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2.2 Dreiklang der geschichtswissenschaftlichen Gedächtnisforschung: Kollektives, kommunikatives und kulturelles GedächtnisGedächtniskulturelles

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Seit den 1970er Jahren vollzog sich ein Richtungswechsel im Forschungsinteresse vieler Historiker. Ihr Augenmerk ruhte nicht mehr allein auf der Geschichte, wie sie sich vollzogen hat, sondern zugleich darauf, wie sie rezipiert und interpretiert wurde. Dadurch wurde ‚das GedächtnisGedächtnis‘ zum zentralen Gegenstand eines eigenen Forschungsschwerpunkts innerhalb der Geschichtswissenschaft. Diese Perspektivverschiebung führte zu einer Vielzahl von Theorien und Konzepten, die sich oft wechselseitig aufeinander beziehen. Mit stets neuen Begriffen bestellt die Wissenschaft ihr noch immer junges Forschungsfeld (siehe z.B. Frei 1996; König/Kohlstruck/Wöll 1998; Kohlstruck 2004; Reichel 1995; Wolfrum 1996). Der souveräne Umgang mit ihnen ist für den Historiker, der sich beruflich auf das weite Feld der ErinnerungskulturErinnerungskultur begibt, unabdingbar.

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Geschichtsbewusstsein, Geschichtskultur, Vergangenheitspolitik

Die Reflexion über den Umgang mit der Vergangenheit hat eine eigene (Begriffs-)Geschichte, von der Edgar Wolfrum (2013, 37) sagt, sie sei die „reine Kakofonie“. Bis heute prägend ist der Ausdruck Geschichtsbewusstsein, den die Geschichtsdidaktik in den 1970er Jahren einführte und seitdem theoretisch füllte (siehe Jeismann 1988). Schnell fand dieser Begriff auch umgangssprachlich Gebrauch. Geschichtsbewusstsein als die individuelle „Vorstellung von und Einstellung zur Vergangenheit“ (Jeismann 1977, 12f.) verleiht Gegenwart und Zukunft Sinnhaftigkeit und schafft Orientierung. Geschichtsbewusstsein umfasst nach Hans-Jürgen Pandel mehrere Dimensionen, vor allem ein Zeitbewusstsein, d.h. die Erkenntnis und Deutung der miteinander verwobenen Zeitebenen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Außerdem baut es darauf, zwischen Realität und Fiktion unterscheiden sowie Kontinuität und Wandel erkennen zu können. Hinzu kommen gesellschaftlich-soziale Dimensionen des Geschichtsbewusstseins, die auf Identitäten, Machtstrukturen, soziale Ungleichheiten und Moralvorstellungen verweisen (Pandel 1993).

Während beim Geschichtsbewusstsein das Individuum und sein subjektiver Umgang mit der Zeiterfahrung in den Blick genommen werden, bezieht sich Geschichtskultur auf die „Art und Weise, wie eine Gesellschaft mit ihrer Vergangenheit und ihrer Geschichte umgeht“ (Pandel 2009, 86). Geschichtskultur, die vor allem Jörn Rüsen und Bernd Schönemann theoretisch ausdifferenziert haben, wirkt weit über die Geschichtsdidaktik hinaus, ist aber ein Begriff der Wissenschaft geblieben (siehe Rüsen 1994; Schönemann 2006). Deutlich ist die inhaltliche Nähe zur Erinnerungskultur, die sich begrifflich auch im vorwissenschaftlichen Raum, sogar alltagssprachlich durchgesetzt hat. Auch der jüngste Terminus Geschichtspolitik hat längst die Grenzen der Wissenschaft verlassen und wird jenseits des eingegrenzten historischen Theorie- und Forschungsansatzes allgemein für den öffentlichen Umgang mit Geschichte benutzt. Gelegentlich wird als Synonym von Vergangenheitspolitik gesprochen. Das ist insofern begrifflich ungenau, als der Historiker Norbert Frei diesen Begriff 1996 nur für den zeitlich und thematisch begrenzten rechtlichen und materiellen Umgang mit der NS-Vergangenheit in der Frühphase der Bundesrepublik prägte (Frei 1996). Daran anknüpfend widmen sich inzwischen weitere Forschungen der Aufarbeitung von Diktatur und Gewalt in der Übergangsphase zur Demokratie in anderen Ländern (siehe Vergangenheitspolitik 2006; Oettler 2004).

