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Erste Werke: Die Fibel und Rosen und Disteln

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Die Fibel enthält Gedichte aus den Jahren 1886 bis 1889, also noch aus der Gymnasialzeit und dem von langen Reisen ausgefüllten Jahr nach der Ablegung des Abiturs im März 1888. Das Zeugnis der Reife enthielt im Übrigen die Noten ‚gut‘ (Religion, Französisch), ‚im ganzen gut‘ (Deutsch, Geschichte, Geographie) und ‚genügend‘ (Latein, Griechisch, Mathematik, Naturkunde). Die Fibel beginnt mit einem gleichnamigen zweiteiligen Zyklus, darauf folgen Übertragungen sowie die Zyklen Von einer Reise und Zeichnungen in Grau und Legenden. Gewidmet hat er Die Fibel seinen Eltern „als schwachen Dankes-Abtrag“, mehrere Gedichte zeichnen das Bild einer idyllischen Kindheit, wie etwa die bewusst naiv gehaltene Erinnerung.

Unter der Textsorte ‚Fibel‘ versteht man generell ein einfaches, häufig mit Bildern versehenes Kinderbuch zum Lesen- und Schreibenlernen. George inszeniert die Gattung, indem er sich selbst in einen Schüler im Fach der Dichtung zurückverwandelt. Der Charakter der Fibel als eines Übungsbuchs schlägt sich darin nieder, dass George sich hier in der Aneignung gängiger lyrischer Formen erprobt. So findet man Sonette, Balladen und Gedichte im Volkslied- und Gebetston. Außerdem übt der junge Dichter die gängigen metrischen und Strophenformen ein, etwa Ritornelle (SW I, 25, 28), sowie die Anwendung rhetorischer Mittel.

Die ihm wohlgesonnenen Leser bittet George um ein mildes Urteil für die Veröffentlichung dieser „frühen schöpfungen“, die dem Verfasser „nur getrübte freude“ bereiten. Größeres Verständnis setzt er bei den Dichtern voraus, die „in diesen zarten erstlingen […] die ungestalten puppen aus denen später die falter leuchtender gesänge fliegen“ zu erkennen vermögen.

Hier geht die captatio benevolentiae über ihren ursprünglichen Status als Stilfigur hinaus. Selbstbewusst definiert George die Fibel als Ort des Begreifens der eigenen Dichtung in ihren Anfängen, die somit einen vorausweisenden Wert enthält. Zudem reflektieren die Gedichte der Fibel ihr ‚Nichtgelingen‘ und beklagen ihre Unvollkommenheit. Das lyrische Ich ringt mit dem Zwiespalt zwischen poetisch-enthusiastischer Stimmung und der zähneknirschenden Frustration „ob des eignen unvermögens“ (SW I, 18).

Manchmal durchzuckt es mich wie heller strahl

Es treibt mich an zu streben und zu schaffen

Dann ängstigt mich der hindernisse zahl

Und alle kräfte fühle ich erschlaffen.

(SW I, 18)

Trotz der Ernüchterung bleibt das lyrische Ich immer von seiner dichterischen Entwicklungsfähigkeit überzeugt, wenn es auch den Grund des Scheiterns noch nicht klar benennen kann. Das mythologische Modell der Ikarus-Figur nutzt der Sprecher ebenfalls zu einer appellativen Selbstermutigung: „in wilde meereswogen/Sankst du hinab – nun hilf dir Ikarus!“ (SW I, 41)

Wenn man bedenkt, dass George das Erscheinen der Fibel bewusst in die unmittelbare zeitliche Nähe zum Teppich des Lebens rücken wollte, ergibt sich zwischen den beiden Eröffnungsgedichten ein aufschlussreicher Bezug. Der Beginn des ersten Fibel-Gedichts „Ich wandelte auf öden düstren bahnen“ (SW I, 13) liest sich dann als Parallele zur ersten Vorspiel-Zeile „Ich forschte bleichen eifers nach dem horte“ (SW V, 10), insofern beide ein Fehlgehen und ein Ungenügen des Sprechers thematisieren. Das Eröffnungsgedicht der Fibel ist mit seiner Sonettform und Thematik zugleich ein Echo auf Georges Beschäftigung mit Petrarcas Canzoniere, aus dem er Abschriften und Übertragungen angefertigt hat.

Ich wandelte auf öden düstren bahnen

Und planlos floss dahin mein leben.

In meinem herzen war kein hohes streben

Es schien mich nichts an schönheit zu gemahnen.

Da plötzlich sah ich – · wer sollt es ahnen –

Ein himmelsbild an mir vorüberschweben ‥

In meinem innern fühlte ich ein beben

Und Liebe pflanzte ihre siegesfahnen.

