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„Herr, lehre uns beten!“

Wunderbarer als alles ist jenes Fenster,

das im Innern des Herzens nach der übersinnlichen Welt

des Himmels geöffnet ist,

gleich wie außerhalb des Herzens fünf Türen

nach der sinnlichen Welt führen.

(al-Ghazali, persisch-islamischer Gelehrter, 1058-1111)

Sich auskennen im eigenen Herzen

Die einzige, wirklich wichtige Lehrstunde im Neuen Testament bezieht sich auf diese Bitte: „Herr, lehre uns beten!“ So einfach formulierten Jesu-Jünger ihren Wunsch, nachdem sie ihren Lehrer beobachtet hatten, wie er selbst betete, in die Stille ging, lauschte, sich versenkte, auf seine Weise also seinem Vater nahe blieb. Das war wie ein vorsichtiges Anklopfen und dann wieder Lauschen. Das musste attraktiv auf sie gewirkt haben, weil er es immer wieder so machte. Es gehörte zu ihm und war anders als das Beten, das sie aus den Synagogen kannten. Und weil es wahrscheinlich ihre Sehnsucht geweckt hat, selbst eine solche Intimität zu erleben, irgendwie gottesfühlig zu werden. Also waren sie bereit, auf der Stelle zu vergessen, was sie bisher selbst als Gebet praktiziert hatten, und noch mal ganz von vorn anzufangen: „Herr, lehre uns beten!“

Wie jetzt? Beten neu lernen? Warum denn nicht? Wer heutzutage das Wort „Beten“ hört, dem klingt das Ave Maria oder das Vaterunser in den Ohren. Das heißt Sprechen, Sprechen, Sprechen. Man sieht die Lippen sich bewegen, leise sprechen oder laut. Ein Murmeln, ein Geräusch, selbst wenn man an stummen Leuten, die vor einer Marienskulptur stehen, vorbeigeht. Man hört sie immer noch auf Droge: Labern! Nein, eben nicht! Still! Seid still! Seid endlich still! Das Setting, das Arrangement der universalen Gottesoffenbarung ist die Stille. „Lausche!“, muss es heißen. Große und kleine Betlehrer haben genau das selbst getan und gesagt: „Geh weg vom Marktplatz, vom Bienenstock, vom Clan, von deinem Stamm, deiner Gruppe. Zieh dich zurück, geh in dein Kämmerlein.“ Fasten, die Hände falten, Füße stillhalten. Der Körper ist uninteressant. Augen und Ohren sollen einem keine Botschaften geben, der Finger soll nicht in der Nase bohren, denn da gibt es auch Botschaften. Das übt auch der Zen-Buddhist im Fernen Osten auf seinem Sitzkissen am Boden: keine Physis, keine Sinne, nur INNEN zählt. Es ist alles schon da. Der Zenmeister entzieht sich den neuen Botschaften – da habe ich Schmerzen im Rücken oder im rechten Knie, ich habe Hunger und der Magen knurrt –, davon lässt er ab und wendet sich nach innen.

Im Herzensinnenraum – Ihrer Herzkammer – wartet die erste Möglichkeit des Lauschens: eine Selbstbetrachtung, eine Selbstanalyse. Das ist der längere und tiefere, der lohnendere Weg. Den eigenen Acker muss man in Angriff nehmen und darin graben oder graben lassen, um an die versprochenen Perlen zu kommen. Jeder von uns ist längst eine eigene Welt mit Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Es kommt nicht darauf an, sie protestantisch hemdsärmelig zu verändern. Es kommt darauf an, sie zu betrachten. Wir sind nicht Gottes fehlende Hände. Ich bin eben ein Betlehrer und frage Menschen, ob sie Zeit und Lust haben zu beten. Von allen Seiten müssten sie betrachten, was gerade erscheint, was sie eben gerade in sich selbst finden.

