Читать книгу Mephisto - Jörg Gugel - Страница 12

8. Der Befreiungskampf

Оглавление

„Ja, mein Kind“, sagte Anne, heute ungefähr schon zum hundertsten Mal.

Heute war Zuhören angesagt. Und gestern und vorgestern und darüber hinaus. Seit ungefähr einer Woche plapperte ihre Tochter ihr die Ohren voll und es ging immer nur um ein Thema: Matt Sevans! Dadurch, dass Sammy seinen Namen so oft schon gesagt hatte, mochte Anne den Jungen jetzt schon nicht mehr leiden, obwohl sie ihn noch nie gesehen hatte.

„Und dieses Auge, es durchbohrt mich“, endete Sammy erschöpft und seufzte tief, war in ihren Gedanken entrückt und starrte zur Küchendecke. Anne verdrehte genervt die Augen.

Mutter und Tochter saßen zu Tisch und unterhielten sich über die Geschehnisse des Tages. Dabei war es völlig unwichtig, was Mami zu erzählen hatte – wäre es auch ein Banküberfall gewesen, den sie mit heldenhafter Selbstlosigkeit vereitelt hätte. Dementsprechend waren natürlich die Erlebnisse des Kindes so wichtig, dass jede Sekunde Verzögerung, sie zu erzählen, eine Katastrophe heraufbeschwören konnte. Lustigerweise wusste Anne mittlerweile genau, was ihr Töchterchen erzählen würde, bevor sie nur den Mund aufmachte, denn es war irgendwie immer das Gleiche. Matt Sevans hier, Matt Sevans da, Matt Sevans überall… und dies waren nur Erzählungen über schüchtern und zaghaft ausgetauschte Blicke und Fantasieerlebnisse, denn mit ihm gesprochen – jawoll, richtig mit ihm geredet! – hatte sie noch nicht.

„Und wann willst du das mal machen?“, fragte Anne, übrigens auch nicht zum ersten Mal.

„Morgen“, sagte Sammy und errötete leicht. Wieder so eine lustige Geschichte. Man konnte Sammy einstweilen als defekte Glühbirne bezeichnen. Und der Schalter für „AN“, das hieß bei ihr roter Kopf mit ausgedehnter Hitzestrahlung, war das Wort „Matt“. Den Schalter für „AUS“ hatte sie noch nicht gefunden. Und das Wort „MORGEN“ war zu einem geflügelten Wort geworden, denn kein „morgen“ ohne das nächste „morgen“ Das bedeutete: seit drei geschlagenen Tagen wartete Anne darauf, dass dieses „morgen“ endlich zu „heute“ wurde. Und ein Ende war nicht in Sicht.

„Aha, du willst ihn also morgen ansprechen! Weißt du auch schon, was du zu ihm sagen wirst?“, sagte sie und dachte dabei: „Weiß ich denn nicht, mit wem ich rede?“

„Nein“, antwortete Sammy unbekümmert. Anne nickte und dachte: „Doch, ich weiß es!“

Sammy hatte noch nie richtig einen Schwarm gehabt. Jungs in ihrem Alter waren ihr meist zu dumm und naiv, die schon etwas älteren waren widerlich, da überreif. Insgeheim dankte Anne Gott dafür, dass ihr wohl gehüteter Schatz in dieser Hinsicht extrem wählerisch war. Allerdings konnte ihre Tochter natürlich nicht bis in alle Ewigkeit auf den „Richtigen“ warten und musste sich optimalerweise für einen Mann entscheiden. Man konnte sich nicht vorstellen, wie sehr Anne sich gefreut hatte, als sie den Namen Matt Sevans das erste Mal gehört hatte. Da wusste sie aber nicht, dass dieser Name in diesem Haus laufen würde, wie eine, von einem kaputten Plattenspieler gespielte, genau in einer Rille feststeckende Schallplatte.

