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2.4 GeschichtspolitikGeschichtspolitik und GeschichtsgefühlGeschichtsgefühl

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Alle Geschichte, postuliert Heinrich August WinklerWinkler, Heinrich August (2004, 7), sei eine Geschichte von Kämpfen um die Deutung von Geschichte. Was meint er damit? Erinnerungen sind an die Gegenwart gebunden, die Deutungen von Geschichte also zeitimmanent und kontextabhängig. Damit sind divergierende Interpretationen möglich, um historischen Ereignissen Sinn zu verleihen, unterschiedliche Geschichtsbilder treten in Konkurrenz zueinander. Da diese aber auf das gesellschaftliche Selbstverständnis zielen, erwächst dem Streit um die historische Deutungshoheit eine eminent politische Dimension (siehe Steinbach 2013). Beim „Griff nach der Deutungsmacht“ (Winkler 2004) geht es also immer auch um die politische Diskurshegemonie. Der politische Kampf wird zum Geschichtskampf, die Deutung von Vergangenheit zur „GeschichtspolitikGeschichtspolitik“ (siehe Schmid 2009 und 2009c; Troebst 2013).

Edgar WolfrumWolfrum, Edgar hat maßgeblich dazu beigetragen, den im ‚HistorikerstreitHistorikerstreit‘ (→ Kapitel 4.2) als „publizistischen Kampfbegriff“ (Schmid 2009c) geprägten Terminus zu einem eigenständigen Theorieansatz fortzuentwickeln (siehe Wolfrum 1996; ders. 1998; ders. 2001). Wolfrum versteht unter GeschichtspolitikGeschichtspolitik die Untersuchung eines Handlungs- und Politikfeldes, „auf dem verschiedene politische Akteure die Vergangenheit mit bestimmten Interessen befrachten und in der Öffentlichkeit um Zustimmung ringen“ (Wolfrum 1998b, 4f.). Weil die Praxis der politischen Indienstnahme von Geschichte und die Erforschung dieser Praxis begrifflich nicht getrennt voneinander sind, sondern beides unter ‚Geschichtspolitik‘ firmiert, unterstreicht Wolfrum (2013, 37) die Ideologiefreiheit der Forschungen zur Geschichtspolitik: Sie „wollen mitnichten Rezepte für den Umgang mit Vergangenheiten liefern. Sie wollen vielmehr herausfinden, wer, wann, warum und mit welchen Mitteln Vergangenheit nutzt, sich auf sie beruft, sie politisch deutet und ummodelt“. Ergebnisse dieser Forschungen sind mithin auch gerade für den interessant, der heute selbst an historisch fundierter politischer Sinnstiftung mitwirken möchte oder daran bereits teilhat.

Das geschichtspolitische Forschungsinteresse liegt weniger auf dem mythisch verdichteten und verinnerlichten Ereignis als vielmehr auf den Akteuren des Deutungskampfes, die die Mobilisierungs- und Integrationskraft der kollektiven Vorstellungen, Denk- und Weltbilder in den Dienst ihrer politischen Interessen stellten (siehe Fröhlich/Heinrich 2004). Die geschichtspolitische Forschung richtet ihren Blick über die ‚Höhenkammliteratur‘ hinaus wesentlich auf den außerwissenschaftlichen Raum. Denn gerade politische Eliten geben nachhaltig Impulse auf die öffentlich zirkulierenden Geschichtsbilder, die in politischen Debatten Breitenwirkung entfalten (Wolfrum 1996, 390). Nicht nur das Verhältnis von Geschichte und Politik, sondern auch das zwischen Politiker und Historiker ist delikat. Zitate zweier Repräsentanten aus Wissenschaft und Politik veranschaulichen die Selbstwahrnehmung der jeweils eigenen Rolle: Während sich BundespräsidentBundespräsident Richard von WeizsäckerWeizsäcker, Richard v. (1920–2015) auf dem Historikertag 1988 bescheiden als „Verbraucher“ geschichtswissenschaftlicher Erkenntnisse präsentierte (Weizsäcker 1990,115), formulierte der Historiker Lothar GallGall, Lothar (1997, 1) bei gleicher Gelegenheit acht Jahre später das Verhältnis aus Sicht des Wissenschaftlers so: „Und der Historiker war über Jahrhunderte oft nicht mehr als ein zur Dienstleistung für andere Zwecke herbeigezogener Knecht, seine Wissenschaft eine Dienstmagd, eine ancilla.“ Die Indienstnahme von Geschichte in der Politik hat eine Orientierungsfunktion, sie soll Öffentlichkeit mobilisieren, politisieren und als Bindemittel dienen, um nationale, soziale und andere Gruppen zu integrieren, sie kann ausgrenzen, Gegner diffamieren und gleichzeitig das eigene Handeln legitimieren (Wolfrum 2001, 5f.). Daher lauten zentrale Fragestellungen geschichtspolitischer Forschung, wer die Geschichte wie und mit welchem Kalkül in die politische Debatte einbringt, welche Reaktionen sie provozierte und welche Grenzen ihrer Wirksamkeit gesetzt sind.

