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Donnerstag, 30. Dezember 1937

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DAS AUTO VON PASSAU. Schärding […]. Montag abends wurde hier, wie gemeldet, bei der Zollrevision in einem reichsdeutschen Personenauto aus Passau eine große Menge nationalsozialistischer Bücher, parteiamtliche Schulungsbriefe und sonstiges zur Verbreitung in Österreich bestimmtes nationalsozialistisches Propagandamaterial gefunden und beschlagnahmt. […] Die Zollwachorgane fahndeten hauptsächlich nach Devisen und sie fanden dabei in dem geräumigen Koffer des großen Autos moderner Type eine Menge Propagandamaterial, darunter große Pakete von Schulungsbriefen für die illegalen Parteigänger und speziell für die Arbeitsfront.

Salzburger Volksblatt

Es ist der Abend vor dem Silvestertag 1937. Im Grand Hôtel de l’Europe öffnet einer der zahlreichen Ober eine jener unzähligen Flaschen Wein, die an diesem Abend im Strahlenglanz der Lüster geleert werden. Der Weinkeller des Hauses gilt als nie versiegende Quelle des Glücks in den Kreisen derer, die es sich leisten können. Zur Festspielzeit ist das Grand Hôtel der Treffpunkt für Gäste aus aller Welt. Doch vornehmlich feiert in seinen prachtvollen Sälen die Salzburger Eleganz ihre fulminanten Feste und sich selbst. Hier wird die Tradition nicht rückwärts gedacht, sondern vorwärts zelebriert.

An dem Tisch, an dem ein Mann im besten Alter mit seiner jungen Begleiterin seinen Geburtstag begeht, ist es die zweite Flasche 1928er Bordeaux, ein Jahrgang von außergewöhnlicher Qualität, in dem auch die nicht so bekannten Erzeuger des Bordelais Glanzleistungen vollbrachten. Es sind Weine, die man später – viel später – filigran und bezaubernd, aber auch risikoreich und vergänglich nennen wird. Der Ober, der den Bordeaux soeben geöffnet hat, schenkt einen Probierschluck in das Glas des Herrn ein, während eine rote Träne vom Flaschenhals auf das weiße Tischtuch tropft.

Der Speiseaal mit seinen fast einhundert Plätzen ist erfüllt vom Stimmengewirr der zahlreichen Tischgesellschaften. Während die Gäste speisen, konzertiert eine Wiener Kapelle und es ist nicht zu verstehen, was die Beiden sprechen.

Walter Schwarz, der Mann, der Geburtstag hat, wird dreiundfünfzig Jahre alt. Er spricht, sie lacht. Er liebt ihre unbeschwerte Fröhlichkeit, die sich in allem niederschlägt, was sie berührt. Wer in den Gesichtern der beiden lesen kann, ahnt das Glück. Da aber jeder Tisch in dieser lauten Undurchdringlichkeit eine kleine Insel ist, nimmt niemand wirklich Notiz von der Verliebtheit des altersmäßig so ungleichen Paares. Es ist ihr erstes gemeinsames Jahr, und es sollen noch viele folgen.

Freilich, ihn kennt man. Über sie aber weiß man recht wenig, und die, die etwas zu wissen glauben, wissen auch nicht mehr, als dass sie jung ist und schön und keine von hier. Die braunen Haare hat sie kunstvoll hochgesteckt. Mit ihrem leicht geneigten Kopf, den Blick an die Decke gerichtet, strahlt sie etwas Elfenhaftes aus. In Salzburg bekommt man sie nur selten zu Gesicht. Linzerin soll sie sein, als Verkäuferin soll sie dort bei Kraus & Schober gearbeitet haben. Und wer eins und eins zusammenzählen kann … Sicher ist: Bereits 1930 war Kraus & Schober von einer Investorengruppe um die drei Brüder Max, Walter und Paul Schwarz übernommen worden. Es braucht nicht allzu viel Fantasie für die Vorstellung, dass Walter Schwarz die junge Dame, die an seinem Tisch sitzt, in dem Linzer Warenhaus am Hauptplatz 27 kennengelernt hat. Die Frage, wann genau das Kennenlernen vonstattengegangen ist und wie, bleibt Spekulation. Was das Geschäftliche betrifft, kann man jedoch konkret werden: Die jüdische Familie Schwarz verfügt seit der Übernahme von Kraus & Schober nicht nur in Linz und Salzburg, sondern in ganz Österreich über ein sehr gut funktionierendes und florierendes Geschäftsnetz an Kaufhäusern. Den Grundstein für die Entwicklung hatte der Vater, Samuel Löbl Schwarz, im Jahr 1881 mit dem Stammhaus der Firma S. L. Schwarz in Graz, Jakominiplatz 16, gelegt. Vor dreißig Jahren, anno 1908, hatte die Stadtgemeinde Salzburg der Firma S. L. Schwarz die Gewerbeberechtigung für eine Zweigniederlassung am Ludwig-Viktor-Platz 12, heute Alter Markt erteilt. Samuel Löbl Schwarz und seine Söhne Max, Walter und Paul hatten das Haus erworben, dazu die Liegenschaft Kranzlmarkt 4 sowie einen Hausanteil in der Sigmund-Haffner-Gasse 3.

