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Ahnenforschung und Ursprungsdiskurs:
Erträumte Phylogenese

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Die Geschichte wurde also eng verknüpft mit der Mythologie,127 und die Geschichtswissenschaft leistete dem bereitwillig Vorschub, wie man sehen wird. Die zahlreichen Karten, von denen weiter oben die Rede war, die Fußnoten, Register und Bibliographien der wissenschaftlichen oder populärwissenschaftlichen Artikel und Bücher, die beeindruckenden Titel, die ihre Autoren vorzuweisen hatten, versahen einen rein hypothetischen bis zusammenphantasierten Diskurs mit dem ganzen Apparat akademischer Wissenschaftlichkeit. Die Akademiker verzichteten in diesem Zusammenhang auf jegliches Wahrheitsethos und machten sich zu den beflissenen Dienern einer Weltanschauung, die ihnen den Auftrag erteilte, mit Hilfe eines wissenschaftlichen Apparats, einer konventionellen Rhetorik und rudimentärer Anpassung an akademische Konventionen einen mythischen Diskurs in wissenschaftliche Wahrheit umzumünzen: Historia ancilla ideologiae. Die akademische Rationalität war damit weit davon entfernt, auf die Universalität und den Ewigkeitscharakter des Wahren abzuzielen, sie kompromittierte sich vielmehr mit der kontingenten Endlichkeit des Besonderen. Sie hatte so Teil an der umfassenden Instrumentalisierung der Ratio, die bereits in den 1930er Jahren von den Theoretikern der Frankfurter Schule128 und in Frankreich von Paul Nizan129 scharf kritisiert wurde.

Die Geschichte machte sich zur Dienerin des Mythos, eines Legendendiskurses. Der Nationalsozialismus gebar eine Mythopoiesis, er erdichtete sich eine Mythologie, in der die Vergangenheit der Gruppe, der Rasse, ganz nach Maßgabe seiner ideologischen Postulate Gestalt annahm.

Diese Postulate waren so elementarer Natur und verstanden sich als so apodiktisch, dass die Geschichte neu geschrieben, ja umgestülpt wurde: Eine gegenwärtige Ideologie schickte sich an, die Vergangenheit einer Nation (das Mittelalter) neu zuzuschneiden, um dann die Vergangenheit einer Rasse (Altertum und Vorgeschichte) neu zu modellieren, und das alles, um einige simple Prinzipien zu veranschaulichen und damit ihren unmittelbaren politischen Bedürfnissen zu entsprechen. Die Schemata, die die nationalsozialistische Weltanschauung bestimmten, wurden deshalb gnadenlos auf Tausende Jahre Geschichte projiziert, die neu gelesen, neu erfunden und neu geschrieben wurden, um dann ihrerseits eben diese Schemata zu stützen. Die Geschichte sollte so dazu dienen, a posteriori eben die ideologischen Postulate zu validieren, die bereits deren Neuschreibung die Richtung vorgaben. Diese völlig verquere empirische Validierung ab historia schließt einen epistomologischen circulus vitiosus, in dessen Bannkreis die Lüge die Fälschung hervorbringt, und in dem dann wiederum die Legende der Lüge Nahrung gibt. Im Grunde ist dies die Botschaft der von den Nationalsozialisten neugeschriebenen Geschichte: Was wir sagen, ist wahr, denn es ist so, und im Übrigen zeigt die Geschichte, dass es schon immer so war. Man vergaß dabei nur den Hinweis darauf, dass der „Geschichte“ vorab ein Auftrag und zwar nur dieser eine Auftrag erteilt wurde, nämlich die Erfüllung dieser Validierungsfunktion. Ohne jegliche Achtung, ohne jeglichen Respekt vor der Geschichte kümmerte sich die für sie zuständige Disziplin, die Geschichtswissenschaft, nicht im Geringsten um die Vergangenheit, sondern diente einzig und allein der Gegenwart. Neugeschrieben, verstümmelt oder, besser gesagt, erdichtet und erfunden, wurde die Vergangenheit nicht für sich selbst betrachtet. Den Historikern war ihr feinfühliger Sinn für vergangene Wirklichkeit und ihr hoher Respekt vor den Toten abhandengekommen.

Unsere Kritik der Anwendung instrumentaler Vernunft auf die Geschichte hat nicht die Absicht, mutig offene Türen einzurennen oder Anklage zu erheben, wo das Urteil schon gesprochen ist. Gewiss ist es schockierend, dass die Wissenschaft mit ihrem ganzen Apparat sich einem solchen Diskurs ausgeliefert hat, doch ist es von weit größerem Interesse, die Motive aufzuspüren, aus denen heraus Historiker und Lehrer die Partei-Doktrin zu ihrer eigenen machten. Die nordische Hypothese hatte in Deutschland schon seit dem frühen 19. Jahrhundert eine feste Heimstatt gefunden. Ihre Radikalisierung durch den nationalsozialistischen Diskurs ist ohne allzu große Selbstverleugnung und Opposition von der Universität übernommen worden, denn sie entsprach dem psychologischen Bedürfnis nach Bekräftigung und Vergewisserung einer fragil gewordenen und seit 1918 in erhebliche Mitleidenschaft gezogenen nationalen Identität. Im Übrigen trieben im Zug der im April 1933 einsetzenden „Arisierung“ des öffentlichen Dienstes – also auch der Hochschulen – Karrierismus, Opportunismus und Mitläufertum die schönsten Blüten. Karrierismus und Opportunismus lassen sich bei den Historikern belegen, die dann nach 1945 keinerlei Skrupel dabei empfanden, ihre Karrieren und Forschungsarbeiten fortzuführen, und das teilweise bis in die 1970er Jahre hinein, ohne jemals wieder das rassistische Postulat zu erwähnen oder zu wiederholen, was sie im „Dritten Reich“ geäußert hatten – so etwa Joseph Vogt130 und Helmut Berve131. Eine fanatische Überzeugung war nur bei den wenigsten am Werke. Es wäre sicher von Nutzen, eine Typologie der späteren Karrieren der Gelehrten aufzustellen, die am NS-Diskurs über die Antike teilhatten, doch ist dies nicht Gegenstand der vorliegenden Arbeit.