Ist mir auch täuschung nur und schmerz geblieben

Und kann ich Dich von glorienschein umwoben

Anbetend und begeistert still nur lieben:

So muss ich doch das gütige schicksal loben

Das mich durch Deine hand zur tat getrieben

Und zu den sternen mich emporgehoben.

(SW I, 13)

Dem Mangel an Sinn für Schönheit, dessen sich das lyrische Ich in der Fibel anklagt, wird zwar bereits hier durch das ‚vorüberschwebende Himmelsbild‘ abgeholfen, aber ihre plastische Verkörperung erhält diese Schönheit erst im ersten Vorspiel-Gedicht in der Gestalt des Blumen bringenden Engels. So verhält sich dieses zum ersten Fibel-Gedicht wie die Vollendung zur Verkündung. Zudem ist die Erscheinung natürlich auch die Präfiguration der „herrin“ (SW II, 10) aus dem Gedicht Weihe aus den 1890 erschienenen Hymnen, mit dem George sein Werk programmatisch begann. Entscheidend ist aber, dass bereits in diesem Gedicht aus der Fibel-Stufe die wenn auch nur momenthafte Begegnung mit einer Art Muse dem lyrischen Ich geradezu schockhaft die Liebe zur Schönheit einpflanzt. In ihrem Zeichen wird von nun an sein Leben stehen, sie wird es anbeten, für sie sich begeistern und leiden.

Einen erstaunlich prospektiven Charakter besitzt das erste Fibel-Gedicht auch durch seine Schlussverse. Indem sie davon sprechen, dass die erweckte Liebe zur Schönheit das Ich ‚zur Tat treibt‘ und ‚zu den Sternen emporhebt‘, führt es bereits Schlüsselbegriffe ein, die seit dem Teppich des Lebens im gedanklichen und bildsprachlichen Zentrum von Georges Werk stehen werden (und auf die zurückzukommen sein wird). In diesem Zusammenhang mag auf eine weitere Bedeutung des Wortes ‚Fibel‘ hingewiesen werden. Es bezeichnet ja auch die Spange, deren Name sich von dem lateinischen Wort ‚fibula‘ ableitet und die seit der frühen Bronzezeit zum Zusammenhalten eines Kleidungsstücks diente. Dabei verbanden sich ihre praktische und schmückende Funktion. Wie eine solche Fibel hält Die Fibel wesentliche Elemente des Georgeschen Werks zusammen.

Unter stilistischem Gesichtspunkt fallen in der Fibel Gedichte wie Der See und Gelbe Rose auf, die in ihrem malerischen Charakter auf symbolistische Techniken vorausweisen. Von dem letzteren existierte zuerst eine Version in Georges Kunstsprache lingua romana. Die Übersetzung der in der lingua romana geschriebenen Gedichte ins Deutsche und die anderen in der Fibel veröffentlichten deutschen Gedichte zeigen indes, dass George in dieser Zeit zwischen dem Kampf um eine poetische Bewältigung des Deutschen und einer Flucht vor den damit verbundenen Schwierigkeiten in eine künstliche Literatursprache hin und her schwankte. Tatsächlich dokumentieren etliche Gedichte der Fibel, dass George auf dieser frühen Entwicklungsstufe seines dichterischen Vermögens noch über kein eigenständiges Ausdruckssystem verfügte. Zur Illustration zitiere ich das Gedicht Die Najade:

Unter hohen waldesbäumen

Wo ein klarer quell entspriesst

Sizt ein jüngling dem in träumen

Leicht der tag vorüberfliesst.

Da tritt aus dem kühlen bade

Plötzlich vor der grotte rand

Lieblich schön die quell-najade

In hellschimmerndem gewand.

Sie bringt schnell ihn zum erwachen

Streuet blumen vor ihm hin

Und mit einem leisen lachen

Ging sie schnell wie sie erschien.

Er kniet hin mit offnen armen

Fleht nach ihr von wahn betört

Doch die nixe ohn erbarmen Nicht auf seine stimme hört.

Nur das wasser schien zu lauschen

Auf die bitten die er sprach

Und aus seinem wellenrauschen

Klang ein leises kichern nach.

Oft noch wandelt er zur quelle

Manchmal noch sah er sein glück

Doch ein bild der flüchtigen welle

Wich es eilig stets zurück.

Da erfasst ihn ungemessen

Wilder schmerz ‥ er härmt sich ab

Nimmer kann er sie vergessen

Und der quell ward ihm zum grab.