„Es gibt keine kollektive Erinnerung, wohl aber kollektive Bedingungen möglicher Erinnerungen“, postulierte im Jahr 2000 Reinhart KoselleckKoselleck, Reinhart (1923–2006). Er plädierte für ein Vetorecht persönlicher Erfahrungen gegenüber jeder Vereinnahmung in ein Erinnerungskollektiv: „So wie es immer überindividuelle Bedingungen und Voraussetzungen der je eigenen Erfahrungen gibt, so gibt es auch soziale, mentale, religiöse, politische, konfessionelle Bedingungen – nationale natürlich – möglicher Erinnerungen“ (Koselleck 2000, 20). Koselleck fand dafür das anschauliche Bild von Schleusen, die die persönlichen Erfahrungen filtern, damit sich klar unterscheidbare Erinnerungen festsetzen können. Die moderne Gedächtnisforschung fasst die Vergangenheit als eine kulturelle Schöpfung auf, die erst dadurch entsteht, dass man sich auf sie bezieht. Bereits 1925 betonte der Soziologe Maurice HalbwachsHalbwachs, Maurice (1877–1945) die sozialen Bezugsrahmen, ohne die sich kein individuelles GedächtnisGedächtnis konstituieren und erhalten könne (Halbwachs 1985; ders. 1985a; siehe Welzer 2001). Die Individuen erinnern sich demnach zwar an ihre eigene Geschichte, das Erinnern unterliegt aber gesellschaftlichen Wahrnehmungsrahmen (cadres sociaux), die Menschen der gleichen Gruppe teilen. Erinnerung entsteht nach Halbwachs durch Kommunikation und bezieht nicht nur die selbst gemachten, sondern auch die von anderen mitgeteilten Erfahrungen ein. So besteht zwischen individuellem und kollektivem Gedächtnis eine enge Bindung. Letzteres definiert Halbwachs als den Gesamtbestand von Erinnerungen, die eine Gesellschaft in jeder Epoche mit ihren gegenwärtigen Bezugsrahmen rekonstruieren könne.

Jan und Aleida AssmannAssmann, Jan entwickelten darauf aufbauend eine für zahlreiche nachfolgende Forschungsarbeiten instruktive Theorie des kollektiven GedächtnissesGedächtniskollektives (Assmann 1992; Assmann 1999). Darin kontrastieren die Begriffe Kommunikatives und Kulturelles GedächtnisGedächtnis zwei wesentlich voneinander zu unterscheidende Erinnerungsformen. Das „kommunikative GedächtnisGedächtniskommunikatives“ zielt auf einen Erinnerungsraum aus persönlich erlebter Vergangenheit und aus Kenntnissen, die durch Kommunikation mit Zeitgenossen angeeignet werden. Das kulturelle GedächtnisGedächtniskulturelles richte sich dagegen auf Fixpunkte bzw. schicksalhafte Ereignisse in einer absoluten Vergangenheit. Diese Erinnerung, die vorrangig im Fokus dieses Lehrbuches steht, sei gestiftet und geformt, ihre Pflege obliege Spezialisten. Das kollektive Gedächtnis rekonstruiere aber nicht nur die Vergangenheit, sondern es organisiere auch die Erfahrung von Gegenwart und Zukunft, sei also Teil der Sinnstiftung einer Gesellschaft.