Welche Rolle spielt dabei der Staat mit seinen Institutionen und Repräsentanten? Er greift einerseits mit seiner Gedenkpolitik aktiv ein, andererseits bündeln sich in den quasi staatlich sanktionierten Geschichtsbildern die gesellschaftlich mehrheitsfähigen Deutungen. Derart kulturell gestiftetes Erinnern tritt zwangsläufig in Konkurrenz zu den privaten Erinnerungen, die in Familien über Generationen weitergegeben werden. Nach Einschätzung von Aleida AssmannAssmann, Aleida (2006, 4) entwickeln sich in vielen Gesellschaften Zweigleisigkeiten zwischen einem offiziellen und einem inoffiziellen GedächtnisGedächtnis: „Unter den monumentalen Deklamationen und Zeichensetzungen des Staates erhält sich das Netz eines sozialen Gedächtnisses, das eine kognitive Dissonanz produziert, damit aber auch eine kritische Distanz zur offiziell verordneten Gegenwartsdeutung ermöglicht.“ Neben den großen nationalen und heute nicht selten europäischen Narrativen eines verordneten offiziellen Gedächtnisses, in dem den ‚alten‘ Institutionen des Kulturbetriebs eine Vermittlerrolle zukommen, existieren – neben den ganz privaten – zahlreiche weitere, für die Alltagswelt der Menschen dabei oftmals drängendere und anschlussfähigere Erinnerungsbezüge. In diesem Kontext werden Gefühle als die eigentlichen Konservatoren der Erinnerung relevant. Jede Erfahrung transportiert und überträgt sich demnach durch Gefühle, die ihrerseits die Erfahrung im Gedächtnis bewahren. Sie verknüpfen Vergangenheit und ZukunftZukunft, indem sie Erfahrungen und Erinnerungen in Erwartungen überführen – angstvolle oder auch optimistische (Frevert 2000, 102).