Sammy wunderte sich natürlich, was denn in ihre Mutter gefahren war. Als sie ihr zum ersten Mal von diesem anbetungswürdigen Jungen erzählte, hatte sie sich ehrlich gefreut – das hatte sie gespürt. Anne wollte alles von Matt wissen und durchbohrte Sammy mit unnötigen Fragen: wo er denn herkomme, wie er denn aussehe, ob er denn nett sei. Und schon bei Frage drei musste ihre Tochter gestehen, dass sie keine Ahnung hatte. Ab den nächsten zwei Tagen drängte sie Sammy schließlich dazu, doch mal mit diesem scheinbar so bezaubernden Jungen ins Gespräch zu kommen. Das wollte nicht fruchten, einfach, weil Töchterchen sich nicht zum Reden überwinden konnte. Sie erzählte ihr gerne von ihm, sein makelloses Aussehen, seine mysteriöse Erscheinung, alles was man zum Schwärmen brauchte. Anne sagte ihr, dass sie ihn kennen lernen sollte, bevor diese Gefühle verflogen waren, was natürlich zeigte, dass Eltern keine Ahnung haben. Matt würde für sie immer so ein unerreichbares Wesen bleiben.

Ab Tag drei war Anne allerdings nicht mehr so begeistert von dem Klang dieses Namens. Sie hörte nicht mehr zu, wenn Sammy von ihm sprach und sagte zu allem „Ja“ und „Amen“. Als dem Kind schließlich: „Du blöde Kuh, hör zu!“ entglitt, nickte ihre Mutter bloß anerkennend.

Aber Sammy musste sich endlich trauen, mit Matt zu sprechen. Das konnte doch nicht so schwer sein! Wie gerne fuhr sie den halbstarken Milchbubis in ihrer Klasse über den Mund! Jeder, der das Mädchen kannte, wusste den Ausspruch: „Klein, aber oho“ zu schätzen. Und jetzt, da ihr loses Mundwerk endlich zu etwas Nützlichem in ihrem Leben beitragen könnte, bekam sie dieses nicht auf? Wie war das möglich?

Der nächste Tag (also „morgen“) roch nach Blumen und frischer, warmer Luft, die ein perfektes Wochenende einleiten wollte. Es war Freitag und Sammy, nun immer pünktlich zum Schulbeginn anwesend, traf sich vor dem Gebäude mit ihren Freunden Mark und Mindy. Nachdem sich alle zur Begrüßung umarmt hatten, plauderten sie noch etwas über den peinlichen Sven mit seinem Topfschnitt, den neuen Liebesfilm, der von den Werbungen als Werk des wiedergeborenen William Shakespeare hoch gepriesen wurde und die freie Zeit, die es mit tausend und einer Attraktion zu füllen galt. Mindy ermahnte Sammy schließlich – auch nicht zum ersten Mal – endlich ein Gespräch mit dem Jungen zu führen, dem sie so verfallen war. Und als Matt höchstpersönlich an ihnen vorbeilief und Mindy ihrer Freundin sehr unsanft in die Rippen stieß, brüllte Sammy buchstäblich heraus: „HALLO, MATT!“, so dass es die ganze Schule hören konnte.

Fettnäpfchen!

Doch damit geschah endlich etwas.

Der Angeschrieene drehte sich leicht erschrocken um und betrachtete Sammy mit großen Augen – zumindest nahm sie das an, weil sie sein zweites Auge ja nicht sehen konnte, dass unter seinem schwarzen Haar verborgen war. Als er jedoch erkannte, dass er wohl keinen kreischenden Indianerstamm, welches ihn an den nächsten Marterpfahl binden wollte, auf sich zu rennen sah, sondern nur das kleine Mädchen mit puterrotem Gesicht, lächelte er freundlich: „Hallo! Wie geht´s?“

Sie musste sich sehr beherrschen, um nicht zu sehr zu stottern: „G-ganz gut! U-und dir?“

Matt schritt wieder zurück, auf die drei Freunde zu und blieb direkt vor der aufgeregten Kleinen stehen, die er um einen Kopf überragte: „Mir auch.“

Dann stand er da, sie saß und sie beide sahen sich an und wussten nichts mehr zu sagen.

„Woher kommst du eigentlich, Matt?“, fragte Sammy.

„Meenix“, antwortete er und erinnerte sie nicht daran, dass er dies an seinem ersten Tag schon gesagt hatte.

