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Das Vaterunser

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Jeder Mensch trägt eine seelische Verwundung in sich, die ihn den Schmerz spüren lässt, dass er abgenabelt worden ist: zuerst von der Mutter und im übertragenen Sinne dann auch von Gott – oder der Schöpfung, der Natur, vom Ganzen, wenn Sie so wollen. Durch die hochgradige Privatheit des Einzelnen in unserer Kultur sowieso. Und deshalb hat jeder Mensch auch eine gewisse Sehnsucht, die er nie und nimmer stillen kann, egal was er tut. Ob er verheiratet ist oder nicht, ob er Kinder hat oder nicht, ob er in einem Verein Fußball spielt, in einer Band Musik macht oder in einen Kochclub geht, ganz egal, er kann damit diese Sehnsucht nicht stillen. Sie ist ein Zeichen seines Willens, dazuzugehören, und sie verschwindet nie. Da bleibt immer etwas Unvollständiges in seinem Leben zurück. Wie ein Defekt, ein Mangel, das ist seine heilige Wunde. Die Narbe einer heiligen Sehnsucht. Und je älter der Mensch wird, umso mehr wird sie zum Kompass bei seinen Entscheidungen und auf dem Weg. Weiße Kieselsteine auf dem Weg nach Hause. Sehnsucht ist eine heilige Krankheit. Genau gesehen, übertragen sich daraus auch alle anderen Süchte, egal welche. Und das zugrunde liegende Bedürfnis ist immer die Ganzheit, endlich wieder ganz zu werden. Die Pietisten meiner Heimat nannten es himmlisches Heimweh. Und die Physiker sprechen davon, dass der Teil immer dem Ganzen zugewandt bleibt.

Das werden die Jünger Jesu nicht anders empfunden haben. Sie hatten auch eine Ahnung von dem Mittel, das diese Sehnsucht heilen konnte. Es brauchte nur einer zu kommen, der sagte: „Du bist nicht allein. Du bist besonders, einzigartig. Du gehörst zu mir.“

Und heute, in unserer globalen Gesellschaft: Wohin genau gehört man denn, wenn man sein Leben am PC verbringt und kaum noch ins Freie geht? Wenn ein Spaziergang nicht mehr zum alltäglichen Leben gehört, einfach weil frische Luft guttut, sondern für den Jahresurlaub aufbehalten wird wie eine Luxusbewegung. Wie will man noch wissen, welche Rolle man in der kosmischen Schöpfung spielt? Wenn man nicht einmal mehr seine unsichtbaren Wurzeln kennt, geschweige denn mit ihnen verbunden ist? Wenn wir nämlich nicht „Gott“ dazu sagen, sondern vorsichtig erst einmal nur „Natur“, haben wir ja auch schon schlechte Karten bei den Controllern im Karrierekonzern.

Wenn mal alle weghören, gibt es diese Frage doch auch in Ihnen: Bin ich ein Teil des Ganzen? Klar! Am Anfang war die Stammzelle. Stehe ich in einer Verbindung mit etwas Größerem? Physikalisch schon, in Ihrem Körper bilden Sie selbst auch die Welt ab. Was jede Zelle darstellt, ist nur die totale Verkleinerung der ganzen Welt da draußen. Jede Zelle ist ein Mikrouniversum, in dem dieselben Regeln herrschen wie im großen Kosmos. Das leuchtet ein, und nicht nur das, es erklärt eben auch die Sehnsucht nach der Einheit mit allem, wenn diese gestört ist. Wie die Zellen um eine frische Wunde herum sofort die Selbstheilung in Gang bringen, geht es für Sie an die Selbstarbeit: Sie suchen nach einer Lösung, bis der Ehestreit beigelegt oder sogar geheilt oder ein Kompromiss mit den Eltern gefunden ist, nur damit die Familie, auch ein solches Abbild des Universums, wieder vereint ist – einig, ganz, endlich!

Wie aber imitiert man seelisch, spirituell, geistlich, was einem der physische Körper mit seinen Selbstheilungskräften so einfach vormacht, ohne sich religiös zu verrenken? Man müsste ja nur davon ausgehen, dass es wie im Körper auch seelisch das Große und Ganze gibt, die große Seele – Mahatma. Spirituelle Selbstheilungsmechanismen, die auch außerhalb des Teils, der da leidet und mit dem Übrigen wiedervereint werden möchte, alles regieren. Es würde ja nur zusammenwachsen, was zusammengehört, immer schon. Harald Schmidt hat einmal gesagt, es sei nicht wichtig, ob er an Gott glaube, wichtig sei, dass Gott an ihn glaube. So kann man das auch ausdrücken. Das aber würde die eigene Perspektive verändern. Man könnte auf der Suche nach dem verlorenen Glück davon absehen, sich religiös zu inszenieren, um an Gott heranzutreten. So machte es Jesus, wenn er betete.

Dabei kommt in unserer Sprache noch verschärfend und verwirrend hinzu, dass BETEN und BITTEN zu verwandt scheinen. Es ist durchaus eine Überlegung wert, die deutschen, kniffligerweise im Wortlaut so ähnlichen Begriffe deutlich zu unterscheiden. Zu Gott beten, heißt weder automatisch redselig oder gesprächig zu sein und ihm das Allerneueste zu berichten noch sich dazu aufgefordert oder eingeladen zu sehen, um alles Mögliche zu bitten. Quasi als seine Leute vor Ort mit besserem Überblick und Meldung an die Zentrale. Vielleicht geht es ja eben beim Beten nicht schon wieder und nur um mich und um die Welt, die sich um mich dreht, sondern ausnahmsweise einmal um ihn, den Gott, den Größeren von uns beiden, wenn man so will. Also bitte keine Bitten! Sondern stattdessen in den Wind gehauchte Assoziationen von Gottesbildern: Bilder, die kommen, Bilder, die gehen, wie im Traum. Es liegt etwas in der Luft, ist nahe. Ein Hauch von Gott, ein Stück vom Himmel, in den Wind geworfen wie eine Angelrute des Geistes. Archaische Bilder, die in mir und auf mich wirken, letztlich sogar, damit der Mund zubleibt.

Nehmen Sie das Vaterunser genau so in den Mund. Es sind keine Bitten in unserem Sinne. Vergessen Sie es! Es sind essenzielle Gotteserfahrungen, einzeln aneinandergereiht, assoziative, durchlässige Beschreibungen, Gottesannäherungen und Namen. Es sind Bekenntnisse, die tiefsten und stärksten, die ich kenne.

Beten

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