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Samstag, 5. Februar 1938

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SALZBURGER SCHNEEBERICHTE. […] Der Wintersport-Wetterdienst des Landesverkehrsamtes meldet heute: Eine wesentliche Änderung in den Schneeverhältnissen im Salzburger Land ist seit dem gestrigen Bericht nicht eingetreten. Die Schneelage ist insbesondere im Gebirge überall sehr günstig, die meist pulvrige Schneeoberfläche gewährleistet eine geradezu ideale Skifähre. […] Die Abfahrt von der Gaisbergspitze ist bis ungefähr zur Rinderalm gut. Alle Sportanlagen befinden sich in benützbarem Zustande, die Rodelbahnen sind meist ausgezeichnet fahrbar. Touren sind gut durchführbar. Fast überall herrscht prachtvolles, sonniges Wetter.

Salzburger Chronik

Wenn Walter Schwarz das Foto anschaut, das in seiner Wohnung am Kranzlmarkt silbergerahmt auf einer Anrichte steht, dann sieht er nicht nur zwei Menschen, die Hand in Hand auf Schlittschuhen über den Zeller See gleiten, er sieht auch das Glück auf dünnem Eis, von dem damals, im Winter 1930, weder er noch seine Frau geahnt haben, dass es brechen könnte. Das Glück in den Gesichtern der beiden Schlittschuhläufer – Dora links und Walter rechts – ist sichtlich nicht nur das Glück einer in dieser Zeit noch intakten Ehe, es ist auch das Glück einer damals noch intakten Zeit. Wenn Walters junge Liebe, Hertha Pitschmann, in Salzburg ist, stört sie sich nicht an dem Foto der beiden. Sie weiß Dora weit weg. Und sie ist sich sicher, dass sie nicht mehr zurückkommen wird, denn Dora ist in Palästina längst zu Hause, sie wäre nicht so dumm, ihre neue Heimat zu verlassen und zurückzukehren. Als sie sich von ihrem Ehemann trennte, war sie im vierzigsten Lebensjahr, als er sie heiratete, war sie erst sechzehn Jahre alt. Mag sein, dass sie da noch ein junges, dummes Ding war, wie man sagt. Vielleicht hatte sie in die Ehe aber auch nur deshalb eingewilligt, weil ihr Vater, der reiche Innsbrucker Warenhausunternehmer Schwarz – die Namensgleichheit ist ein Zufall – es so gewollt hatte. Walter, damals vierundzwanzig Jahre alt, war mit Gretha, einer anderen Tochter des Unternehmers, verlobt gewesen. Doch kurz vor dem festgesetzten Hochzeitstermin starb die achtzehnjährige Braut unerwartet an einem grippalen Infekt. Ihr Vater bat Walter daraufhin, ihre erst sechzehnjährige Schwester Dora zu heiraten. Die Hochzeit fand dann 1911 auch tatsächlich statt, zwei Jahre später kam ihr erstes Kind, Hugo, zur Welt. Als 1914 der Erste Weltkrieg ausbrach, zog Walter Schwarz als k.u.k. Soldat ins Feld. Bei seiner Heimkehr 1918 fand er von seinem Geschäft am Ludwig-Viktor-Platz, dem heutigen Alten Markt, nur noch Trümmer vor. Walter erzählt Hertha nicht nur davon, sondern auch von anderen Ereignissen. Sie fragt nach der Frau auf dem Foto, die mit Walter so beschwingt und leicht über das Eis dahingleitet, sodass es ausschaut wie ein Tanz; sie interessiert sich für seine Familie, für seine Söhne Hugo, Benjamin und Rafael. Wer seine Eltern sind, möchte sie wissen, ob er Geschwister hat, wo sie jetzt leben. Schon gleich nach ihrem Kennenlernen hat sie alles von Walter wissen wollen, fragt immer wieder nach diesem und jenem, und Walter gibt ihrer Neugier immer wieder geduldig nach. Er hat ihr bald sein ganzes Familienleben präsentiert und mit dem Satz „Du musst sagen, wenn es dir langweilig wird“ doch nur ihre nächste Frage ausgelöst. So hat sie in den letzten Monaten nach und nach so manches erfahren. Etwa, dass Walters Mutter eine Goldmann war und 1856 in Kolin in Böhmen geboren wurde; dass Samuel Löbl Schwarz, Walters Vater, 1860 in Papa, Westungarn, zur Welt gekommen