Vor und nach der Jahrtausendwende erlebte Deutschland eine „emotionale Schleusenöffnung“ (Seitz 2006). Lange verschüttete und neue Themen von hoher Sprengkraft bestimmten die Debatten: Deutsche als Opfer von FluchtFlucht und Vertreibung, Vertreibung und alliiertem Luftkrieg, aber auch DDRDDR-Nostalgiewellen unterliefen die üblichen Prämissen des Gedenkens, die auf rationale AufarbeitungVergangenheitsbewältigung der doppelten Diktaturgeschichte zielen. Parallel dazu führte 2002 der Schriftsteller Martin WalserWalser, MartinAffärenWalser einen Begriff in die Debatte ein, von dem Kritiker spitz sagen, er scheue die Definition wie Walser den intellektuellen Standpunkt (Cammann/Hacke/Schlak 2003, 12). Er hat trotzdem (oder gerade deshalb) in der Folge eine erstaunliche Karriere gemacht: das „GeschichtsgefühlGeschichtsgefühl“. Dolf SternbergerSternberger, Dolf (1987, 733) postulierte einst, Geschichte sei „leichenstarr“, und darum könne man Geschichte nicht „erleben“: „Fängt man an, Geschichte für das Erlebnis zuzubereiten, so löscht man ihre Geschichtlichkeit, hebt ihre unwiderrufliche Faktizität auf.“ Walser hingegen rückte gerade das emotionale Erlebnis ins Zentrum seines Vergangenheitsbezugs und verwies auf Grenzen einer bloß rational argumentierenden Identitätsstiftung: „Eine Zugehörigkeit muss man erleben, nicht definieren. Auch die Zugehörigkeit zu einem Geschichtlichen hat man nicht zuerst als Erkenntnis parat, sondern als Empfindung, als Gefühl. So kommt es wenigstens bei mir zu einem Geschichts-Gefühl. Frage sich jeder selbst, ob er, wenn er versucht, das Wort Nation zu definieren, nach dem Definieren mehr weiß als er vorher durch Empfindung wusste.“ (Walser 2002) Man könne durch Empfinden wissend werden, hielt Walser seinen Kritikern entgegen: „Wer als Intellektueller glaubt, er könne oder müsse gar über Nation gefühlsfrei denken, den darf man wohl mit allem Respekt einfältig nennen. Mein Geschichtsgefühl Deutschland betreffend ist der Bestand aller Erfahrungen, die ich mit Deutschland gemacht habe – mit dieser Nation.“ (ebd.) Ein Sturm der Entrüstung entlud sich über den Schriftsteller, auch weil Walser in seinem Plädoyer für ein „Geschichtsgefühl“ zwar von den Karolingern bis zu den Hohenzollern, vom Rhein bis zu den Alpen einige „historische Ströme“ benannte, die er „erleben“ könne, die dunklen Phasen der deutschen Geschichte aber aussparte. Walsers geschichtsgefühliger Einwurf wurde als Kampfansage an den Intellekt und die kritische Geschichtswissenschaft verstanden, als Angriff auf die Grundlagen des kulturell gestifteten kollektiven GedächtnissesGedächtniskollektives und unseren Umgang mit der Gewaltgeschichte des 20. Jahrhunderts (→ Kapitel 4, Infobox AffärenAffären). Die Frage, was angesichts erfahrener Gewalt erinnert und was vergessen werden soll, ist, wie im folgenden Kapitel gezeigt wird, so alt wie die Menschheit. Die Antwort darauf war allerdings lange eine andere als heute.

Weiterführende Literatur

Cammann/Hacke/Schlak 2003: Alexander Cammann/JensJens, Walter Hacke/Stephan Schlak (Hg.), GeschichtsgefühlGeschichtsgefühl. In: Ästhetik und Kommunikation. 34 (2003), H. 122/123.

Fröhlich/Heinrich 2004: Claudia Fröhlich/Horst-Alfred Heinrich, GeschichtspolitikGeschichtspolitik. Wer sind ihre Akteure, wer ihre Rezipienten? (Stuttgart 2004).

SchmidSchmid, Harald 2009: Harald Schmid (Hg.), GeschichtspolitikGeschichtspolitik und kollektives GedächtnisGedächtniskollektives: ErinnerungskulturenErinnerungskultur in Theorie und Praxis (Göttingen 2009).

François u.a. 2013: Etienne François/Kornelia Konczal/Robert Traba/Stefan Troebst (Hg.), GeschichtspolitikGeschichtspolitik in EuropaEuropa seit 1989: Deutschland, Frankreich und Polen im internationalen Vergleich (Göttingen 2013).

WinklerWinkler, Heinrich August 2004: Heinrich August Winkler (Hg.), Griff nach der Deutungsmacht. Zur Geschichte der GeschichtspolitikGeschichtspolitik in Deutschland (Göttingen 2004).

WolfrumWolfrum, Edgar 2001: Edgar Wolfrum, Geschichte als Waffe. Vom KaiserreichKaiserreich bis zur Wiedervereinigung (Göttingen 2001).

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