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Freitag, 09. Februar 2018

David

Noch immer siebenundachtzig.

Es war kein Strich auf dem Zeitungsausschnitt dazugekommen und er hatte keine Mail verschickt.

Er war zur Arbeit gefahren, hatte aber nicht geschafft, zu sagen, was Sache ist. Einerseits hatte er sich über sich selbst deswegen geärgert, andererseits konnte er froh sein, auf dem Revier an den Schreibtisch gefesselt zu sein. Vielleicht würde ja auch damit bald Schluss sein …

David saß in seinem silbernen Ford und war gerade dabei, seine Tochter von der Arbeit abzuholen. Lena hatte bereits den Führerschein und auch schon ein eigenes Auto in Aussicht. Zumindest hatte ihm Katja davon erzählt. Es konnte sich nur noch um Tage handeln, bis seine Tochter ihren eigenen Wagen fuhr. Das Geld dafür hatte sie sich als Verkäuferin im Einzelhandel hart erarbeitet.

Er grinste sie an, als sie auf sein Auto zukam und kurz darauf neben ihm auf dem Beifahrersitz Platz nahm. Zuvor schnaubte sie noch genervt und stellte Davids Arbeitstasche in den Fußraum.

„Hoch die Hände, Wochenende!“, meinte David scherzhaft als Begrüßung. Er war sich sicher, dass Leute in Lenas Alter solche Sachen an einem Freitag riefen und daraufhin in Gelächter ausbrachen. Seine Tochter nicht. Sie zog ihre rechte Augenbraue hoch und fragte: „Ernsthaft?“

David glaubte, sie so etwas wie Oh Gott murmeln zu hören, während sie die Autotür zuschlug und sich angurtete. Die Auszeichnung „Uncoolster Vater bis in alle Ewigkeit“ war soeben an ihn überreicht worden. Der Ford verließ die Parklücke und nach einer Minute peinlichen Schweigens fragte Lena: „Und? Wo fahren wir hin?“

„Wo willst du denn hin?“

„Keine Ahnung.“

Sie schien sich nicht viele Gedanken über diesen Tag gemacht zu haben. David versuchte trotzdem, das Beste aus der Situation zu machen, indem er ihr etwas vorschlug: „Willst du zu McDonalds?“

Daraufhin erntete er einen Blick seiner Tochter, der ihm verriet, dass sie anscheinend alles wollte, nur das nicht: „Und was soll ich dort essen? Willst du mir ein Happy Meal kaufen?“

„Nein, natürlich nicht“, sagte David tonlos. „Du bist achtzehn, du kannst dir selbst eines kaufen.“

Nun begann Lena leise zu kichern, dann grinste sie ihn an und stellte etwas fest: „Du bist albern.“

Das Kichern, das keine fünf Sekunden andauerte und die drei Worte danach erfüllten Davids Herz mit Wärme. Wie wenig es doch brauchte, um ihn zufrieden zu stellen. Dann war überraschenderweise Lena diejenige, die einen Vorschlag machte: „Wir könnten doch ins Papa Joe’s. Ich hätte jetzt richtig Lust auf Enchiladas und so, du weißt schon.“

Er wusste es. „Also dann auf ins Papa Joe’s.

Kurze Zeit später saßen sie in Lenas auserwähltem Restaurant, das bunt eingerichtet war und sich auf karibische Küche spezialisiert hatte. Und im Notfall gab es sogar Wiener Schnitzel. Während seine Tochter das Menü studierte, musterte David sie. Wie gerne würde er ihr doch sagen, was er dachte.

„Es tut mir leid.“

Schon geschehen. Eigentlich hatte er dieses Thema langsam angehen wollen, aber die großen hellgrünen Kulleraugen seiner Tochter, die eine Spur heller waren als seine und über die Zeilen flogen, verleiteten ihn dazu. Lena schaute ihn erwartungsvoll an und als David zum Reden ansetzen wollte, kam eine Kellnerin an ihren Tisch, um die Bestellung aufzunehmen. Lena bestellte Chicken Enchiladas und eine Cola, er selbst ein Combo Special – da war von fast allem etwas dabei – und ein Corona.

„Was tut dir leid?“, fragte Lena, sobald die Kellnerin wieder davoneilte.

„Alles. Einfach alles.“

„Du meinst auch die Trennung von Mama?“

Nicht dieses Thema, bitte.