ist; dass man sich in der Familie erzählt hat, er sei ein illegitimer Sohn von Fürst Esterházy gewesen; dass er ausgeschaut habe wie der Esterházy, ein großer, fescher Mann; dass Walters Vater zur Hochzeit mit Amalia Goldmann von deren Bruder Geld bekommen habe, damit er ein Geschäft eröffnen konnte. So wäre der frisch verheiratete Samuel Schwarz Geschäftsmann geworden. Darüber hinaus hat Hertha erfahren, dass Walters Mutter 1923 mit siebenundsechzig Jahren gestorben ist. Und dass ihr Ehemann, der alte Schwarz, österreichweit Kaufhäuser eröffnet hat und 1926 gestorben ist. Hertha findet es schade, dass sie die Eltern ihres Liebsten nicht mehr kennenlernen kann. Walter berichtet davon, dass er und seine Brüder Vaters Geschäfte weiterführen und dass es noch drei Schwestern gebe. Elsa, die älteste, sei erst mit einem Juden mit dem Nachnamen Kaldor verheiratet gewesen. Bei ihrer Hochzeit 1920 sei Walter einer der Trauzeugen gewesen. Der Kaldor habe sie allerdings mit einer Geschlechtskrankheit angesteckt, was 1924 zur Scheidung geführt habe – und dazu, dass sie keine Kinder bekommen könne. Sie habe danach in Innsbruck gelebt und dann den italienischen Maler Alberto Slataper aus Triest geheiratet. Der Albert sei jedoch leider vor drei Jahren verstorben. Walter habe ihn auch als Maler geschätzt. An einem Tag im Herbst letzten Jahres hatte Walter dann von den anderen Schwestern erzählt: Nach Elsa sei Grete geboren worden, die aber schon vor 1920 an einer Krankheit gestorben wäre. Auf sie wären dann Frieda und schließlich Katharina, genannt Käthe, gefolgt. Sie hätte später den Heinrich Schein, einen erfolgreichen Teppichhändler in Wien geheiratet. Sie hätten zwei Söhne, Georg und Thomas. Dann sei da eben noch Frieda, die 1897 in Graz Geborene. Sie schaue sehr goiisch aus, habe sein Vater immer gesagt. Goiisch? Was das bedeute, wollte Hertha wissen. Nichtjüdisch, hatte Walter ihr daraufhin erklärt. Warum das der Vater gesagt habe? „Weil es so ist“, hatte Walter geantwortet. Aber das hieße nichts. Es fiele halt nur auf. Warum Walter das sagen würde? Was er damit meine? Das würde gar nichts bedeuten, er wolle damit gar nichts sagen. Dann sprach er einfach wieder weiter, als wolle er ablenken. Frieda sei mit Dr. Moritz Mosche Scheuer, ursprünglich aus Böhmen, verheiratet. Einem Rechtsanwalt. Schwager Moritz führe eine der größten Kanzleien in Innsbruck. Kurios sei: Als Moritz nach dem Studium von Wien nach Innsbruck gekommen sei, habe er erst einmal Elsa kennengelernt, die da noch den Namen Kaldor geführt hätte, aber allein lebte. Es sei fast zu einem Schiddach, also einer Heiratsvermittlung gekommen, aber Walters Mutter habe dann angeblich zu ihrem zukünftigen Schwiegersohn Moritz gesagt: „Was brauchst du eine Frau, die keine Kinder kriegen kann?“ Und so sei Frieda, die um zehn Jahre jüngere Schwester von Elsa, mit Moritz Scheuer zusammengekommen. Moritz sei immerhin fast zwanzig Jahre älter als sie undüberhaupt ein sehr ernster und strenger Mensch. Aber, wo die Liebe halt hinfallen würde. Es sei in Ordnung so. Als die Rede auf Innsbruck kommt, spricht Walter noch kurz über seine Brüder: Max sei der Älteste, nicht verheiratet, er arbeite im elterlichen Geschäft in Graz mit. Mal mehr, mal weniger, betont Walter. Sein jüngerer Bruder Paul sei Jurist. Und dann hätte es noch den Ernst gegeben. Ernst war der Letztgeborene. Er habe sich eine Geschlechtskrankheit zugezogen und sich umgebracht. Er sei in Innsbruck begraben. Als sie Kinder waren, hatte er mit seinen Geschwistern das Leben reicher Kaufmannskinder mit Urlauben in der Normandie, an der Nordsee, Skifahren in Flims und Baden in der Adria geführt.

