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Dienstag, 1. März 1938

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ZERTRÜMMERTE AUSLAGENFENSTER. In Linz wurden in der Nacht zum 28. Februar drei große Auslagenfenster des größten Warenhauses in Linz, Kraus & Schober, zertrümmert. Das Geschäftshaus steht seit längerer Zeit unter nationalsozialistischem Boykott. Der Täter, ein siebzehnjähriger Schlossergehilfe, der nicht aus Linz stammt, ist unbekannten Aufenthalts. – Derartige Demonstrationen fallen natürlich nicht nur unter das Strafgesetz, sondern sind auch völlig zwecklos. Jede Firma hat ihre Auslagenfenster versichert.

Salzburger Volksblatt

Dreißig Kilometer von Salzburg entfernt, geradewegs nördlich und schon in Oberösterreich liegt der kleine Ort St. Pantaleon. Die Gemeinde im oberösterreichischen Innviertel gehört zum Bezirk Braunau am Inn und zählt knapp dreitausend Einwohner. Einer von ihnen ist Dr. Alois Staufer, der gerade im Ordinationszimmer hinter seinem Schreibtisch sitzt. Staufer ist der Gemeindearzt des Ortes. Er ist auch illegales Mitglied einer Partei, deren Namen noch längst nicht jedem, der in diesen Tagen ebenfalls ein Illegaler ist, fehlerfrei über die Lippen geht. Außen am Rock trägt er das Abzeichen der „Vaterländischen Front“, hinter dem Revers das Hakenkreuz. Das wird sich nach dem 12. März schlagartig ändern. Aber heute ist heute, und wenn es nach Staufer ginge, könnte alles so bleiben wie es ist. Er ist mit sich und seinem Dasein mehr als zufrieden. Er ist ein angesehener Bürger des Ortes, einer, der im Gemeinderat von St. Pantaleon sitzt. Vorweggenommen sei, dass der Gemeinderat von St. Pantaleon ab 1940 unter anderem protokollierte Beschlüsse fassen wird, Menschen ins KZ oder nach Hartheim, präzise: in die Tötungsanstalt Schloss Hartheim einzuweisen. Bei jeder Sitzung, in der man beschließt, Menschen nach Hartheim einzuweisen, wird Dr. Staufer allerdings abwesend sein und sich entschuldigen lassen. Zufall? Bis dahin wird aber noch mehr als ein Jahr ins Land gehen. Bis dahin wird alles so bleiben, wie es ist. Jedenfalls fast alles. Dr. Staufer wird weiterhin ein für St. Pantaleon ungewöhnlich großes Haus bewohnen. Wer es kennt, der beschreibt es mit den Worten herrschaftlich, ansehnlich, imposant. Vom bäuerlichen Stil der anderen Häuser im Ort weicht es stark ab. Es ist mehr eine Villa. Man sieht: Auch in diesen wirtschaftlich schwierigen Zeiten können er und seine Frau ein sehr gutes Leben führen. Dr. Alois Staufer ist schon seit ein paar Jahren Gemeindearzt von St. Pantaleon. Was das Arbeitsaufkommen betrifft, reicht ihm das voll und ganz. Aber ab Mitte kommenden Jahres wird er noch einer weiteren Tätigkeit auf dem Gemeindegebiet von St. Pantaleon nachgehen. Dann wird er von seiner Villa aus regelmäßig in das Arbeitserziehungslager Weyer, ein Lager der „Deutschen Arbeitsfront“ für sogenannte Arbeitsunwillige und Asoziale, hinüberfahren, das man unmittelbar an der Landesgrenze zu Salzburg an der Moosach einrichten wird. Staufer wird sich selbst als Lagerarzt bezeichnen und wie am Fließband Totenscheine ausstellen.