„War es schön dort?“

„Wie man´s nimmt“, lachte er: „Wenn man die tödliche Ruhe und Langeweile mag, dann sicher. Ich meine, es war schon ein schöner Ort, aber nicht viel los!“

Ob er bemerkte, dass Sammy ihn nur noch anstarrte und gar nicht mehr zuhörte, oder ob es ihm ganz plötzlich bewusst geworden war, jedenfalls fiel ihm auf: „Nun, wir müssen zum Unterricht, sonst kriegen wir Ärger mit dem werten Mr. Steller!“ Bei den letzten beiden Worten zog er eine leichte Grimasse, die Sammy schmunzeln ließ. Wie süß er doch war!

Als ob sie eine letzte Treppenstufe verpasst hätte, trottete sie neben ihren Freunden hinter Matt her, der leider nicht gewartet hatte, bis die drei sich von ihrem Platz bequemten.

„So ein Streber“, griente Mark: „Werter Mr. Steller, also wirklich!“

Dafür knuffte Mindy ihn an der Schulter: „Neidhammel!“

Sammy war überglücklich. Der erste Schritt war getan und wunderbarerweise lief es noch genauso gut weiter. Als ein wieder einmal völlig trostloser Schultag vorübergegangen war, kam Matt doch tatsächlich zu ihr herüber und fragte sie, ob sie ihm nicht die Stadt Merian zeigen wollte. Vor Verlegenheit brachte Sammy keinen Ton über die Lippen und stammelte („Äh-äh-äh“) nur vor sich hin, doch Mindy nahm sich ein Herz und antwortete für sie: „Ja, das macht sie gerne!“

Matt freute sich: „Schön, wann treffen wir uns?“ Als Antwort bekam er nur „Äh-äh-äh!“, woraufhin er etwas amüsiert hinzufügte, dass es wohl besser wäre, wenn Mark und Mindy auch mitkämen, um Sammys ihm unbekannte Sprache zu übersetzen.

Draußen vor der Schule stupste Mark seine beste Freundin an: „Reiß dich doch mal zusammen! Dein Gestammel wird auch bei ihm irgendwann den Reiz verlieren!“

„Reiz?“, fragte Mindy und lachte.

„Was ist daran schon wieder so komisch?“, fragte Mark völlig entgeistert.

Sammy und Mindy sahen sich an und begannen laut loszuprusten. Mark verdrehte mal wieder seine Augen und seufzte schwer. Manchmal hatte er den Eindruck, an ihm wäre ein trauriger Clown verloren gegangen.

Die drei Freunde traten ihren Heimweg an. Mit Matt würden sie sich um 16 Uhr am Great Meat, einem Café, treffen. Mark verabschiedete sich von seinen beiden Freundinnen, als sie vor einem in die Jahre gekommenen Haus mit einem jedoch hübsch gepflegten Garten standen.

Sie gingen ein Stück weiter – als plötzlich ein weiß schimmernder Wolf vor ihnen aus dem Gebüsch rannte und vor ihnen stehen blieb.

„Samantha Beth und Mindy Becarter?“, fragte er mit geisterhafter Stimme.

Sammy war erschrocken, als dieses Gebilde vor ihnen aufgetaucht war. Mindy jedoch hatte keinesfalls ihre Fasson verloren und antwortete: „Das sind wir!“

„Heute um 14 Uhr findet ein Treffen des geheimen Hexenordens der weißen Mächte statt! Ihr seid verpflichtet, euch zu diesem Termin einzufinden!“

Sammy stöhnte laut auf: „Oh nein, was wird dann mit Matt?“ Doch die Gestalt hörte ihre Bemerkung scheinbar nicht und löste sich in Luft aus.

„Mann, immer zum blödesten Zeitpunkt! Warum können die sich nicht mal darum scheren, was man persönlich gerade vorhat!“

Mindy sah ihre Freundin mitleidig an: „Ich weiß, Kleines. Dann verschieben wir das mit Matt eben auf morgen oder so!“

„Ich will mich aber heute mit ihm treffen“, trotzte Sammy.

„Ich will, ich will…“, meckerte Mindy. Dann schließlich beide: „Nein, meine Suppe ess´ ich nicht“, und lachten schließlich wieder.