Am heutigen Abend hat Hertha wieder neue Fragen, und Walter hat wieder einmal Geduld. Er ist sogar geradezu in Erzähllaune.

„Und als deine Frau sich getrennt hat, ist Hugo noch bei dir in Salzburg geblieben …“

„Der Hugo, ja, ich seh noch vor mir, wie unser Erstgeborener – es war direkt nach dem Krieg, als alles doch in Trümmern lag – im Kaufhaus mit den Holzperlen und Knöpfen spielt, wie der damals Fünfjährige, als eigentlich alles drunter und drüber geht, glücklich die Holzperlen und die Knöpfe auf dem Fußboden umherkullern lässt. Ich kann sogar das Geräusch noch hören …“

„Was war denn da mit eurem Geschäft, wenn alles in Trümmern lag?“

„Das kann ich dir erzählen. Das war nämlich so: Ich war noch im Krieg, also, ich bin im Lazarett in Kärnten in Wildbad Einöd gelegen. Da fahren meine Frau und Hugo eines Tages mit der Roten Elektrischen, kommen von Berchtesgaden zurück. Sie kommen also an einem Sonntag im Oktober 1918 nach Salzburg herein, du weißt schon,über die Karolinenbrücke kommen sie, und da steigen Leute ein, und eine Frau sagt zur anderen: ‚Ja, jetzt haben’s den Schwarz ausgeräumt. Ausgeplündert.‘ Na, du kannst dir vorstellen, was das für Gefühle bei meiner Frau ausgelöst hat. Aber dann sind sie, also Dora und Hugo, sofort ausgestiegen, beim Österreichischen Hof, und sind hinüber zum Geschäft, und es war völlig ausgeplündert. Fast nichts war mehr da. Wo die Stoffe aufgewickelt waren, die Kartons, die hat man-übrig gelassen. Und am selben Tag wurde auch das Hotel de l’Europe am Bahnhof geplündert, dort haben sie den Koch aufgehängt. Bei uns haben sie niemanden erwischt zum Umbringen, und das Ganze war auch nicht so kompliziert zum Aufbrechen. Und als ich zurückgekommen bin – es war gar nicht so einfach, so ein Geschäft wieder einzurichten. Das ganze Geschäft ist zwar nicht geplündert worden, es war ein kleines Geschäft mit achtzehn Angestellten, jetzt haben wir in Salzburg ja hundert. Ich habe dann als Erstes im zweiten Stock eine Bildergalerie aufgemacht. Die Neue Galerie. Ich liebe Faistauer und Schiele und Klimt, weißt? Die hab ich gesammelt und angefangen, einen Kunsthandel zu betreiben. Und nach zwei Jahren, Anfang 1920, habe ich dann das Kaufhaus mit Krediten wieder eröffnen können. Und zwei Jahre später war es dann vollkommen fertig, mehr noch: Ich habe modernisiert und einen Lift in das fünfstöckige Haus am Ludwig-Viktor-Platz einbauen lassen. Der Lift war eine kolossale Sache. Fünf Jahre später habe ich den Kranzlmarkt dazugekauft und eine innere Verbindung geschaffen. Und diese kleine Wohnung hier …“

„. in der wir gerade beisammen sind …“, lächelt Hertha versonnen.

