Читать книгу Geschichte im politischen Raum - Hilmar Sack - Страница 8

2.3 Zur Relevanz politischer MythenMythos, politischer

Оглавление

Man könnte annehmen, die aufgeklärte Moderne mit ihrer „Entzauberung“ (Max WeberWeber, Max) schaffe eine mythenlose, weil rationale Welt. Doch stimmt das? Führt der menschliche Fortschritt geradewegs vom Irrationalen zum Rationalen, vom Erzählen zum Erklären, von der Weltdeutung zur Erkenntnis, kurz: vom Mythos zum Logos (Nestle 1940)? Man muss nicht nur die bunte Mythenwelt der Populärkultur aufrufen, deren Figuren Bestseller und Blockbuster bevölkern, um daran Zweifel zu hegen. Für Odo MarquardMarquard, Odo (1979, 41) ist die Entmythologisierung ohnehin selbst ein Mythos, „und daß so der Tod des Mythos selber zum Mythos wird, beweist ein wenig des Mythos relative Unsterblichkeit. Es ist zumindest ein Indiz dafür, daß wir ohne Mythen nicht auskommen.“ Wer sich in den politischen Raum begibt, wird unweigerlich mit Mythenerzählungen konfrontiert. Sie nach ihren Mechanismen und Funktionen hinterfragen zu können, ist eine wichtige Methodenkompetenz, die den Historiker auszeichnet – sei es, um sie bloßzustellen oder aber an ihrer Generierung teilzuhaben.

Dem Mythos begegnet man heute alltäglich und überall, schnell wird etwas zum Mythos erklärt, um es positiv hervorzuheben, oder im Gegenteil: um es als falsch und überholt zu brandmarken. Doch was ist ein Mythos? Es scheint einfacher, geläufige Mythen zu benennen, als den Mythos terminologisch zu fassen. Als Begriff ist er unpräzise, eher eine „Verhüllungsvokabel“ (Hacke/Münkler 2009a, 15). Alle Definitionsansätze bewegen sich in einem Geflecht komplementärer Begriffe, mit denen er in Verbindung steht bzw. gegenüber denen der Mythos abzugrenzen ist: der Ideologie und Utopie, der Legende, der Fiktion und Lüge – ein großes Thema der Philosophie von der Antike bis zur Gegenwart (siehe Blumenberg 1979; Bohrer 1983). Im Folgenden soll es um dezidiert politische MythenMythos, politischer gehen (siehe Dörner 1996; eine Definition ebd. 76f.).

Politische Mythen können sich an historische oder sagenhafte Ereignisse und Dinge binden (die NibelungenNibelungensage, die BefreiungskriegeBefreiungskriege etc.), an Orte und Landschaften (den ‚deutschen‘ Rhein, den ‚deutschen‘ Wald) und Zeiten (das ‚deutsche‘ MittelalterMittelalter), aber genauso an Personen (von ArminiusArminius/Hermann der Cherusker über LutherLuther, Martin, Friedrich den GroßenFriedrich II., preuß. König, Königin LuiseKönigin Luise bis zu BismarckBismarck, Otto v. und AdenauerAdenauer, Konrad). Und sie müssen keineswegs ausschließlich auf die Vergangenheit gerichtet sein. Neben gegenwartsfundierende Geschichts- und Gründungsmythen treten in die ZukunftZukunft gerichtete Erzählungen, die die Gegenwart gerade in Frage stellen. Bei ihnen übernimmt die Erwartung die Funktion historischer Erinnerung. Prominentes Beispiel dafür ist der Revolutionsmythos (siehe Speth 2000).

