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Montag, 05. Februar 2018

Jola

Um 6 Uhr morgens klingelte ihr Wecker. Lennon fluchte leise neben ihr, als sie mit einem Klopfen auf ihr Smartphone dafür sorgte, dass das nervige Geklimper aufhörte.

„Um diese Uhrzeit“, hörte sie ihren Freund nuscheln. Jola richtete sich langsam im Bett auf, sogleich meldete sich ihre schmerzende Schulter. Sie unterdrückte ein gequältes Zischen. Vorsichtig kramte sie mithilfe der Smartphone-Beleuchtung ihre Sachen zusammen und verschwand damit ins Badezimmer.

Erst als sie die Tür hinter sich schloss, knipste sie das Licht an. Sie erschrak bei dem Anblick, der sich ihr beim Betrachten ihres Spiegelbildes bot. Der Fleck neben ihrem rechten Auge war zwar nicht mehr blau, aber weiterhin sichtbar. Sie hatte schlicht und einfach nicht mehr an ihn gedacht, umso verärgerter war sie nun, weil sie den mittlerweile gelblich-braunen Fleck versuchen musste, mit Make-up unsichtbar zu machen. Denn so wollte sie ganz bestimmt nicht in der Trafik auftauchen. Mit Sicherheit würde ihr Aussehen die Kunden verschrecken, die sie im Tabakwarenladen bediente.

Es war kurz vor 6.30 Uhr, als sie mit einer Banane – ihrem Frühstück auf dem Weg zur Arbeit – die Wohnung verließ. Im Treppenhaus war es wie immer eiskalt. Jola betätigte den Schalter, der dafür sorgte, dass der Raum im nächsten Moment in ein zuckendes kaltweißes Licht getaucht wurde. Nach etwa drei Sekunden beruhigte sich das Flackern. Sie sperrte gerade die Tür zu Lennons Wohnung ab, als sie Schritte hinter sich hörte. Ruckartig drehte sie sich um und erkannte seine Beine. Verdrehte, wackelige Beine, auf denen er die Treppen vom oberen Stockwerk herunterkam. Er machte einen zappelnden Schritt nach vorne, nun war sein zuckender Körper bis zur Brustmitte zu sehen.

Jolas Herz machte einen Sprung und sie hastete in die untere Etage. Sie wollte weder sein Gesicht sehen noch in ein Gespräch verwickelt werden, denn sie fürchtete sich vor ihm. Im Erdgeschoss angekommen, eilte sie durch die Haustür und ließ sie hinter sich so laut zufallen, dass sie selbst kurz bei dem darauffolgenden Lärm zusammenzuckte. Ihr Schritttempo verlangsamte sich etwas, als sie im Innenhof auf ihr Auto zuging. Nie im Leben könnte er sie jetzt noch einholen!

Kurz darauf ließ sie sich in den Fahrersitz ihres alten VW Polos fallen und betätigte wie immer sofort die Zentralverriegelung. Auch wenn ihr Auto alt war, es hatte immerhin elektrische Fensterheber, eine Klimaanlage und eine Zentralverriegelung, über Letztere war sie heilfroh, gerade in Situationen wie diesen. Normalerweise aß Jola ihr Frühstück während der Fahrt zur Arbeit, aber der Schreck saß noch so tief, dass ihr der Appetit vergangen war, also legte sie die Banane auf den Beifahrersitz neben ihre Tasche. Sie würde sie essen, wenn sie nachher die Trafik aufsperren würde.

Jola schnallte sich an und startete den Motor des alten Benziners, der knatternd ansprang – ein mittlerweile vertrautes Geräusch. Sie legte den Rückwärtsgang ein, um auszuparken. Lennon hatte schon öfter gemeint, sie sollte sich doch mal ein neueres Auto zulegen, eines mit Piepsern, wie er die Einparkhilfe nannte. Der hatte leicht reden! Im Gegensatz zu ihr besaß der werte Herr Kobatz nicht mal ein Auto. Er hatte zwar den Führerschein, aber kein Geld für einen eigenen Wagen. Ihn störte das nicht, denn er brauchte ja nicht zwingend einen, zur Arbeit kam er auch zu Fuß oder er ließ sich kutschieren. Trotzdem war er der Meinung, seine Freundin würde ein Auto mit Piepsern brauchen, damit sie leichter ein- und ausparken könnte. Für Jola war das Quatsch. Sie war zwar nicht die beste Fahrerin der Welt, aber sie kam ganz gut zurecht, auch ohne Einparkhilfe.

Tock.

Was war das?

Erschrocken drehte Jola sich um, konnte jedoch nichts erkennen. Der Innenhof lag leer hinter ihrer Heckscheibe. War sie irgendwo gegengefahren? Das konnte nicht sein, denn bis zur nächsten Wand waren es schätzungsweise zehn Meter. Womöglich war ihr eine Katze hinter den Wagen gelaufen. Sollte sie aussteigen und nachsehen? Jola erstarrte. Sie wollte sich gerade abschnallen und den Motor abstellen, als sie eine Bewegung im Rückspiegel wahrnahm. Auf ihrer Heckscheibe konnte sie eine Hand erkennen, die sich darauf abstützte. Um Gottes willen, ich habe einen Menschen angefahren!