Diese Art von Geschichtsschreibung und Geschichtsunterricht ist Ausdruck dessen, was Julien Benda in seinem gleichnamigen Essay von 1927 als „Verrat der Intellektuellen“ bezeichnet hat: Statt die universale Rationalität voranzubringen, stellen sich die Intellektuellen in den Dienst des engstirnigsten Partikularismus und eines bornierten Klassen- oder Rasseninteresses. Doch die freiwillige Knechtschaft des modernen Intellektuellen ist für den reichlich germanophoben Benda ein vor allem deutsches Phänomen: „Die deutschen Intellektuellen haben sich als erste mit dem fanatischen Patriotismus eingelassen […]. Der nationalistische Intellektuelle ist eine deutsche Erfindung“,132 genauer gesagt: eine deutsche Erfindung des 19. Jahrhunderts.

Wir müssen uns in der Tat dessen bewusst sein, dass die Nationalsozialisten die deutsche Geschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts und ihre Mythen weidlich ausgeschlachtet haben. Sie haben nichts erfunden: weder die germanisch-hellenische Verwandtschaft noch den Ariermythos. Um das Loblied von der Rasse singen zu können, haben sie eine vorfindliche Hypothese wiederholt und als These durchgesetzt, die Hypothese vom nordischen Ursprung jeglicher Kultur.

Dieser Missbrauch der Disziplinen Geschichte, Archäologie und Anthropologie im „Dritten Reich“ setzte bruchlos die Aufgabe fort, der sich diese Disziplinen im Rahmen der Konstruktion nationaler Identitäten im 19. Jahrhundert verschrieben hatten. Anne-Marie Thiesse hat darauf hingewiesen, dass es für die Herausbildung einer Nation „nicht genügte, ihr Erbe zu inventarisieren, man hatte es vielmehr zu erfinden“133. So wie Volkskunde und Literaturwissenschaft, haben sich auch die erwähnten Disziplinen dieser Erfindungsarbeit gewidmet, und zwar im dreifachen Sinn von Entdeckung und von Interpretation des Entdeckten, aber auch schlicht und einfach von Erdichtung.

Der Mediävist Patrick Geary bemerkt, dass sich vor allem in Deutschland eine besonders beflissene und mit Identitätspostulaten befrachtete Geschichtsschreibung in den Dienst der Nationbildung gestellt hat und dass sie zu diesem Zwecke den Mythos der Autochthonie gestützt hat, indem sie die Ursprünglichkeit der deutschen Sprache bekräftigte und willkürlich-phantasierend für das deutsche Territorium das Vorhandensein sprachlicher, kultureller und ethnischer Kontinuität postulierte. „Das Leben der europäischen Nationen beginnt mit der Bezeichnung ihrer Vorfahren“ und „jede Geburt bedeutet die Fortsetzung einer Abstammungslinie“.134

Dementsprechend hat die deutsche Geschichtsschreibung mit Hingabe einem Idol gehuldigt, das Marc Bloch kritisiert hat, dem des Ursprungs, eine „embryogene Obsession“135, die für Marc Bloch ihrem Wesen nach deutsch ist: „Welches Wort unserer Sprache wird je Kraft und Saft dieses trefflichen deutschen Präfixes Ur wiedergeben können: Urmensch, Urdichtung?“136

So hat sich in Deutschland eine Pseudowissenschaft herausgebildet, die zuerst der deutschen Nation, dann den anderen europäischen Nationen das „Instrumentarium zur nationalen Selbsterschaffung“ geliefert hat, allen voran die „wissenschaftliche Geschichtsschreibung“ und die indoeuropäische Philologie.137 Gearys Angriff auf die nationalistischen Geschichtsschreibungen des 19. Jahrhunderts wendet sich insbesondere gegen eine statische Geschichtsschreibung, von der er sagt:

Sie ist geradezu die Antithese zur Geschichte. Die Geschichte der europäischen Völker in der Spätantike und im frühen Mittelalter ist nicht die Geschichte eines Ur-Augenblicks, sondern die eines fortlaufenden Prozesses. Sie ist die Geschichte der politischen Aneignung und Manipulation von ererbten Bezeichnungen und Vorstellungen von Vergangenheiten, die dazu dienten, eine Gegenwart und eine Zukunft hervorzubringen. Es ist die Geschichte alter Wörter, mit denen neue Realitäten bezeichnet werden sollten.“138

Die nationalen Geschichtsschreibungen und die europäischen Nationalismen stimmten in Deutschland und Frankreich überein in ihrer Konstantenanthropologie und ihrem Essentialismus, die eine nationale Identität als unveränderliche, von keinem Wandel der Zeiten affizierte Wesenheit betrachten. Dieser Diskurs leugnet letztendlich alles historische Werden. Er kam zu seinem deutlichsten Ausdruck im Nationalsozialismus, der gegen den Begriff der Geschichte, verstanden als Veränderung, eine tiefe Abneigung sowie eine doppelte Angst empfand. Der nationenbezogene Diskurs des 19. Jahrhunderts und dann der Rassismus der Nationalsozialisten duldeten keinen Zweifel hinsichtlich des Ursprungs und keine Ungewissheit in Bezug auf die Zukunft, die für die angenommene Fortdauer der Rassensubstanz fürchten ließen.

Der Nationalsozialismus und die Antike

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