Jaja, jung und unbekümmert. Was gäbe ich doch dafür, wieder so sein zu dürfen!

„Mensch, das ist doch bescheuert“, murrte Sammy, nachdem sie sich von dem Lachanfall erholt hatte: „Ich meine, wann krieg ich denn noch mal so eine Chance?“

Mindy versuchte sie zu trösten: „Ich denke, wenn Matt nicht völlig auf den Kopf gefallen ist, dann wird er es verstehen und…“

„Warte mal“, rief Sammy plötzlich: „Wie soll ich ihm bescheid geben? Ich weiß nicht wo er wohnt und eine Telefonnummer hab ich auch nicht von ihm!“

„Da mach dir mal keine Sorgen! Mark hat doch Zeit! Er braucht um vier einfach nur vor dem Café stehen, auf deinen Liebling warten und ihm alles sagen“, sagte Mindy.

„Erstens: Mark wird davon nicht begeistert sein! Und zweitens: Nenn ihn nicht >meinen Liebling!<“

Eine halbe Stunde später, um 13:30 Uhr, hatte Sammy ihrer Mutter mitgeteilt, dass sie heute bis auf ungewisse Zeit fortgehen würde – immerhin war es ja Freitag - und Mark angerufen, um ihn um ihren Gefallen zu bitten. Weder er noch Anne wussten, dass Sammy eine Hexe, besser gesagt eine weiße Hexe war und so musste sie sich immer wieder neue Ausreden einfallen lassen, wenn ein Ordenstreffen bevorstand. Wenn man auch sagen konnte, dass die magischen Wesen sehr unterschiedlich waren, einte sie alle zusammen, dass sie eine geheime Existenz bewahrten.

Sammy war noch nicht oft bei den Treffen der weißen Hexen gewesen. Sie war das jüngste Mitglied und hatte noch nicht viel gelernt, außer den Namen manch heilender Kräuter, ihre Anwendungen und ein paar Devensivzauber gegen Dämonen. Die Zeit anzuhalten hatte sie nicht zu lernen brauchen: das konnte sie schon, seit sie sich zu erinnern vermochte. Dies war, wie Mageira, ihre oberste Hexe, stets verkündete, eine Gabe Gottes.

Natürlich war die Aufregung groß, denn eine plötzliche, verpflichtende Einladung zu einem Ordenstreffen gab es ja nicht alle Tage und Sammy fragte sich, was an diesem Tag denn so alles passieren würde.

Denn zu dem Orden gehörten nicht nur alleine „Unterrichtsstunden“, in denen ihnen verschiedene Arten von Magie gezeigt wurden. Auch Geschichte der Hexen und anderer Zauberwesen war ein Teil, die ihnen aus alten Büchern vorgelesen wurde. Auch wichtige Themen wurden an den Tag gestellt, die jedermann, oder besser gesagt „jederfrau“ einbringen konnte, da die 700 weißen Hexen ausschließlich weiblich waren. Man berichtete oft von den bösen, schwarzen Hexen, von denen es nur 666 Exemplare gab. Daher war das Gute auf der Welt noch in der Überhand, wie Mageira ihnen regelmäßig erklärte.

Sammy wurde in der Gruppe der Hexen gut aufgenommen und war, wegen ihres kindlichen Äußerlichen und ihrer Frohnatur, bereits jetzt das Nesthäkchen, dass von den alten Weibern auch gerne einmal in die Wange gekniffen wurde (worüber sie sich gar nicht freute). Oder ihr wurde der ein oder andere Fehler schon einmal besser verziehen. Das war auch wichtig, denn Sammy – obwohl nicht dumm – hatte noch viel zu lernen. Sie war einfach noch unerfahren und wusste oft nicht, wie sie sich zu verhalten hatte, denn auch in dem Orden hatte man Etikette, die unbedingt eingehalten werden mussten.

Als die junge Hexe das Haus verließ, sah sie, dass Mindy schon wartete.

„Was glaubst du, was wir heute machen?“, fragte Sammy.