Er presste die Lippen aufeinander und antwortete: „Das habe ich nicht gewollt und das weißt du.“

„Ja, aber Mama hat gesagt, …“

„Mir ist egal, was sie gesagt hat. Fakt ist, sie hat mich rausgeworfen, obwohl ich immer nur das Beste für euch wollte. Du bist erwachsen, Lena. Du sollst wissen, dass ich deine Mutter niemals betrogen oder verletzt habe. Ich war nur viel mit meiner Arbeit beschäftigt und … Ich weiß auch nicht. Sie liebt mich einfach nicht mehr.“

„Liebst du sie denn noch?“

David hatte plötzlich einen Kloß im Hals. Was sollte er darauf sagen? Er schluckte einmal, aber das half nichts, er bräuchte Flüssigkeit, um ihn zu lockern. Auch ein Räuspern machte es nicht besser. Zum Glück wurden im nächsten Moment die Getränke serviert. David nahm sofort ein paar gierige Schlucke von seinem Bier und atmete tief durch. Dann sagte er etwas, das seinem Gefühlsleben ziemlich nahekam: „Deine Mutter wird mir immer etwas bedeuten, das weißt du.“

„Ja, schon klar. Aber ich rede von Liebe, Papa. Wenn man jemanden liebt, dann …“ Lenas Augen begannen zu leuchten, als sie ihrem Vater erklären wollte, was denn Liebe sei.

„Ich weiß, was Liebe ist“, unterbrach David sie genervt.

„Tut mir leid“, sagte dieses Mal Lena. Diese Worte hatte er von ihr schon sehr lange nicht mehr gehört – und sie klangen ehrlich. „Ich wollte dich nicht aufregen …“

„Ist schon gut. Wie kommt ihr beide eigentlich miteinander aus?“

„Das klingt so, als wäre es nur eine beiläufige Frage.“

„Ist es.“

„Nein, ist es nicht. Ich weiß, dass Mama was gesagt hat, ich bin doch nicht blöd.“

„Na gut, vielleicht hat sie was gesagt. Aber ich würde auch gerne deine Meinung hören.“

„Worüber?“

„Über euch. Über alles einfach.“

Eine Weile herrschte Schweigen, dann murmelte sie: „Ich find’s blöd, dass sie dich als Vermittler angeheuert hat.“

„Liebes, sie hat mich nicht angeheuert.“

Lena starrte ein paar Sekunden auf die geflieste Tischplatte und begann schließlich zu erzählen: „Sie nervt mich manchmal … Weißt du … Es kommt mir oft so vor, als würde sie eine Lücke schließen wollen, oder … oder Schuldgefühle haben oder so.“

„Was meinst du damit? Welche Lücke?“

„Die, die du hinterlassen hast.“

In Davids Herz schmerzte es. Daran hatte er noch nie gedacht – zumindest nicht auf die Art. Als er vor fünf Jahren ausgezogen war, fühlte er sich einsam, anfangs kam er nicht gut zurecht. Das lag nicht daran, dass er selbst kochen und Wäsche waschen musste, sondern daran, dass er mit sich selbst überfordert war. Er hatte nur noch sich – und Lord Schlotterhose. Seine alleinige menschliche Anwesenheit in seiner Wohnung trieb ihn manchmal fast in den Wahnsinn. Auch der Traum, den er mittlerweile schon siebenundachtzig Mal geträumt hatte, wurde seit der Scheidung intensiver. Nicht häufiger, nur realer, näher, greifbarer. Er musste mit seinem neuen Leben zurechtkommen und das war ihm anfangs sehr schwergefallen. Was er jedoch entdeckte, war seine Leidenschaft für die Kunst. Diese half ihm, nach der Scheidung nicht völlig in Trauer zu versinken.

Seine Exfrau und sein Kind kamen mit der Situation besser klar – das hatte er zumindest angenommen. Dass er so etwas wie eine Lücke hinterlassen hatte, war ihm nie in den Sinn gekommen. Er war der Meinung gewesen, dass durch sein Verschwinden eine Last von Katja abgefallen war. Aber damit, dass sie seitdem versuchte, Lücken zu füllen oder Schuldgefühle hatte, hatte er nun wirklich nicht gerechnet.

Lena sagte: „Sie ist oft so aufdringlich. Ständig will sie Sachen unternehmen und fragt mich, wie es mir geht und so weiter. Dabei hätte ich einfach mal gerne meine Ruhe. Manchmal habe ich so das Gefühl, dass sie …“ Mitten im Satz hörte sie auf einmal auf zu reden. „Nicht so wichtig“, meinte sie dann.

„Dass sie was?“, fragte David etwas lauter als beabsichtigt. Das Pärchen vom Nebentisch schielte unauffällig zu ihnen rüber. Lena schien die Situation plötzlich sehr unangenehm zu sein, doch das war ihm egal. „Lena, sag mir, was los ist.“

„Nichts. Ach, ich weiß auch nicht.“

„Sprich den vorigen Satz zu Ende.“ David bemühte sich um einen normalen Tonfall, was ihm – den Gesichtszügen des Paares von nebenan nach zu schließen – nicht gelang. Aber es war ihm in diesem Moment nichts so wichtig, wie die Wahrheit zu erfahren. Die Wahrheit über die Gefühle seiner Exfrau, die sie ihm selbst nie verraten würde.