Wer heute hier im Grand Hôtel de l’Europe ist, denkt schon mit Vorfreude an morgen: Morgen wird an gleicher Stelle das neue Jahr geräuschvoll und überschwänglich willkommen geheißen werden. Eine Stunde null wird es sein. Die Feiernden werden die Gläser klingen lassen und allein durch ihre Anwesenheit einander versichern, dass auch im neuen Jahr alles wie immer, alles beim Alten bleiben wird. Walter Schwarz will weder heute noch morgen an den Weihnachtsboykott denken, zu dem die in Österreich zwar illegale, aber mitgliederstarke nationalsozialistische Bewegung vor wenigen Tagen aufgerufen hat. Der aggressive Propagandafeldzug hat zahlreiche jüdische Geschäfte getroffen, auch die seiner Familie. Sicher, im Deutschen Reich hatten die Nationalsozialisten gleich nach Hitlers Machtübernahme vor fünf Jahren zu Konsumentenboykotts aufgefordert. Auch Überfälle von SA-Männern auf jüdische Kaufhäuser waren schon vorgekommen. Wer Augen und Ohren nicht verschloss, konnte über die Grenzen hinweg vom Kesseltreiben gegen jüdische Unternehmer in Deutschland erfahren. Aber das war eben Deutschland, nicht Österreich. Bis gestern. Bis Weihnachten. Jetzt fühlt Walter Schwarz anders, denn jetzt ist auch seine Heimat davon betroffen – und mehr noch: Seit ein paar Tagen geht es ihn direkt etwas an. In der auflagenstärksten illegalen Publikation, dem in Linz hergestellten Österreichischen Beobachter, wurden jüdische Unternehmer als Blutsauger und Wucherer dargestellt und das größte und modernste Linzer Warenhaus Kraus & Schober hatte man einen „Ramschladen“ genannt. Schon in der zweiten Novemberhälfte hatte dieselbe Zeitung geschrieben: „Denkt schon jetzt bei Vorbereitung und Überlegung der Weihnachtseinkäufe, daß ihr keinen Groschen zum Juden tragen dürft.“ Und ein paar Zeilen weiter: „Selbstverständlich ist auch das Ramsch-Warenhaus Kraus & Schober jüdisch. Obwohl es drei Ausgänge hat, werden wir ihm als einem der ärgsten Schädlinge des heimischen Handels und Gewerbes und des kaufenden Publikums unser besonderes Augenmerk zuwenden.“ Das Blatt hatte Kraus & Schober sogar mit der Bezeichnung „Kraußlich“ bedacht, aus der man leicht die gebräuchliche Verwendung des Wortes „grauslich“ für „abscheulich“ herauslesen kann.

Trotzdem. Walter Schwarz will heute nur das Schöne sehen, sein Gegenüber, nicht die abscheuliche Fratze des Grauslichen, die er sich einfach nicht vorstellen mag. Nein, es wird schon weitergehen! Es ist doch nur ein Spuk, der sich bald wieder in nichts auflösen wird. Im Augenblick löst er sich im Rotwein auf, in dem x-ten Glas 1928er Bordeaux. Walter Schwarz möchte das Leben eines wohlhabenden Mannes, von allen familiären Verpflichtungen befreit, weiterleben.