Mindy zuckte mit den Schultern: „Ich habe von Grevia gehört, dass wir heute so etwas wie ein neues Gesetz bekommen. Aber Genaueres wusste sie entweder nicht, oder sie wollte es mir nicht sagen!“

Mindy konnte sich mit Hilfe ihrer geistigen Kräfte mit einer der Ordenshüterin namens Grevia unterhalten. Diese erschien ihr als eine schneeweiße Katze, wann immer Mindy sie in Gedanken rief. Außerdem war Grevia Mindys Vertraute. Sie beide verband eine magische Bande, mit der sie sich stets in Verbindung halten konnten, egal wie weit sie voneinander entfernt waren. Dieser Umstand gab der noch recht jungen Mindy einen hohen Stellenwert im Orden, da Grevia eine überaus weise und geachtete Magierin war. Daher wusste sie meist, was im Orden vor sich ging und das war für Sammy sehr wichtig, da es ein Gesetz war, über den Stand der Dinge dort bescheid zu wissen. Wie sie das bewerkstelligen sollte war unwichtig. Aber zum Glück hatte sie ja Mindy.

Als sie ein paar Minuten gewartet hatten, stockte plötzlich die Zeit und es erschien erneut der Geisterwolf, der ihnen die Mitteilung des Treffens überbracht hatte. Sammy und Mindy sahen sich kurz an, nickten und gingen beide auf dieses Wesen zu. Als sie es schließlich berührten, waren sie ohne jedes weitere Zeichen verschwunden.

Nur wenige Sekunden danach standen sie in der Vorhalle des geheimen Hexenordens der weißen Mächte. Vor ihnen stand eine verhutzelte Frau mit einem Notizblock und einem Kohlestift: „Samantha Beth und Mindy Becarter anwesend! Guten Tag, ihr Süßen“, dabei lächelte sie und offenbarte ein paar Zahnlücken. Grevia war schon eine alte Hexe, hatte einen leichten Buckel und glänzend weißes Haar, das ihr in Locken um den Kopf wucherte. Ihr Gesicht war faltig, aber sehr freundlich, wie die nette Dame von nebenan. Doch derjenige, der sich dachte, dass die arme, alte Frau sich nicht zu wehren wisse, der wurde eines besseren belehrt, wenn sie aus dem Nichts bösartige Ranken aus dem Boden wachsen ließ, die ihr Opfer fest packten und erst wieder losließen, wenn Grevia ihnen dies befahl.

Doch heute hatte sie keinen Grund, die beiden Mädchen mit ihren Schlingpflanzen zu bedrohen und ließ sie durch das große Eichenholztor, das etwa doppelt so hoch war, wie Sammy selbst.

Die kleine Hexe ging voraus, gefolgt von ihrer besten Freundin und sah sich in einer herrlichen Halle wieder, deren Boden mit warmen Parkett besetzt war und von deren Decke große, gläserne Kronleuchter hingen, die den weiten Raum in ihr sanftes Licht aus Gold hüllte. Überall waren Sitzgelegenheiten, wie zum Beispiel ein brauner, gemütlicher Chintz-Sessel und ein dazugehöriges Sofa daneben um einen runden kleinen Marmortisch mit einer gehäkelten Tischdecke obenauf. Die Wände waren weinrot tapeziert und hie und da mit einem Portrait einer ehemaligen weißen, ehrwürdigen Hexe beschmückt. Die breiten Fenster offenbarten ihnen eine Landschaft, die es auf Erden nicht gab. Das Herrenhaus, indem sie sich befanden, hieß Auren-Ville und stand auf einem Vorsprung eines Berges, der über weite Felder hinab sah. Fast am Horizont endeten jedoch die reich mit Nahrung bestellten Äcker und offenbarten, dass sich die Welt dort scheinbar in Nichts auflöste, denn Sterne und Himmelsgefilde zeigten sich dahinter, drei Monde und zugleich auch die Sonne auf der anderen Seite des Firmaments. Man hatte also die Erde verlassen, um sich mit den Schwestern des Ordens zu verabreden. Wo dieser Ort war, das wusste nur die oberste Hexe, Mageira, die es von ihrer Mutter und die wiederum von der ihren erfahren hatte. Allen anderen war der Platz verborgen und nur dann auffindbar, wenn sie in das Gebäude eingeladen wurden. Selbst die Schwestern, die sich fast immer in diesem Ort befanden – wie Grevia – , machten da keine Ausnahme.