„… ja, die auch. Unser Wohnhaus in der Purtschellergasse habe ich im Herbst 1933 schließlich verkauft. Da war Dora schon in Wien. Sie ist mit Benjamin und Rafael zuerst noch nach Wien, bevor sie kurz darauf nach Palästina gegangen ist. Mein Ältester hat mit mir eine Zeit lang hier und vorher in der Purtschellerstraße gewohnt, 1936 hat er noch seine Skilehrerprüfung am Arlberg abgelegt. Dann ist er auch nach Palästina gegangen, und ich bin hiergeblieben.“

„Und du, warum, bist du nicht ins gelobte Land?“

„Dann hätten wir uns doch nie kennengelernt …“

„Ja, stimmt schon …“

„Ich war übrigens bereits im 24er-Jahr dort. Ist mir viel zu heiß gewesen. Und die Mücken. Der Hugo hat mich so belagert, wir sollten gleich dortbleiben. Ich habe gesagt: Naja, schauen wir noch, lassen wir das noch andere Leute aufbauen. Aber es war mir zu heiß, die Mücken haben mich schon sehr gestört. Es waren furchtbar viele Mücken. Fliegen und Mücken. Schlafen hat man nur können, wenn man sich ganz mit Leintüchern zugedeckt hat, weil die Fliegen sind nicht nur gekrabbelt, sondern haben auch gestochen.“

Sie kneift die Augen zusammen. „Und hier? Hier ist dir nicht zu heiß?“

„Hier?“

„Hier wird’s doch langsam auch ziemlich heiß.“ „Du meinst …“

„Walter“, sie nimmt seine Hand, „ich wär halt froh, wenn ich dich in Sicherheit wüsste.“

„Willst mich schon wieder loswerden?“

„Ach was! Ich hab halt Angst wegen dem Hitler.“

„Du hast nichts zu befürchten.“

„Ich hab aber um dich Angst, Liebster.“

„Mir geschieht aber bestimmt nichts. Glaub mir: Ich hab alles vorbereitet.“

„Sicher, man kann auch die Luft anhalten, bevor es passiert.“

„’s wird sich schon ausgehen …“

„Was willst du tun, wenn’s der Hitler ernst meint? Jetzt hat er auch noch den Befehl über die Wehrmacht persönlich übernommen.“

„Ja, ich habe heute auch Zeitung gelesen. Ich hab gar nicht gewusst, dass du dich für Politik interessierst.“

„Ich interessiere mich für dich!“

„Glaub mir, ich habe alles vorbereitet …“

„Das will ich dir ja gerne glauben. Aber man muss jetzt auf alles vorbereitet sein! Es gibt Menschen, deren Albträume beginnen, wenn sie aufwachen. Warte nicht so lange. Bitte! Tu’s für uns.“

„Hertha. Es kann sein, dass du recht hast, dass es der Anfang von etwas Schlimmerem ist.“ Walter Schwarz macht eine Pause, in der er seine Hand auf ihre legt. „Aber glaube mir: Ich bin auf dem Laufenden und ich bin Geschäftsmann, ich bin gewohnt, Dinge im Voraus zu planen.“

Sie nickt stumm. Dann sagt sie leise: „Und komme ich auch darin vor, in deinem Plan?“

Walter starrt sie an: „Dass du das überhaupt fragst. Natürlich kommst du darin vor. Ich kann dir nur eben jetzt noch nichts sagen, glaub mir, es ist das Beste. Nur so viel: In Jerusalem baue ich schon seit zwei Jahren ein Geschäft auf und habe Landwirtschaft gekauft, die auf den Hugo läuft. Und in England habe ich auch investiert …“

„Wenn du das sagst.“

„Es gibt hier einfach noch ein paar Sachen zu erledigen. So lange müssen wir, muss ich noch hierbleiben.“

„Aber warum Salzburg? Warum nicht London oder Zürich?“

Walter Schwarz überlegt kurz und holt dann aus, als ob er etwas sehr Bedeutendes zu sagen hätte: „Ach, weißt, dass Salzburg einer der wenigen Orte auf der Welt ist, die schöner sind als auf jeder Postkarte, musst wohl zugeben, nicht?“

„Walter! Das ist gar nicht witzig!“

Er nickt, dabei betrachtet er sie wie ein verschollenes Bild, das er eben wiedergefunden hat: „Verzeihung. Vielleicht hast du recht, vielleicht wäre es das Beste, wenn du schon in die Schweiz gehst und dich dort um eine Wohnung für uns kümmerst, bis ich dann nachkomme.“

Am Nachmittag kommt der Führer

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