Ihre Hände lösten nicht den Gurt, sondern legten sich auf Jolas Mund, um einen Aufschrei zu ersticken. Steig aus, du kannst doch jetzt nicht einfach so dasitzen und nichts tun!, ermahnte sie eine Stimme in ihrem Kopf.

„Okay, okay! Ich werde jetzt aussteigen“, sagte sie zu sich selbst und schnallte sich ab. „Keine Panik, Jola. Die Person hat sich eben noch bewegt, also kann es nicht so schlimm sein.“

Ein immer größer werdender Schatten im Rückspiegel hinderte sie daran, den Motor abzustellen. Jola sah, dass sich die Person nun langsam aufgerichtet hatte. Und es war … Nein!

Eigentlich hätte sie aussteigen und sich nach seinem Befinden erkundigen, oder sich wenigstens bei ihm entschuldigen müssen – womöglich hätte er sogar ins Krankenhaus gemusst! Aber sie konnte es nicht. Weil sie ihm nicht über den Weg traute. Weil er sie womöglich verletzen würde.

Im trüben Schein der Innenhofbeleuchtung konnte sie sein verzerrtes Grinsen und seine wild winkende Hand im Rückspiegel sehen, als sie den ersten Gang einlegte und das Gaspedal durchtrat, noch ehe sie sich wieder angeschnallt hatte.

Nach ungefähr zwanzig Minuten kam sie bei der Trafik an. Ihr Herz raste. Hatte sie einen Fehler gemacht? Natürlich hatte sie das! Was für eine blöde Frage! Sie hätte zu ihm gehen, ihm helfen müssen. Schuldgefühle ließen Jola lauthals weinen, nachdem sie ihren Polo in der Nähe der Trafik geparkt hatte.

Ich bin das Monster, nicht er!“, schluchzte sie in ihre Hände. Aber andererseits war er ohne ihre Hilfe aufgestanden. Und er hatte sie angegrinst und ihr noch zugewunken! So schlecht konnte es ihm doch gar nicht gehen! Ihre Gedanken überschlugen sich. Sollte sie Selbstanzeige erstatten? Die Stimme in ihrem Kopf schrie: Ja, du dumme Kuh! Wie willst du sonst dein Gewissen erleichtern?

Aber Jola schüttelte den Kopf, nahm die Banane und ihre Tasche vom Beifahrersitz und stieg aus dem Wagen.

„Er ist von selbst wieder aufgestanden“, murmelte sie in ihren Schal. „Es geht ihm gut. Was soll schon passieren?“

Als sie sich dem Eingang der noch verschlossenen Trafik näherte, konnte sie davor zwei Personen mit Mützen sehen. Anscheinend warteten sie darauf, dass jemand den Tabakwarenladen öffnete. Jola warf einen Blick auf ihr Smartphone. 6.53 Uhr, sie war sogar etwas zu früh dran. Plötzlich lachte eine der beiden Personen auf, als Jola auf sie zuging. Nun fühlte sie sich noch unwohler. Dem Lacher und dem anschließenden Getuschel der beiden nach zu urteilen waren es Männer. Wer waren diese Typen? Kannten sie Jola? Lachte man sie aus?

Als sie sahen, dass Jola einen Schlüsselbund aus ihrer Jacke zog, wurden sie still und traten ein Stück zur Seite.

„Danke“, murmelte Jola und sperrte auf. Sie beschloss, das „Geschlossen“-Schild gleich runterzunehmen, denn die beiden Typen noch sieben Minuten in der Kälte warten zu lassen, käme ihr dämlich vor. Sie knipste das Licht an und streckte ihren Kopf darauf zur Tür hinaus.

„Ihr könnt schon reinkommen“, sagte sie zu den zwei Männern, die sich nun verunsichert ansahen. Ihre Mantelkrägen verdeckten ihre halben Gesichter und ihre Mützen saßen ziemlich tief und doch glaubte sie, in ihren Augen so etwas wie Irritation zu erkennen. Aber sie wollte sich jetzt nicht über solche Belanglosigkeiten den Kopf zerbrechen, also verschwand sie wieder im Inneren der Trafik und schaltete das Radio ein.

Die ersten Kunden kamen etwa eine viertel Stunde später. In der Zwischenzeit aß Jola ihr mitgebrachtes Frühstück. Der Unfall von vorhin machte ihr noch immer zu schaffen, aber sie wusste, dass sie sich nur selbst schadete, wenn sie jetzt nichts aß. Die Banane schmeckte genau so, wie Jola sich fühlte: grauenhaft.

Die beiden Männer vor der Trafik waren verschwunden, kurz nachdem sie das Radio eingeschaltet hatte.

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