Aber wie gesagt: Heute ist heute, und heute sitzt er hinter dem Schreibtisch in seiner Praxis in St. Pantaleon. Gerade beschäftigt ihn sein Eigentum in Salzburg. Er hat ein weiteres, seinem hiesigen Anwesen ähnlich repräsentatives Haus in Salzburg; auch eine Villa. Besser gesagt, er teilt sich den Besitz in der Nonntaler Hauptstraße 49 mit seiner Ehefrau Luise. Ihnen gehört jeweils eine Haushälfte der Liegenschaft. Seine Hälfte hat er erst vor rund neun Monaten an die Ehefrau von Stefan Zweig vermietet. Staufer ist von den Mieteinnahmen ganz und gar nicht abhängig. Er ist, wie gesagt, wohlhabend. Dennoch hätte er nichts dagegen, wenn das Mietverhältnis mit der Zweig, so wie im letzten Mai geschlossen, fortbestehen würde. Überhaupt müssten sich ja für ihn die Dinge, so wie sie sind, nicht ändern. Eine solvente Bewohnerin wie die Frau Zweig, dazu noch die Ehefrau eines berühmten Schriftstellers, wer hat schon solche Mieter. Veränderungen bringen nur Unruhe und machen Arbeit. Er, Staufer, mag es lieber ruhig. Aber jetzt hat er eben dieses Schreiben der Zweig vor sich auf dem Schreibtisch liegen, in dem sie zum nächstmöglichen Termin kündigt. Er findet es durchaus bedauerlich, dass sie das Haus schon bald verlassen will. Ihre Pläne, dort eine Pension zu betreiben, scheint sie verworfen zu haben. Schade, es wäre etwas von Dauer gewesen, etwas Langfristiges, etwas, was man heute nicht mehr alltäglich vorfindet. Freilich, von der jüdischen Abstammung seiner Mieterin ahnt er nichts. Sie ist, wie von ihr selbst angegeben, katholisch. Allerdings ist sie mit dem Juden Zweig verheiratet, der Österreich längst verlassen hat. Das ist ja kein Geheimnis, dass der Zweig ein Jude ist. Davon hat der Herr Doktor bereits bei der Vermietung eindeutig Kenntnis gehabt.

Wenn man später einmal über Dr. Alois Staufer richten wird, also moralisch, muss man ihm sein mutiges Verhalten, das er in zwei bis drei Jahren an den Tag legen wird, anrechnen: Die aufschlussreichste Tat dieses Mannes wird eine Anzeige bei der Gendarmerie sein. Als für das Arbeitserziehungslager Weyer zuständiger Arzt weiß er von den unmenschlichen Zuständen, die dort herrschen. Mörderisch geht es zu. Pflichtgemäß beurkundet er die zahlreichen Sterbefälle. Als Ursachen für die meist unnatürlich zustande gekommenen Tode gibt er unverdächtige Gründe an: Lungenentzündung, Herzversagen, Magendurchbruch. Aber allein im Dezember 1940 werden drei Lagerinsassen vom Leben in den Tod befördert. „Befördert“ deshalb, weil sie gefoltert werden und an den Folgen der Misshandlungen ihrer „Erzieher“ sterben oder zum Selbstmord angestiftet aus dem Leben scheiden. Dr. Alois Staufer nimmt jedenfalls allen Mut zusammen und schaltet am 27. Dezember 1940 die Behörden ein, indem er beim Amtsgericht Wildshut eine Anzeige macht. Was genau ihn dazu treibt, weiß man nicht. Vielleicht geht ihm der Vorrat an glaubwürdigen Todesdiagnosen aus. Er kann jedenfalls nicht so weitermachen, mitmachen wie bisher. Mitverantwortlich gemacht hat er sich bereits. Er ist ein Rad im reibungslos funktionierenden Todesgetriebe. Wenngleich ihn keine Schuld am Verrecken jedes Einzelnen trifft. Nein, zum Helden erhebt ihn das nicht. Aber es zeigt die Außergewöhnlichkeit eines Charakters, die Gegensätzlichkeit von Tun und Getan-Haben.

Am Nachmittag kommt der Führer

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