Mythen sind Narrative, betont Herfried MünklerMünkler, Herfried (2008): Sie werden immer wieder neu erzählt: literarisch, wissenschaftlich, politisch. Sie finden in Bildern ihre ikonische Verdichtung und werden rituell öffentlich inszeniert. Aber Mythen sind mehr als bloß Erzählungen, „sie stiften politische Bedeutung, […] strukturieren die Vergangenheit und haben Einfluss auf die Gegenwart.“ Als wesentliche Bestandteile des kulturellen GedächtnissesGedächtniskulturelles generieren Mythen Gruppenidentitäten, indem sie Selbstbilder schaffen und Fremdvorstellung formen. Sie konzentrieren Loyalitäten und wirken komplexitätsreduzierend, während sie gleichzeitig als Projektionsfläche für ZukunftserwartungenZukunft fungieren (siehe Berding 1996; Bizeul 2000; Speth 2000). Als Ursprungserzählung dienen sie der Sinnbedürftigkeit des Menschen: So wie es ist, ist es nicht zufällig, es hat vielmehr seinen Sinn. Mythen schaffen damit Vertrauen, sie stiften Zuversicht und haben mobilisierende Kraft – bis hin zur Opferbereitschaft. Während sie Münkler zufolge in ruhigen Phasen bloß die Funktion eines „Erinnerungsreservoirs“ haben, stellen sie in Zeiten großer politischer Herausforderungen „Krisenbewältigungsressourcen“, auf die die Politik nicht verzichten könne. Münkler (2007, 171) betont vor allem das Motivationsvermögen mythischer Narrationen: „Die politische Kraft zu folgenreichen Entscheidungen und Entschlüssen, deren Umsetzung einen langen Atem erfordert, erwächst vor allem aus Erzählungen und Verheißungen und weniger aus einem sorgsamen Delibrieren des Für und Wider.“ Zu einfach sei es deshalb, Mythen nur als Ausdruck von Irrationalität zu begreifen. „Eher handelt es sich dabei um große Erzählungen, die nicht nur das kollektive GedächtnisGedächtniskollektives einer politischen Gemeinschaft speisen, sondern auch ihren Erwartungshorizont abstecken und so für die Orientierung und Perspektive sorgen“ (ebd. 172).

Exkurs: Nationalmythen der Deutschen

Nationen produzieren Mythen, sie bedürfen geradezu eines Gründungsmythos als gemeinschaftsstiftendes „emotionales Fundament“ (François/Schulze 1998; kritisch dazu Fischer u.a. 2015). „Es macht das Wesen eines Nationalmythos aus, dass es nicht bloß eine Erzählung von fernen geschichtlichen Ereignissen oder ein bedeutender literarischer Text ist, sondern zur Metanarration der politischen Weltwahrnehmung wird. Politische Mythen stellen eine Grammatik für die Versprachlichung des Politischen dar“ (Münkler 2007, 166). Auch die Deutschen verfügen über ein Arsenal an Geschichtsmythen, die vor allem im national gesinnten 19. Jahrhundert geprägt wurden und mit deren – teils fataler – früherer Wirkung der Historiker, der sich heute in den politischen Raum begibt, vertraut sein sollte (siehe Wülfing/Bruns/Parr 1991; Flacke 1998; Münkler 2009):

Aus den Untiefen deutscher Mythenerzählungen ragt das Epos von Siegfried und dem Schatz der NibelungenNibelungensage heraus. Dem 19. Jahrhundert bot es reichen Stoff zur Heldenerzählung (siehe Heinzle 2013; Oberste 2008). Die Bedeutung der Nibelungensage als Steinbruch deutscher Mythenerzählung belegen zwei geschichtspolitisch verhängnisvolle Bilder: die Nibelungentreue und der Dolchstoß. Das Leitmotiv der Sage – die unerschütterliche Treue bis in den Untergang – begleitete Anfang des 20. Jahrhunderts zunächst das Bündnis zwischen Deutschland und Österreich-Ungarn. Reichskanzler Fürst von BülowBülow, Bernhard v. benutzte die Wendung erstmals 1909 in einer Reichstagsrede, später zählte sie zum Arsenal der Propaganda im Ersten WeltkriegErster Weltkrieg, als die Mittelmächte „in Nibelungentreue fest vereint“ dem Bündnis aus Großbritannien, Frankreich und Russland gegenüberstanden. Im NationalsozialismusNationalsozialismus erhielt das Treue-Motiv eine Umwidmung, nun meinte es die bedingungslose Gefolgschaft der Deutschen zu HitlerHitler, Adolf. Nicht minder nachhaltig hatte nach dem Ersten Weltkrieg die Legende vom DolchstoßDolchstoß gewirkt, die an die hinterhältige Ermordung Siegfrieds anknüpfte und statt der Treue den Verrat ins Zentrum rückte: So wie der Held der Sage durch einen Speerstich in den Rücken starb, sei 1918 das unbesiegt im Feld stehende Heer durch das Versagen an der Heimatfront quasi von hinten zur Strecke gebracht worden – eine Entlastungslüge der Militärs, um die Schuld an der Niederlage auf die zivilen Kräfte abzuwälzen. Den Aufbau einer demokratischen Nachkriegsordnung in der Weimarer RepublikWeimarer Republik untergrub die Dolchstoßlegende nachhaltig.