Seine Frau Dora hat Salzburg und ihm schon vor vier Jahren den Rücken gekehrt und ist nach Palästina ausgewandert. Da war sie neununddreißig Jahre alt. Dora hatte Walter Schwarz mit sechzehn Jahren geheiratet. Schon als ganz junge Frau war sie ebenso überzeugte Vegetarierin wie Zionistin. Seinerzeit fuhr sie nach Zürich, um im Sanatorium des Gesundheitsapostels Bircher-Benner alles über Naturheilkunde zu erlernen. Zwanzig Jahre später brach sie aus und nahm als selbstbewusste Frau im Juli 1933 Abschied von ihrem Mann. Seit ihrer Ausbildung hatte Dora davon geträumt, eines Tages ein vegetarisches Gesundheitszentrum zu eröffnen. Mit diesem Traum und ihren drei Söhnen fuhr sie ins gelobte Land und ließ sich in Binjamina, südlich von Haifa, nieder. Palästina wird für sie ein Schlupfloch in die Selbstverwirklichung gewesen sein. Bis Anfang 1933 wohnten die Schwarz’ in einer ansehnlichen Villa in der Salzburger Elisabethvorstadt, ein großes Eckgrundstück, Purtschellergasse 12, eine Viertelstunde Fußweg von der Altstadt entfernt. Da aber stets die spiegelnde Karosse vor der Schwarz’schen Villa bereit stand, musste Walter Schwarz diesen Weg nur gehen, wenn er unbedingt wollte. Im Juni 1934 gab er die Purtschellergasse 12 auf, meldete sich offiziell nach Linz ab und bezog dort eine Wohnung im Haus Domgasse 5, das er zu einem Viertel sein Eigen nennt und von dem es nur ein paar Schritte zu Kraus & Schober sind. Da er wegen seines Geschäftes regelmäßig in Salzburg ist, hat er auch hier eine Wohnung eingerichtet. Und zwar am Kranzlmarkt 4, was wiederum sehr praktisch ist, weil sich gleich um die Ecke am Alten Markt sein Salzburger Warenhaus, das Kaufhaus Schwarz, befindet.

Dass Dora die Buben mitgenommen hat, schmerzt ihn sehr. Hugo ist mittlerweile vierundzwanzig Jahre alt, der Mittlere, Rafael, siebzehn, und Benjamin ist vierzehn. Als Dora ihren Mann verließ, stand es um ihre Ehe schon länger nicht mehr zum Besten. Sie hatte von seinen zahlreichen Liebschaften die Nase voll. Von Hertha Pitschmann, wie die junge Verkäuferin aus Linz heißt, hätte sie sicher auch erfahren. Aber da war sie schon fort. Walter Schwarz muss sich nicht mehr bemühen, diese Liebschaft geheim zu halten. Er hat seiner Hertha eine Wohnung in Wien I., Biberstraße 4, gemietet und ihr in der Stadt sogar ein kleines Wäschegeschäft eingerichtet. Von Dora ist er zwar noch nicht geschieden, aber er ist sich sicher, dass er aus Hertha Pitschmann in naher Zukunft Frau Schwarz machen wird. Noch Anfang November hat er sein Testament geändert, das er im Dezember 1935 verfasst hatte. Ursprünglich hatte er Dora als Alleinerbin eingesetzt und sie auch als Vormundin seiner minderjährigen Kinder bestellt. Nach seinem jüngsten Willen soll nun die gesetzliche Erbfolge gelten. Wer immer zukünftig den Namen Frau Schwarz tragen würde, ist damit – neben den drei Söhnen – zur Erbin bestimmt.

Mit Hertha Pitschmann wird er nach diesem Abend in seine Wohnung am Kranzlmarkt gehen und dort todmüde ins Bett fallen. Unnötig, in den Bildarchiven zu stöbern – man kann sich vorstellen, wie sie Arm in Arm durch die dämmrigen Straßen und spärlich beleuchteten Gassen ihrem Ziel entgegenschlendern.

Am Nachmittag kommt der Führer

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