„Als wir am Montag telefoniert haben, …“, begann seine Tochter, „… da hast du gesagt, dass du noch bei uns wohnen würdest, wenn es nach dir ginge. Und Mama ist oft so … Ich weiß nicht, wie ich es nennen soll. Überfürsorglich und gleichzeitig unzufrieden. Weißt du, was ich meine?“

„Lena, das, was ich da am Telefon gesagt habe, kann man nicht auf die jetzige Situation beziehen. Aber als deine Mutter mich rausschmiss, wollte ich bei euch bleiben, das kannst du mir glauben.“

„Ich glaube, sie will, dass du wieder zurückkommst.“

In Davids Kopf ertönte ein Klicken. War das seine Möglichkeit auf eine zweite Chance? Genau genommen hatte er diese schon einmal bekommen – damals, als Katja kurzzeitig mit diesem Clown Tom zusammen gewesen war. Die Gefühle zwischen ihr und David waren aber stärker gewesen und so hatten sie wieder zueinandergefunden. Wenn er jetzt noch einmal eine Chance bekommen würde, würde er sich ins Zeug legen. Er würde beim dritten Anlauf alles richtig machen. Aller guten Dinge sind drei, hörte er die Stimme seiner früheren Lehrerin in seinem Kopf sagen. Aber wollte er das überhaupt? Wollte er es wirklich?

David hegte zweifelsohne noch Gefühle für Katja. Aber ein erneuter Beziehungsstart könnte wie ein miserabler Versuch, einen Riss in der Windschutzscheibe zum dritten Mal zu kleben, enden. Und eines Tages müsste man die Scheibe ein für alle Mal wegwerfen und sie durch eine neue ersetzen. Möglicherweise durch einen Clown namens Tom. Wollte er das riskieren?

David fehlten noch immer die Worte, Lena hingegen sagte eilig: „Versprich mir, dass du Mama nichts von diesem Gespräch erzählst.“

Das Essen wurde serviert und sie nahm einen großen Bissen von den Enchiladas. David löste sich aus seiner Erstarrung und sagte leise: „He, langsam, langsam. Lena, sieh mich an.“

Sie schaute von ihrem Teller auf.

„Hat deine Mutter das jemals gesagt?“

„Nein, aber … sie benimmt sich so, als würde sie dich um sich haben wollen. Sie sieht oft so hilflos aus …“

„Das muss noch nichts heißen. Hör mir zu. Das, was wir hier besprechen, bleibt natürlich unter uns. Aber du weißt, dass das eine große Sache ist, die du da eben angesprochen hast, oder?“

„Ja … Aber ich dachte mir, vielleicht …“

„Nein, Lena. Hör auf. Das, was du beschreibst, ist einfach eine Mutter, die sich Sorgen um ihr Kind macht.“

„Ich dachte mir nur, es könnte ja möglich sein.“

„Deine Mutter ist vielleicht einsam, ja. Aber sie hat mich damals verlassen und gesagt, dass sie mich nicht mehr liebt. Und wenn sie nicht klipp und klar das Gegenteil behauptet, wird sich an ihren Gefühlen auch nichts geändert haben. Also mach mir keine falschen Hoffnungen.“

„Du liebst sie also noch.“

Das war keine Frage, sondern eine Feststellung. Vielleicht hatte sie damit gar nicht mal so unrecht, aber David wusste, dass diese Scheibe zum Brechen verurteilt war.

„Wechseln wir das Thema“, antwortete er kopfschüttelnd und spießte einige Kartoffelspalten mit seiner Gabel auf. „Was gibt es sonst Neues?“

„Ja, also. Da ist etwas, das habe ich Mama noch nicht erzählt.“

„Erzählst du es mir?“

Sie grinste. Plötzlich konnte David etwas fühlen, was schon lange verloren geglaubt war: Das Gefühl, mit ihr verbunden zu sein – einen Draht zu ihr zu haben. Dass sie sich ihm anvertrauen wollte, war für ihn von großer Bedeutung.

„Ich habe einen Freund.“

Der nächste Schlag in die Weichteile. David hätte sich fast an seinem Knoblauchbrot verschluckt, von dem er eben abgebissen hatte. Das war im wahrsten Sinne des Wortes eine schwer verdauliche Kost. Sie sah ihm anscheinend an, dass das nicht die Nachricht war, die sich ihr Vater erwünscht hatte, daher fragte sie: „So schlimm?“

„Nein, überhaupt nicht.“

„Lüg nicht“, sagte sie kichernd. „Dein Gesichtsausdruck schreit förmlich Neiiin!