Von besonderer Wirkmacht für den deutschen Nationalismus waren die Mythen um den Germanen ArminiusArminius/Hermann der Cherusker (= Hermann der CheruskerArminius/Hermann der Cherusker), der 9 n. Chr. im Teutoburger Wald die Römer unter ihrem Feldherrn Varus besiegt hatte (siehe Dörner 1996), und um Kaiser BarbarossaFriedrich I., Kaiser (Barbarossa) (siehe Berg 1994; Kaul 2007). Als Sehnsuchtsmotiv wurde das national gedeutete mittelalterliche Kaisertum der Nationalbewegung in einem zersplitterten Deutschland zum Sinnbild von Einheit und Größe verklärt. Dieser maßgeblich an Kategorien der Macht orientierte Reichsmythos fand sein eingängiges Bild im schlafenden Kaiser Barbarossa, der im KyffhäuserDenkmalKyffhäuser auf den Moment neuer deutscher Größe wartet (Abb. 1). Als mit der kleindeutschen Reichseinigung 1871 der deutsche Partikularismus überwunden schien, feierte die Legende von der Auferstehung des schlafenden ‚Rotbarts‘ mehr als nur eine Renaissance. In Kaiser Wilhelm I.Wilhelm I., Kaiser, der die deutsche Sehnsucht nach Einheit endlich erfüllt hatte, und seinem rauschenden weißen Bart fand sie eine erzählerische Äquivalenz: Dem Barbarossa trat der Barbablanca zur Seite. Das Nachwirken des überzeichneten Bildes von imperialer, missionarischer Größe des mittelalterlichen KaiserreichsKaiserreich zeigte sich noch Jahrzehnte später im Decknamen „Unternehmen Barbarossa“, den HitlerHitler, Adolf 1941 dem deutschen Überfall auf die Sowjetunion gab.

Immer wieder sind es gerade Schlachten und Kriege, die der mythenbeladenen Identitätsbildung dienen: die wundersame Wendung von PreußensPreußen aussichtsloser Lage im Siebenjährigen KriegSiebenjähriger Krieg (1756–1763), der Mythos der „BefreiungskriegeBefreiungskriege“ gegen NapoleonNapoleon, Bonaparte (siehe Carl 2000), der sich im VölkerschlachtdenkmalDenkmalVölkerschlacht von Leipzig (→ Kapitel 6.7) materialisiert hat, der Kult um den Sieg gegen Frankreich 1871. Gerade letzterer zeigt, dass politische MythenMythos, politischer nicht unsterblich sind, denn der Sedan-Mythos ist heute völlig aus dem Erinnerungshorizont der Deutschen verschwunden.


Abb. 1: Deutscher Reichsmythos: Kaiser Rot- und Weißbart am Kyffhäuser-DenkmalDenkmal

Einer der wirkmächtigsten deutschen Mythen kommt völlig unmilitärisch daher: Der Mythos Deutschlands als KulturnationKulturnation. Er knüpft sich an Orte (vor allem Weimar und Königsberg), an Epochen (Aufklärung, deutsche Klassik etc.) und Persönlichkeiten aus Literatur (von LessingLessing, Gotthold Ephraim über GoetheGoethe, Johann Wolfgang v. und SchillerSchiller, Friedrich v. bis Thomas MannMann, Thomas und Bertolt BrechtBrecht, Bertolt), Philosophie (von KantKant, Imanuel über NietzscheNietzsche, Friedrich bis HeideggerHeidegger, Martin), Musik (von Bach und HändelBach, Johann Sebastian über Beethoven bis WagnerBeethoven, Ludwig van) und Kunst (von den alten Meistern über die Romantiker bis zu den Malern der Moderne). Gerade in Zeiten staatlicher Schwäche, ob im partikular zersplitterten 19. Jahrhundert oder in der geteilten Nation nach 1945, blieb es das einigende Band, auf das sich die Deutschen über alle realen und ideologischen Grenzen hinweg beziehen konnten. Dass die Stilisierung der Deutschen als Kulturnation in Kriegszeiten auch zum Instrument kulturchauvinistischer Propaganda taugt, zeigte sich im Ersten WeltkriegErster Weltkrieg, als deutsche Intellektuelle den Krieg gegen Frankreich zum Kampf zwischen deutscher Kultur und ‚welscher‘ (= romanischer, v.a. französischer) Zivilisation erklärten.