(SW I, 14)

Das Gedicht ahmt noch sowohl in der Motivik, in der Wortwahl wie auch im leicht balladesken Tonfall sichtlich romantische Muster nach. Freilich weist es mit seinem Bild von den hingeschütteten Blumen auch bereits auf ein stehendes Motiv in Georges Lyrik voraus, das in bekannten Gedichten aus Algabal, aus dem Jahr der Seele oder dem Teppich des Lebens wiederkehren wird.

Das Gedicht Die Najade führt noch einmal in Georges Schulzeit zurück. Es gehört nämlich zu der Gruppe von Texten, die George in der von ihm herausgegebenen Schülerzeitschrift mit dem schönen Namen Rosen und Disteln veröffentlicht hatte. Carl Rouge, ein Schulkamerad, berichtet, dass George – trotz seiner Außenseiterstellung – sehr bald bemüht war, eine eigene Gemeinschaft um sich zu sammeln, da er „als eine ausgesprochene Führernatur […] nur als Haupt einer von ihm selbst geschaffenen Vereinigung zu denken war.“3 Bei den Zusammenkünften dieses Kreises wurden selbstverfasste Werke vorgetragen, so dass bald die Idee entstand, diese literarische Aktivität nach außen hin sichtbar zu machen. Die Schüler stellten die eigenen Produkte zu einem in Handschrift vervielfältigten Heft mit dem Titel Rosen und Disteln. Illustrierte Zeitschrift zusammen, deren erste Nummer das Datum 20. Juni 1887 trägt. Georges Beiträge sind mit dem Pseudonym Ed. Delorme gezeichnet. Mit dem anonymen programmatischen Einleitungsgedicht Rosen und Disteln (an unsre Mitarbeiter) wird die für jeden zweiten Montag vorgesehene Zeitschrift eröffnet. Offenbar ist es jedoch bei dieser einen Nummer geblieben.

Mit dem Zusatz „an unsre Mitarbeiter“ spricht das Titelgedicht nicht ein rezeptives Publikum an, sondern zielt – wie später auch Georges Zeitschrift Blätter für die Kunst – vor allem auf den Kreis ihrer Beiträger und reklamiert so einen exklusiven Charakter. Die drei Strophen des Gedichts umreißen Zweck und Grundlage des Blattes. Man will der „Dichtung erste ‚Rosen‘“ sammeln und gegen „alles Thörichte“ die Disteln des „Witzes und des Spottes“ richten. Die letzte Strophe enthält ein jugendlich-idealistisches Bekenntnis zu einem dauernden „Freundschaftsband“, in dem man auch die Voraussetzung für die gemeinsame Arbeit an der Zeitschrift sieht. In dem auf der zweiten Seite folgenden Vorwort An die Leser wird das Programm genauer gefasst. Da der Verfasser dieses mit ‚Die Redaktion‘ gezeichneten Vorworts mit aller Wahrscheinlichkeit George gewesen ist, will ich den ersten ‚dichtungstheoretischen‘ Abschnitt dieses Textes zitieren: „Die Zeitschrift, die mit dem heutigen Tage ins Leben tritt, spricht ihren Zweck in ihrem Titel aus. Artikel religiösen und politischen Inhalts streng ausscheidend, wird sie in Form von Romanen, Novellen, Aufsätzen (verschiedenen Inhalts) epischen lyrischen und dramatischen Gedichten ihre Leser zu unterhalten und zu belehren suchen. Um auch dem Geschmack an Witz und Humor Rechnung zu tragen, werden wir in einem besonderen Teil Anekdoten und illustrierte Witze veröffentlichen.“ Man merkt der Formulierung des letzten Satzes an, dass der Verfasser hier eher einer typischen Erwartungshaltung gegenüber einer Schülerzeitschrift Konzessionen macht, als aus eigener Überzeugung spricht. Allerdings hat George Edith Landmann gegenüber geäußert, „seine ersten Schriften seien satirisch gewesen“ (EL 48). Satirische Tendenzen unterscheiden die Rosen und Disteln also noch nicht von anderen Schülerzeitschriften. Die Reserve gegenüber gesellschaftspolitischen Themen ist vermutlich vom Rechtsstatus damaliger Schülerzeitschriften mitbedingt. Jedenfalls wäre es spekulativ, hierin schon eine Vorwegnahme des poetologischen Selbstverständnisses zu sehen, dem George bei den Symbolisten in Paris begegnete und das sich dann in den Merksprüchen der Blätter für die Kunst findet. Rosen und Disteln bildet zu dieser Zeitschrift aber sicher strukturell und organisatorisch eine Vorstufe. Mit der Schülerzeitschrift macht sich Georges Streben nach einem literarischen Organ, durch das sich das künstlerische Engagement eines Freundeskreises aussprechen kann, erstmals geltend.