„Nein, wirklich nicht. Ich … Ich freue mich für dich. Du bist schließlich volljährig. Aber warum erzählst du es nicht deiner Mutter?“

„Du wirst doch nicht etwa petzen?“

„Nein, aber wenn es etwas Ernstes ist, würde ich es ihr an deiner Stelle schon sagen. So etwas verheimlicht man doch nicht.“

„Ich weiß. Ich habe auch vor, es ihr zu sagen. Aber ich befürchte, dass sie dann noch nerviger wird. Und dass sie glaubt, plötzlich Aufklärungsunterricht und so weiter machen zu müssen.“

David konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. „Na, los. Erzähl was über ihn.“

Lena setzte sich ganz aufrecht hin, nahm einen großen Schluck von ihrer Cola und sagte: „Ja, also: Er heißt Jens. Ich habe ihn beim Ausgehen kennengelernt.“

„Okay. Wie alt ist er? Was ist er von Beruf?“

Die zwei wichtigsten Fragen für einen Vater: Ist er ein alter notgeiler perverser Typ? Ist er ein Penner?

Lena schien Davids Sorge nicht zu bemerken und antwortete: „Er ist zwanzig und … er … bildet sich weiter.“

Also arbeitslos.

„Wie bildet er sich denn weiter?“, wollte David wissen.

„Er macht einen Kurs.“

„Du hast gesagt, er ist zwanzig. Hat er denn einen Beruf erlernt?“

„Ja. Aber das war nicht so sein Ding. Er wollte nicht mehr so schwer schuften und jetzt macht er übers Berufsförderungsinstitut einen Kurs für Betriebswirtschaftslehre. Spaß macht es ihm aber nicht gerade.“

Na toll. Seine Tochter hatte einen arbeitslosen Freund, der nicht schwer schuften wollte. Jetzt fehlte nur noch, dass er ein Junkie war. Aber David versuchte zu lächeln, als er eines seiner Chicken Wings nahm und sie in die Joghurtsauce tunkte. Lena sah ihm dabei zu und fragte mit verunsicherter Stimme: „Du kannst ihn jetzt schon nicht leiden, oder?“

Er schnaufte und nahm einen Bissen vom Hühnerflügel. Eigentlich hielt er ja nichts von Vorurteilen, aber seine Tochter hatte ihren Freund nicht gerade so beschrieben, wie David ihn sich gewünscht hätte. Obwohl es genau genommen gar keine Wunschvorstellung gab. Schon alleine der Gedanke, dass Lena einen Freund hatte, reichte aus, um ihm Magenschmerzen zu bereiten. Dennoch lächelte er sie an und sagte: „Ich glaube, ich kann das besser beurteilen, wenn ich ihn selbst kennenlerne.“

„Du willst ihn kennenlernen?“ Lena begann plötzlich zu strahlen. Warum sie so verwundert reagierte, konnte er sich nicht erklären. Er nickte ihr mit bemühtem Lächeln zu.

„Wow, Papa, das ist …“

Sie stand auf und ging um den kleinen Tisch herum, um ihren Vater zu umarmen. David genoss diesen kurzen Moment der Verbundenheit. Er erinnerte sich gar nicht daran, wann sie ihn das letzte Mal freiwillig und von sich aus umarmt hatte.

Als sie sich wieder hinsetzte, meinte sie: „Ich hoffe, du erkennst seine guten Seiten.“

„Davon bin ich überzeugt. Der Mann hat Geschmack, so viel kann ich schon mal sagen. Nicht jeder hat so eine hübsche und kluge Freundin wie dich.“

Die beiden grinsten sich an und David war überglücklich, dass das Eis zwischen ihnen nun endlich nach fünf Jahren gebrochen war. Sie konnten wieder Vater und Tochter sein. Sie aßen und plauderten über alles Mögliche: Über die Arbeit, über die Geschehnisse der letzten Wochen und über Lord Schlotterhose. Eigentlich redete fast ausschließlich Lena und David hörte die meiste Zeit über nur zu. Aber er genoss es. Er genoss es bis zu dem Augenblick, in dem seine innere Stimme ihn warnte.

Plötzlich begann er zu schwitzen und versuchte, das ungute Gefühl, das ihn beschlich, zu verdrängen und konzentrierte sich wieder auf die Worte seiner Tochter. Doch es gelang ihm nicht. Sein Bauchgefühl versuchte, ihm etwas mitzuteilen.

David entschuldigte sich bei Lena und verschwand für einen Moment auf die Toilette. Dort klatschte er sich kaltes Wasser ins Gesicht und atmete tief durch.

Es würde eine große Veränderung auf ihn zukommen, und diese hatte nicht nur mit seiner Tochter zu tun.

Aller guten Dinge

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