Mythen kennen Konjunkturen, das heißt auf Latenzphasen folgen Perioden, in denen die Narrationen wieder aktiviert werden, um Gegenwartserfahrungen zu verarbeiten. Und sie können sich aufeinander beziehen, sich gegenseitig verstärken. Im nationalen Diskurs der Deutschen verbanden sich etwa der Mythos um den Römerbezwinger ArminiusArminius/Hermann der Cherusker mit den herausragenden Mythenfiguren aus der frühen Neuzeit, dem „deutschen LutherLuther, Martin“, der mit der Reformation den Kampf gegen den römischen Katholizismus aufnahm (siehe Lehmann 2000), sowie Friedrich dem GroßenFriedrich II., preuß. König, dessen protestantisches PreußenPreußen dem katholischen Habsburg die Stirn bot und sich gegen eine Welt von Feinden durchsetzte. Im 19. Jahrhundert wurde daraus eine immens wirkungsvolle nationale Großerzählung des Kampfes gegen ausländische Bevormundung konstruiert, die als einigendes Band die Vorstellung einer spezifisch „teutschen Freiheit“ transportierte. In BismarckBismarck, Otto v. fand sie ihren Abschluss als ‚Reichseiniger‘, der im Ringen „deutscher Kultur“ gegen „welsche (d.h. romanische) Zivilisation“ den modernen Nationalstaat durch Blut und Eisen „schmiedete“ – eine wirkmächtige Mythoserzählung, die zur bedingungslosen Opferbereitschaft noch in den Weltkriegen des 20. Jahrhunderts anstiftete (siehe Gerwarth 2007).

Und heute? Die eingangs erwähnte Präsenz konstruierter moderner Konsum-, Marken- und Lebensstilmythen steht in einem auffallenden Kontrast zur Verdrängung nationaler Mythen aus der staatlich-politischen Sphäre. Während in der DDRDDR der AntifaschismusAntifaschismus zu einem staatstragenden Gründungsmythos aufstieg, tat sich die Bundesrepublik schwer mit einer auf Mythen basierenden Staatsrepräsentation. Vom übersteigerten Nationalismus und der NS-Diktatur desavouiert und im staatlichen Provisorium der geteilten Nation ihres nationalstaatlichen Bezugsrahmens beraubt, blieben die überkommenen nationalen Großerzählungen auf der Strecke (siehe Hacke/Münkler 2009; Cammann/Hacke/Schlak 2005). Aus der mythenarmen bundesdeutschen Geschichtserzählung ragt insbesondere ein positiver Gründungsmythos heraus: das WirtschaftswunderWirtschaftswunder (siehe Gries 2005; Münkler 2004). Seine Erzählung zielt politisch auf die im Wirtschaftsaufschwung gewonnene demokratische Stabilität. Er bot der noch jungen Demokratie Orientierung – zusätzlich verstärkt durch die Komplementärgeschichte des Scheiterns der Weimarer RepublikWeimarer Republik in Inflation und Wirtschaftskrise. Das Wirtschaftswunder als Gründungsmythos der Bundesrepublik fand seine ikonische Verdichtung in der DM, in den Bildern sich füllender Schaufenster – eine Ursprungserzählung, die sich vom Konzept der Sozialen Marktwirtschaft bis in die Werbung großer Unternehmen hinein bis heute wiederholt. Im Bild „blühender Landschaften“, das Helmut KohlKohl, Helmut nach 1990 für die neuen Bundesländer bemühte, wurde die Wirtschaftswunder-Narration auch für das wiedervereinigte Deutschland anschlussfähig und um ein neues Kapitel erweitert. Die Erzählung vom rasanten Aufschwung zum Exportweltmeister hat ihre Stärke dabei weniger im Politischen. Kein DenkmalDenkmal transportiert sie, und kein Staatsakt muss ihrer gedenken. Das Wirtschaftswunder ist genuin und auch in der Erinnerung vieler eine Geschichte des Konsums – und damit auch die Geschichte seiner Marken. Vom „Wir sind wieder da“ der Markenprodukte bis zum „Wir sind wieder wer“ im Behelfsmythos „Wunder von Bern“ (dem Gewinn des Fußball-WM-Titels 1954) tradiert sich die bundesrepublikanische Ursprungserzählung aus den Wirtschaftswundertagen wirkungsvoll in den Markenmythen der Populärkultur. Denn auch die Werbung ist längst ein Erinnerungsträger, sie bedient eine Erinnerung „en passant“ (Welzer 2001, 12).

