historisch unbelastete Migranten die Gewaltgeschichte des NationalsozialismusNationalsozialismus als „negatives Eigentum“ (Jean Améry) annehmen sollen (siehe Gryglewski 2013; Messerschmidt 2016). BundespräsidentBundespräsident Joachim GauckGauck, Joachim prägte in diesem Zusammenhang den Begriff der „Verantwortungsgemeinschaft“, zu der sich die „Erfahrungsgemeinschaft“ wandeln müsse, damit in diese auch die Zuwanderer eintreten könnten. Die Größe dieser Aufgabe wird deutlich angesichts von Konflikt-, Diskriminierungs- und Gewalterfahrungen in den Zuwanderer-Communities, die mit historisch gewachsenen Normen in der Mehrheitsgesellschaft kollidieren. Beispielhaft veranschaulicht das der Israel-Palästina-Konflikt oder der Völkermord an den Armeniern. Um solche widersprüchlichen Interpretationen aufzufangen, braucht es verstärkte Anstrengungen bei der Vermittlung historischen Wissens und der darauf gewachsenen Werte. Es wird dazu neuer Kontextualisierungen der deutschen Geschichte bedürfen. MuseenMuseen und Gedenkstätten werden in ihren pädagogischen Angeboten stärker die jeweiligen kulturellen Vorkenntnisse und Erfahrungen berücksichtigen und auf Interessen der Migranten eingehen müssen, sie werden die Menschen mit ihren unterschiedlichen kulturellen Hintergründen häufiger als bisher bei ihren eigenen biographischen Erinnerungen ‚abholen‘ und neue Vermittlungs- und Aneignungswege ausprobieren müssen.

Wie reagiert die Politik? Sie hat die Herausforderung zwischenzeitlich erkannt (siehe Wagner 2009, 227–279). „Integration bedeutet die Einbindung in das gesellschaftliche, wirtschaftliche, geistig-kulturelle und rechtliche Gefüge des Aufnahmelandes ohne Aufgabe der eigenen kulturellen Identität“, heißt es im Nationalem Integrationsplan (→ Glossar), der den „angemessene[n] Umgang mit kultureller Vielfalt [als] eine notwendige Kompetenz für alle Teile der Gesellschaft“ beschreibt (BundesregierungBundesregierung 2007, 127). Auch die Enquete-Kommission des Deutschen BundestagesBundestag „Kultur in Deutschland“ widmete sich in ihrem Abschlussbericht dem neuen Leitgedanken „Interkultur“ (Bundestag 2008, 308ff.). Explizit angesprochen wird die historische Dimension der Zuwanderung indes nicht. Immerhin verband 2011 die damalige Integrationsbeauftragte Maria BöhmerBöhmer, Maria (CDU) die Einsetzung eines neuen Bundesbeirats für Integration ausdrücklich mit dem Wunsch, dieser solle auch die gesellschaftliche Identitätsdebatte voranbringen. Mit Blick auf „Heimatgefühle“ in der EinwanderungsgesellschaftEinwanderungsgesellschaft postulierte der Beirat 2013, Heimat sei nicht mehr nur eine „Schicksalsgemeinschaft, die sich aus einer gemeinsamen Vergangenheit definiere“, sondern eine „Gemeinschaft der Zukunft.“ Gleichzeitig wurde aber auch betont, dass Heimat ohne eine gemeinsame Geschichts- und ErinnerungskulturErinnerungskultur inhaltslos sei. Der „Bau einer modernen Identität als Einwanderungsgesellschaft“ müsse mit der Entwicklung eines neuen Zugangs zur deutschen Geschichte anfangen, wozu etwa ein nationaler Erzähl-Marathon einberufen werden solle (Beirat 2012). Die Geschichte der Einwanderung, die Aufbauleistung von Einheimischen und Zugewanderten als gemeinsamer Erfolg müssten als Teil der Erinnerungskultur künftig stärker vermittelt und in Schulbüchern und Ausstellungen thematisiert werden. Geschichts- und Zeitbilder der Einwanderung und Integration sollten zudem in der Benennung von Straßen und Plätzen deutlich werden. Diese Form der Symbolpolitik steckt allerdings noch gänzlich in den Anfängen, ebenso verhallen vereinzelte Aufrufe, einen Gedenktag zu etablieren, bislang ungehört. Immerhin: Bei einem Festakt zum 60. Jahrestag der ersten Gastarbeiteranwerbung dankte BundeskanzlerinBundeskanzler/in Angela MerkelMerkel, Angela allen, die am WirtschaftswunderWirtschaftswunder mitgearbeitet haben. Bereits zuvor setzte das Parlament ein wichtiges Zeichen: Am 23. Mai 2014 hielt im Deutschen Bundestag der Schriftsteller Navid KermaniKermani, Navid, Deutscher iranischer Herkunft und Muslim, die zentrale Festrede zum 65. Jahrestag des GrundgesetzesGrundgesetz (Kermani 2014). Angesichts der prognostizierten tiefgreifenden demographischen Veränderungen in der deutschen Gesellschaft und der anhaltenden Zuwanderung wird die Debatte über das Erinnern in der Zuwanderungsgesellschaft absehbar weiter an Bedeutung gewinnen.

Weiterführende Literatur

GeorgiGeorgi, Viola B. 2003: Viola B. Georgi, Entliehene Erinnerung. Geschichtsbilder junger Migranten in Deutschland (Hamburg 2003).

GeorgiGeorgi, Viola B./Ohliger 2009: Viola B. Georgi/Rainer Ohliger (Hg.), Crossover Geschichte. Historisches Bewusstsein Jugendlicher in der EinwanderungsgesellschaftEinwanderungsgesellschaft (Hamburg 2009).

Motte/Ohliger 2004: Jan Motte/Rainer Ohliger (Hg.), Geschichte und GedächtnisGedächtnis in der EinwanderungsgesellschaftEinwanderungsgesellschaft. Migration zwischen historischer Rekonstruktion und Erinnerungspolitik (Essen 2004).

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