Nun befanden sich um die 700 Hexen in einem Raum und warteten, dass das Treffen beginnen würde. Das Gedränge war trotz des voluminösen Raumes groß, aber alle waren erfreut darüber, dass sie sich wieder sehen konnten und erzählten von ihren Erlebnissen und Neuigkeiten, tauschten Erfahrungen von Flüchen und Zaubern aus und umarmten einander. Sammy und Mindy hatten ein paar ihrer Freundinnen gefunden, Alexa aus Glasgow und Ladive aus Dijon. Alexa war etwas fülliger, hatte rotes Haar und trübgrüne Augen. Sie schien immer zu schmollen und war auch meist pessimistisch gestimmt. Ladive war sehr zartgliedrig, bewegte sich geradezu graziös und war etwas eingebildet. Sie hatte lange, glatte, blonde Haare, die ihr vorne etwas in das hübsche Gesicht fielen.

„´Allo, meine Lieben“, begrüßte sie Sammy und Mindy herzlich und küsste ihnen auf die Wangen.

„Na, gibt es was neues bei euch“, fragte Sammy.

„Niescht der Rede wert. Man erssählt siesch nur, dass Vialé seit einiger Sseit niescht mehr gesehen wurde. Iesch ´offe, ihr ist nieschts passiert!“

Alexa verzog eine Miene. Sie sprach mit schleppender Stimme: „ich denke mal, dass sie entführt wurde! Wie würdet ihr euch sonst erklären, dass sie einfach so spurlos verschwindet?“

„Ach ja“, lachte Mindy: „Optimistisch wie immer, unsere Alexa!“

Doch viel Zeit zum Reden hatten sie nicht mehr. Die Doppeltür, die in einen nächsten, noch größeren Raum führte, öffnete sich knarrend und Mageira, eine alternde, jedoch trotzdem voller Anmut scheinende Frau mit langen Schals um ihren Hals und mit edlen Tüchern, Ringen und Spangen beschmückt, trat in den Saal, der augenblicklich mucksmäuschenstill wurde.

„Findet euch nun in unsere heilige Halle ein.“ Danach drehte sie sich wieder um und ging mit erhabenen Schritten und gestreckter Haltung wieder hinein. Die anderen Frauen folgten ihr gespannt.

Sammy bewunderte diesen Raum. Er war sehr schön und mystisch. Keine Fenster brachten das Licht der Sonne und der drei Monde und Sterne hinein, dafür aber tausende von Lichtkugeln, die an den Wänden hingen. Die Decke war nicht zu sehen, dafür aber tausende von kleinen Lichtern, von denen niemand wusste, woher sie kamen oder was sie waren. Stühle waren in Reihen aufgestellt und allesamt auf eine Art Bühne gerichtet, die so breit wie der Raum selbst war. Auf ihr stand ein kleines Podest, von wo man in die Menge sprach und von jedem gesehen und gehört wurde. Dies war ein Teil der Magie dieses Ortes, denn auch das leiseste Flüstern vorne war noch in den entferntesten Ecken zu hören. Das Beeindruckendste aber waren die Wände selbst, die von innen her schwach in Mustern leuchteten und stetig ihre Farben wechselten.

Mageira stand nun vorne auf dem Podest, von dem zu den anderen sprechen würde.

„Meine Schwestern“, eröffnete sie mit ernster, klarer Stimme: „Ich freue mich, euch in bester Gesundheit und großer Zahl begrüßen zu können. Ich heiße euch hiermit herzlich willkommen und eröffne das 3723. Ordenstreffen der weißen Mächte!“

Einzelner Applaus erschallte durch den Raum.