Und welches mythische Potential entfalten die historischen Ereignisse von 1989/90? Die Erzählung von einer nach Freiheit strebenden Bürgerbewegung, die Mauern niederzureißen vermochte, hat in der dichten Folge von immer stärker inszenierten Gedenkveranstaltungen bereits Kontur gewonnen. Sie gründet aber nur in der Erfahrung eines (zudem bedeutend kleineren) Teils der Bevölkerung – so wie der Achtundsechziger-Mythos, der die Protestbewegung zum eigentlichen Begründer der liberalen Gesellschaftsordnung in der Bundesrepublik stilisiert, ein rein westdeutsches Phänomen ist. Die mythische Überhöhung einer einzelnen Person, die historisch im BismarckBismarck, Otto v.-Mythos begegnet, blieb bislang aus – wohl auch, weil der zum „Kanzler der Einheit“ erkorene Helmut KohlKohl, Helmut durch eine Parteispendenaffäre sein Bild wenn auch vielleicht nicht endgültig so doch nachhaltig demontiert hat. Außerdem erweist sich das Personaltableau der deutschen Einheit von Willy BrandtBrandt, Willy bis Michail GorbatschowGorbatschow, Michail als durchaus heterogen und die Wiedervereinigung vollzog sich in enger Verbindung zum parallel laufenden europäischen EinigungsprozessEuropa, der über die Nation hinausweist.

Prägend für die ErinnerungskulturErinnerungskultur in Deutschland ist vor diesem Hintergrund also weniger ein unhinterfragbarer Mythos – jedenfalls dann, wenn die negative Ursprungserzählung der deutschen Demokratie aus der Erfahrung des HolocaustsHolocaust/Shoah nicht als ein solcher bezeichnet werden soll. Vielmehr ist es die lebendige und kontroverse Erinnerungspolitik, die in der AufarbeitungVergangenheitsbewältigung einer doppelten Diktaturerfahrung gründet (→ Kapitel 6.1). Der Grund für die Schwäche politischer MythenMythos, politischerbildung liegt aber nicht alleine in der nachhaltigen ‚Kontaminierung‘ deutscher Geschichte durch die NS-Vergangenheit und der jahrzehntewährenden deutschen Teilung. Sie ist auch der veränderten Medialität mythischer Erzählungen geschuldet: der Dominanz neuer Mythenproduzenten wie Film und Fernsehen, die die alten mythischen Ausdrucksformen, vom Buch über das DenkmalDenkmal bis zum Fest, herausfordern. Da jedenfalls, wo der Versuch zur offiziellen Inszenierung eines positiv konnotierten Staatsmythos im wiedervereinigten Deutschland gewagt wird, begegnet dieser eher als geschichtspolitisches Rätsel. So werden nur die wenigsten Besucher des vor dem Brandenburger Tor gelegenen „Platz des 18. März“ (Abb. 2) die mit der Namensgebung intendierte demokratische Traditionsbildung nachvollziehen: Eher angestrengt als überzeugend wird hier eine Linie vom 18. März 1848 (deutsche Revolution) zum 18. März 1990Gedenktage18. März (erste freie Wahlen zur Volkskammer in der DDRDDR) gezogen. Und doch kommt eine neue Tendenz zum Vorschein, nationale Identitätsangebote zu machen, für die nicht der Bruch mit der negativen Vergangenheit, sondern eine positive Traditionsbildung konstitutiv ist. Offen bleibt allerdings, ob sich dies fort- oder sogar durchsetzt.


Abb. 2: Geschichtspolitisches Rätsel: Welche Deutung verbirgt sich hinter dem Platz des 18. März?

Weiterführende Literatur

Berding 1996: Helmut Berding (Hg.), Mythos und Nation. Studien zur Entwicklung des kollektiven Bewußtseins in der Neuzeit (Frankfurt a.M. 1996).

Bizeul 2000: Yves Bizeul (Hg.), Politische Mythen und Rituale in Deutschland, Frankreich und Polen (Berlin 2000).

Flacke 1998: Monika Flacke (Hg.), Mythen der Nationen. Ein europäisches Panorama. (= Ausstellung des Deutschen Historischen MuseumsMuseenDHM vom 20. März 1998 bis 9. Juni 1998) (München/Berlin 1998).

Hacke/MünklerMünkler, Herfried 2009: JensJens, Walter Hacke/Herfried Münkler (Hg.), Wege in die neue Bundesrepublik. Politische Mythen und kollektive Selbstbilder nach 1989 (Frankfurt a.M. 2009).

MünklerMünkler, Herfried 2009: Herfried Münkler, Die Deutschen und ihre Mythen (Berlin 2009).

Geschichte im politischen Raum

Подняться наверх