Neben dem sozial-konstruktivistischen Ansatz von HalbwachsHalbwachs, Maurice regten die Forschungen des französischen Historikers Pierre NoraNora, Pierre über die „lieux de memoire“ (dt.: ErinnerungsorteErinnerungsorte) die Auseinandersetzung mit der erinnerten Vergangenheit an (Nora 1990). An die Stelle eines ‚lebendigen‘ Gedächtnisses sieht Nora ‚Erinnerungsorte‘ treten, die sich als kulturelle Kristallisationspunkte historischer Erfahrung im kollektiven GedächtnisGedächtniskollektives ablagern und auf das historische Selbstverständnis einer Gesellschaft verweisen. Auch Nora interessierte sich in seinen Forschungen also nicht mehr für die Vergangenheit als solche, sondern für die kulturell überformte Gegenwart der Vergangenheit, die – in seinen Worten – Geschichte zweiten Grades. Von Frankreich aus trat das Konzept seinen Siegeszug durch ganz EuropaEuropa an, es folgten vergleichbare Mammutprojekte zu Erinnerungsorten in Italien (1996–1997), Österreich (2004–2005), den Niederlanden (2006/2007), Luxemburg (2007), Russland (2007) und auch in Deutschland (François/Schulze 2001). Es gibt aber auch Kritik. Etienne FrançoisFrançois, Etienne, der selbst zu Erinnerungsorten geforscht hat, verweist neben der begrifflichen Verschwommenheit, die zu missverständlicher und missbräuchlicher Verwendung verleite, vor allem auf den Primat des nationalen Rahmens. Der ließe andere mögliche Perspektiven bei der Konstruktion von Gedächtniskulturen, z. B. lokale und regionale, unberücksichtigt (François 2009). Dafür hat sich die Wissenschaft bei der Erforschung von Gedächtniskulturen mit dem aufwändigen Projekt deutsch-polnischer Erinnerungsorte inzwischen transnationalen Ansätzen gegenüber geöffnet (Hahn/Traba 2011).

Auch einen anderen Kritikpunkt unterschlägt François nicht: So würde die Perspektive der ErinnerungsorteErinnerungsorte-Forschung stark von institutionellen, politischen und kulturellen Akteuren dominiert. Die nicht-politischen, sozialen, emotionalen, ‚erlebten‘ Dimensionen des Gedächtnisses blieben hingegen unterbelichtet. Davon unbenommen betont FrançoisFrançois, Etienne die grundsätzliche Bedeutung der jüngeren Forschungsdisziplin: Das Bemühen um die Historisierung des Gedächtnisses habe nämlich dazu beigetragen, den Gegensatz zwischen GedächtnisGedächtnis und Geschichtswissenschaft zu überwinden. Historiker würden heute im Gedächtnis „eine grundlegende historische Wirklichkeit [erkennen], in die sie eingebettet sind und an der sie in gleichem Maße als Akteur wie als Beobachter teilnehmen“ (François 2009, 36) – oder in den Worten des Historikers Harald SchmidSchmid, Harald (2009a, 10): Der „Gegensatz zwischen dem auf Identitätsbildung zielenden, emotionalisierend-konfliktträchtigen Gedächtnis und der auf Erkenntnis zielenden, objektivierend-kritischen Geschichtswissenschaft [ist] durch eine Historisierung des ersteren in professionelle und fruchtbare Bahnen gelenkt.“

Weiterführende Literatur

Assmann 1999: Aleida AssmannAssmann, Aleida, Erinnerungsräume: Formen und Wandlungen des kulturellen GedächtnissesGedächtniskulturelles (München 1999).

Assmann 1992: Jan AssmannAssmann, Jan, Das kulturelle GedächtnisGedächtniskulturelles: Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen (München 1992).

NoraNora, Pierre 1990: Pierre Nora, Zwischen Geschichte und GedächtnisGedächtnis (Berlin 1990).

François/Schulze 2001: Etienne François/Hagen Schulze (Hg.), Deutsche ErinnerungsorteErinnerungsorte, 3 Bde. (München 2001).

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