„Heute möchte ich euch über den Gefahren der Unterwelt berichten. Denn obwohl in aller Augen der ahnungslosen Menschen ohne jegliche Kenntnis über die Welt der Magie kein Zeichen des Übernatürlichen erscheint, sehen die Obersten des Ordens die wahren Schrecken unter uns. Sie sind befähigt, schwarzmagische Kreaturen zu erkennen und zu bekämpfen. Daher weilen diese für gewöhnlich nicht in der Oberwelt.“

Bei diesen Worten bekam Sammy eine Gänsehaut. Sie suchte den Blick ihrer Freundinnen und entdeckte darin die Spiegelung ihrer eigenen Ehrfurcht vor den mächtigen Hexen.

„Doch es passiert hin und wieder, dass ein Funke, ein Überbleibsel längst erloschener Flammen, den Herd des Brandes wieder entfachen zu sucht. Wieder und wieder versuchen Dämonen ihrem grausamen Reich zu entfliehen und die Menschen vom Antlitz der Welt zu vertreiben. Allerdings werden wir stets über derlei Vorfälle wachen und verhindern, dass diese Monster ihre Pläne je verwirklichen können. Manchmal“, Mageiras Stimme wurde nun leiser und ihr Gesicht wirkte betrübt: „kann Verteidigung bedeuten, dass ein Angriff zuvor gefruchtet hat. Ich muss euch leider verkünden, dass eine Schwester aus unserer Mitte – Vialé Phelps – seit einiger Zeit unauffindbar ist. Wir versandten unlängst Suchtrupps, um eine Fährte zu ihr zu finden. Doch ohne eine geringsten Spur, die uns zu ihr führen könnte, befürchte ich, werden wir sie nur mit unverschämt viel Glück lebend finden können!“

Es entstand eine bestürzte Pause, in der jedes Gesicht von Sorge und Ungläubigkeit gezeichnet war. Vialé war eine junge Hexe, um die dreißig Jahre alt. Klug und mutig bekämpfte sie seit ihrer Ernennung zu einer Hexe gegen Ungerechtigkeit und unnötigen Zwist. Sie war beliebt, auch wenn sie manch seltsame Wesenszüge trug. Ein Gespräch mit ihr reichte aus, um zu wissen, dass Vialé Phelps den Zugang zu einer Gedankenwelt hatte, den sonst niemand beschreiten konnte. Doch fern von ihren teils abstrusen Fantasien fand jede Schwester in ihr eine liebevolle Freundin.

Doch jetzt war sie fort!

„Wo könnte sie nur sein?“, meldete Grevia sich zu Wort.

„Das wissen wir nicht. Wir haben bereits ihr Haus durchsucht, als wir merkten, dass sie kein Lebenszeichen mehr von sich gab. Darin entdeckten wir ein Szenario, das auf Kampfhandlungen hinweist. Stühle und Tische waren umgeworfen, Geschirr und Besteck lag zerbrochen auf dem Boden zerstreut! Sogar Türen waren aus ihren Angeln gehoben. Und ich spürte eine schwache, schon länger vergangene Aura von dunkler Magie in diesen Räumen! Daher befürchte ich, dass unsere geliebte Schwester Opfer von Dämonen wurde!“

Auf diese Offenbarung hin schlugen sich viele der Frauen die Hände vor dem Mund und ächzten vor Erschütterung!

„Wie ist das möglich?“, ertönte es aus den Reihen. Nur Alexa konnte es sich nicht verkneifen, Sammy und Mindy mit einem trotzigen Blick zu nerven, der wohl sagen wollte: „Habe ich es nicht gesagt?“

„Meine Schwestern“, rief Mageira laut und hob ihre Hände. Daraufhin beruhigte sich die Menge allmählich wieder. Die Oberste fuhr fort: „Ich kann mir vorstellen, wie euch zumute ist, angesichts dieser schrecklichen Vorstellung! Ich fühle mit euch und bete inständig darum, dass ich mich irren möge, aber“, sie schlug mit der einen Handrücken in die andere Handfläche: „wir dürfen nicht zulassen, dass uns die Trauer übermannt! Wir werden weiterhin alles Erdenkliche unternehmen, um herauszufinden, was mit unser aller Freundin geschehen ist! Bis dahin habe ich euch auch eine frohe Botschaft zu verkünden!“

Sofort wurde es wieder still im Saal, der unaufhörlich in allen Farben des Regenbogens leuchtete und Mageiras Worte mit einer hellen Goldfarbe untermalte. Jeder Blick war erwartungsvoll auf die Oberste gerichtet.