Wie aber überwindet man die Aversion gegen das Beten? Da fängt es schon an: Überwinden hat nichts mit Kämpfen zu tun. Und erst recht nicht mit Siegen. Hat Buddha oder Jesus gelehrt, dass die Welt von morgen keine Sieger mehr braucht, weil sie sonst auch Verlierer für die Sieger brauchte? Überwinden geht anders. Überwinden ist eine ungewohnte Kampfmethode und Technik, die schon ein bisschen die Züge trägt, die der Kampfmeister aus dem Nahen Osten, aus Nazareth, gerne trainiert hätte. Er trainierte anders, nicht unsere Art des Kampfes. Nicht durch angesagte besondere Anstrengung und Aktivität, sondern umgekehrt, durch scheinbar passives Lauschen und Beschauen. Rezeptiv sein, das heißt, alles geschehen lassen. In einer wirklichen Demut, die weiß, dass regiert wird, um sich daran neu auszurichten. Wie eine fernöstliche Kampftechnik, die die Energie des Gegners gegen ihn selbst richtet. Das hat etwas mit Entspannung und Hingabe zu tun, nicht nur im Tantra Yoga, aber eben dort beispielhaft, man kann es sich abschauen. Man muss nur den meist bis hierher untrainierten inneren Mut aufbringen, etwas geschehen zu lassen und zuzuschauen, wie es geschieht. Und da fängt alles an: Innen fängt alles an. Das Gebet kommt also nicht sprudelnd aus uns raus, sondern es kommt einnehmend in uns rein.

„Dann ist das Beten, das sich als Lauschen versteht, ja ein ganz anderes als das, was man uns in Kindertagen beigebracht hat“, sagt ein Freund prompt zu mir. Warum haben wir dann unsere Redseligkeit nicht überwinden können – diese salbungsvolle Laberei? Was für eine Kultur haben wir denn, die uns nicht gelehrt hat, dass man den Mund hält, wenn man mit Gott redet! Wie bitte? Ich soll gar nichts sagen? Ich habe doch ständig was zu sagen. Eben! Das hat Jesus auch schon gewusst und hat genau das gelehrt: Euer himmlischer Vater weiß längst Bescheid! Langweilt ihn nicht und macht euch nicht zum Opfer! Beten heißt lauschen, Gott zuhören. Meditieren nennt man das heute auf dem exotischen Markt der Spiritualitäten. Die Altvorderen würden jetzt sagen: Sie bringen ihr Leben vor Gott. Aber zugegeben, das ist mir auch zu antik. Ich kann das auch nicht mehr hören. Weil ich selbst gelangweilt in den Kirchen sitze, selbst Revolution versuchte und versuche, selbst verletzte und verletzt bin und dem eingeölten Kirchenslang nicht mehr traue. Ich versuche es, wie viele andere, mit einer geistlichen Auslandsreise und nehme den Muslimen ihren schönsten Satz weg, weil keiner dem Heiligen Geist sein Copyright aufdrücken kann. Er hat nämlich keines. Wenn sie nach Mekka ziehen, dann beten sie simpel nur das, was an diesem Tag ist und sowieso stimmt: „Hier bin ich!“ Zugegeben: Der Einstieg in den Acker ihres Lebens kommt ziemlich passiv daher: Hier bin ich! Mehr nicht? Mehr nicht! Die Sonne geht auch ohne unsere Hilfe auf und unter und wieder auf. Liebe kommt und geht, und wir wissen nicht, warum. Deshalb müssen wir uns selbst betrachten und herauskommen aus dem äußerlichen Geplätscher und dem Viel-Wissen-um-sich-selber-Machen. Indianer lauschen. Das ist ein spiritueller Erziehungsweg, ein innerer Erfahrungsprozess des Menschen, eine seelische Verhaltenstherapie.

Ursprünglich haben wir uns für unser Überleben in einer feindlichen Welt ganz auf die äußere Wahrnehmung verlegen müssen und unser Inneres verschlossen. Diese Strategie war einmal lebenserhaltend, jetzt ist sie es aber nicht mehr, sie hat sich sogar überholt. Jetzt ist es nur noch eine Art von Schmerzgedächtnis, das in diesem Moment gar nichts mehr mit dem früheren Schmerz zu tun hat, sondern ihn nur widerspiegelt. Wir sind über die Jahrhunderte konditioniert worden. Wir beten beim Gebimmel der Kirchenglocke so reflexhaft, wie sich beim Pawlow‘schen Hund beim Bimmeln der Speichelfluss in Gang setzte. Der Paradigmenwechsel besteht nun darin, dass eine Art Therapie, die mich diese Konditionierung zuallererst erkennen und dann umsteuern lässt, die mich also mit mir selbst konfrontiert, den schnelleren Weg zu Gott zeigt.

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