Im Zeitraum zwischen dem Erscheinen von Rosen und Disteln und der Gründung der Blätter für die Kunst trägt sich George ständig mit Zeitschriftenplänen und Ideen zur Organisierung eines Kreises von Freunden oder zumindest künstlerisch gleichgesinnten Menschen, die seine literarischen Vorhaben stützen könnten. Es ist höchst interessant, dass George unmittelbar nach dem Experiment mit den Rosen und Disteln – wahrscheinlich in den Sommerferien seines letzten Schuljahres – den Versuch unternommen zu haben scheint, den lockeren Beiträgerkreis der Zeitschrift in einen „Jugendbund“ zu überführen. Jedenfalls kommt George auf dieses Vorhaben in einem Brief an Arthur Stahl vom 16. Juli 1888 zu sprechen, wo es heißt: „Es fällt mir grade ein, dass es jetzt ein jahr ist, da ich meine agitationsreise durch das grossherzogtum machte, und dass der projektierte Jugendbund ‚in die brüche id est teilweise in die brüche‘ ging.“4 Georges Schulabschluss im März 1888 bedeutete daher zunächst kein Ende des Kreises der Mitarbeiter an Rosen und Disteln. Schon Ostern lud er zu einem ‚Dichtercongress‘ nach Bingen ein. Carl Rouge lieferte in einem Brief an Arthur Stahl eine lebendige Schilderung des ‚Dichtercongresses‘, der Anfang April in Bingen stattgefunden hatte. „Die sprühenden Funken des Witzes flogen vereint mit ästhetischen u. philosophischen Bonmots durch die mit Hieroglyphen bedeckte Bude. Damals schüttelten wir philosophische Ideen aus dem Ärmel, u. Kunst und Leben zogen vereint durch den – im eigentlichen Sinne des Wortes – espritvollen Raum. Damals gründete sich eigentlich unsere Freundschaft, denn damals brachte jeder seine ganzen Geistesschätze ans Licht, u. man erkannte, was man sich sein konnte. Dieser Jahrestag unserer Verbrüderung wird hoffentlich auch in Zukunft wieder einmal uns vereint sehen.“5

Rouge spricht in diesem Brief von drei anwesenden ‚Dichtern‘, es ist denkbar, dass der dritte der Mitschüler Georg Böttcher war, der unter dem Pseudonym G. Tonnelier als einziger neben George, Rouge und Stahl zu Rosen und Disteln beigetragen hatte. Eigentlich hatte auch Arthur Stahl teilnehmen sollen, er entzog sich der Einladung aber, da er sofort nach dem Abitur seinen Militärdienst in Gießen angetreten hatte. George war ziemlich verschnupft ob dieser Absage, zumal er Stahl gerade erst durch die Zusendung einer Fotografie von sich quasi gelockt hatte. Das Versenden oder die Übergabe einer Fotografie, die ihn selbst zeigte, praktizierte George von Anfang an als Akt der Auszeichnung, der den Empfänger ihm auf besondere Weise verbunden machen sollte. Das zeigt, welch hohen Stellenwert George von Beginn an der Fotografie beimaß und wie sehr er von ihrer symbolischen Wirkkraft überzeugt war. Denn natürlich sollte der Empfänger die Fotografie mit seinem Konterfei nicht in ein Fotoalbum einkleben oder gar in einer Schublade verwahren. Georges Erwartung war es vielmehr, dass sie an sichtbarer Stelle auf dem Schreibtisch oder an einer Wand des Arbeitszimmers platziert würde. Darin sollte sich die persönliche Verbundenheit manifestieren, nicht im Sinne einer ‚Big Brother‘-Dauerpräsenz, sondern als Zeichen von Freundschaft und treuem Gedenken. Georges Wut darüber, dass Stahl trotz dieser Ehre nicht nach Bingen zum ‚Dichtercongress‘ kam, entlud sich in einem dreiseitigen auf Latein abgefassten Brief unter dem Datum ‚25 ad diem essendi congressi‘.

In London und einige Monate später war der Zorn wieder verflogen, und außerdem konnte George auf Stahls weitere Bereitschaft zur Mitwirkung an gemeinsamen dichterischen Aktivitäten nicht verzichten, solange sich keine Alternativen auftaten. So teilte er ihm in dem Brief vom Juli aus London mit, dass er für Herbst eine weitere Zusammenkunft plane, auf der inzwischen entstandene eigene Dichtungen zur Begutachtung vorgelegt werden sollten. Dieser Plan zerschlug sich aber.

Stefan George

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