„Ich habe ungefähr vor einem Monat einen Mann getroffen, der mir eine Möglichkeit eröffnete, wie wir den dunklen Mächten endgültig Einhalt gebieten können. Seinen Namen wollte er nicht preisgeben. Aber ich spürte sofort, dass seine Worte der Aufrichtigkeit entsprangen. Durch ihn hat unser Feind ein Gesicht bekommen – in Form der dunklen, Flüche verbreitenden, schwarzen Hexen!“

Plötzlich war der Raum erfüllt von erstaunten Aufschreien und zischelndem Gemurmel.

„Die schwarzen Hexen?“, flüsterte man aufgeregt, andere wiederum zweifelnd. Es begannen wilde Spekulationen und hitzige Debatten unter den Ordensschwestern.

Mageira erhob ihre kraftvolle Stimme: „Ruhe!“ Daraufhin wandte sich jeder Kopf wieder gen Podest. Doch noch immer war hier und dort emsiges Getuschel zu hören.

„Ich möchte heute ein Gesetz verabschieden! Hiermit erkläre ich die schwarzen Hexen zu unseren erklärten Feinden – und damit als vogelfrei! Sie bringen Unheil über die Erde und tragen in sich die Macht des gefallenen Engels Luzifer! Satan, der oberste der unheilvollen Höllendämonen, muss vernichtet werden! Das ist unser Befreiungsgebot! Der Befreiungskampf auf den wir seit Jahrzehnten warteten – jetzt bekommen wir unsere Chance, alles Übel der Welt zu vernichten! In eine sorglose Zukunft zu blicken! Schwester“, rief sie ergriffen: „War es nicht das, was wir uns seit jeher erhofften?!“

Die Menge bejahte und klatschte begeistert in ihre Hände, während Mageira weiterhin ihr Feuer der Leidenschaft entfachte: „Haben wir nicht von einer Welt geträumt, die frei jeder Sünde ist? Wollen wir unsere Familien nicht vor dem Bösen bewahren?!“

Der Beifall wurde laut, kräftiger und ungestüm!

„Dann ist es jetzt Zeit zu handeln! Jetzt wird die Dunkelheit besiegt und eine neue Zeit der Erlösung wird die Welt heimsuchen und das ewige Paradies auf Erden wieder erblühen! Wer folgt mir?!“

Dem Aufruf folgte ein regelrechter Schrei der Begeisterung! Jedwede Hexe war von dem Traum übermannt worden, dem Unheil der Welt endlich das Handwerk zu legen! Es ertönten wilde Schreie.

„Befreiung“, wurde immer und immer wieder gerufen und sowohl Sammy und Mindy, als auch ihre Freundinnen stimmten mit grimmigen Mienen der Entschlossenheit und heißer Begeisterung in den Schlachtruf mit ein!

„Schwarze Hexen: ihr seit tot! Dämonen: ihr werdet vernichtet! Teufel: wir werden euch stürzen! Ihr alle seid dem Untergang geweiht!“

Während die jubelnden Hexen ihre Euphorie feierten, öffnete sie ihre trüben Augen im fahlen Lichte einer einsamen Kerze. Sie hörte die regelmäßig wiederkehrenden Kampfgesänge von unten und seufzte schwer. Ihre Kraft war nahezu verbraucht, doch ihre Gedanken waren bitter geworden.

„Ihr Narren“, sagte sie mit keuchender Stimme: „ihr ertrinkt in eurem Übermut und süßem Wein! Ich habe bereits einen Kampf verloren, dies bereits, seit er begonnen hat!“

Sie grummelte und drehte sich in ihrem Bett auf die Seite. Mit geschlossenen Lidern und zerfurchtem Gesicht brummte sie: „Feiert euren Sieg, der noch gar nicht errungen ist!“

Das taten die Hexen auch, bis zum Abend und tief in die Nacht! Doch dabei vergaßen sie ihre hilfebedürftigen Freunde, sowie die grausame Macht ihrer Feinde.

Mephisto

Подняться наверх