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Dienstag, 27. Februar 2018

Jola

Seit beinahe drei Wochen waren sie schon getrennt. Nachdem sie sich ins Waschbecken übergeben hatte, hatte sie sich mit Lennon gestritten. Er war mit der Gesamtsituation unzufrieden, hatte er gemeint. Er war mit der Gesamtsituation unzufrieden?

Zuerst hatte sie geglaubt, sich verhört zu haben, aber nein, er war derjenige, dem es schlecht ging! Dass sich Jola wenige Minuten zuvor bedrängt gefühlt und sich vermutlich fremde Körperflüssigkeiten von den Händen gewaschen hatte, war anscheinend zweitrangig. Lennon verstand nicht, wieso sie sich nicht gleich bei Gabriel entschuldigt hatte. Jetzt geht das wieder los, hatte sie sich in dem Moment gedacht.

Sie diskutierten über alles Mögliche und der Abend schien nicht enden zu wollen. Jola schlief noch bei Lennon, aber sie hatten sich beim Zu-Bett-Gehen nicht einmal eine gute Nacht gewünscht. Das Einzige, was sie an diesem Abend noch verband, war ein Joint. Leider fühlte sich Jola dadurch nicht entspannter, was sonst immer der Fall war. In ihr kamen nur all die unangenehmen Ereignisse der letzten Tage wieder hoch. Und da war nicht nur die Sache mit Gabriel gewesen. Sie dachte auch wieder an die zwei Kapuzengestalten, die sie Fotze genannt hatten.

In den Tagen darauf hatten sie sich nicht mehr viel zu sagen gehabt. Nach und nach verschwanden die Sachen des jeweils anderen aus den Wohnungen.

Seitdem herrschte eine Leere in Jola, die sie selbst kaum beschreiben konnte. Sie fühlte keine Trauer, keine Wut, sie fühlte … nichts. Sie wusste nicht einmal, ob sie Lennon vermisste. Das war das Schlimmste an allem. Ob es jemals wahre Liebe gewesen war, bezweifelte sie. Lennon war einfach da gewesen, als sie ihn gebraucht hatte. Nachdem sie von zu Hause ausgezogen war, hatte er sie in allem unterstützt. Irgendwann hatten sie sich aus den Augen verloren, doch eines Abends waren sie sich zufällig wieder begegnet. Als Lennon ihr das erste Mal seine Gefühle offenbart hatte, hatte Jola nichts gegen eine Beziehung einzuwenden gehabt. Ein Versuch ist es wert, war ihr damaliger Gedanke gewesen. Und der Versuch war gescheitert.

Seit ihrer Trennung war sie in keine Schlägerei mehr verwickelt gewesen, immerhin etwas Positives. Sie hatte es nicht mehr nötig, blaue Flecken im Gesicht zu überschminken. Nur die Sache mit dem Gras machte ihr ein wenig zu schaffen. Sie war nicht abhängig, aber … ab und zu konnte ein Joint nicht schaden. Jola war verwundert, dass Lennon das Gras, das er in ihrer Wohnung in einer Kommode gebunkert hatte, nicht mitgenommen hatte, aber sie hatte ihn auch nicht darauf angesprochen – sonst wäre sie ohne dagestanden. Und sie hatte keine Kontakte für solche Dinge. Genau gesagt hatte sie sie schon, aber diese Leute waren alles Kumpels von Lennon und sie wollte nicht zu den Dealern ihres Exfreundes gehen, das kam ihr armselig vor. Also hatte sie beschlossen, das restliche Gras genüsslich zu verbrauchen und dann … ja, und dann? Dann würde sie ohne auskommen müssen. Oder sie hielt Ausschau nach neuen Dealern. Aber bis dahin war noch ein bisschen Zeit, sie kam bestimmt noch zwei Monate damit aus, denn sie rauchte ja nur einen in der Woche. Und Lennon hatte den Vorrat luft- und lichtgeschützt verstaut, da hatte sie keine Bedenken.

Den Joint für diese Woche hatte sie sich heute bereits genehmigt. Sie hatte sich Urlaub genommen, denn es war Faschingsdienstag und sie liebte es, sich zu verkleiden – zumindest zu Anlässen wie diesen. Aus ihrem Kleiderschrank hatte sie ein Katzenkostüm gekramt – es bestand aus einem gemusterten knielangen Rock, einem dazu passenden Oberteil und einem Haarreif mit Katzenohren. Eine schwarze Strumpfhose zog sie sich zusätzlich an, denn sie wollte nicht zu aufreizend aussehen. Wer weiß, wo die Kapuzen-Fotze-Typen das nächste Mal auf sie lauerten. Nachdem sie sich die Schnurrbarthaare ins Gesicht gemalt hatte, stand sie vorm Spiegel und betrachtete sich. Das Oberteil war hochgeknöpft, der Rock nicht zu kurz, dazu die schwarze Strumpfhose, kein Grund zur Sorge.

Eine kurze Welle der Traurigkeit überkam sie, als sie ihr Smartphone in die Tasche warf, das keinen Ton von sich gab – und das den ganzen Tag schon nicht. Normalerweise wäre sie heute mit Lennon in die Stadt gegangen, vermutlich wären auch Rainer und ein paar andere Kumpels dabei gewesen. Dass ihre Freunde gleichzeitig auch die Freunde ihres Exfreundes waren, war nicht gerade vorteilhaft. Sie hatte sie erst durch Lennon kennengelernt, sie wollte sich bei keinem von ihnen melden, da sie mit Sicherheit mit ihm unterwegs waren.

In der Hoffnung, in der Stadt doch noch zufällig auf alte Bekannte zu treffen, die nicht mit ihrem Exfreund abhingen, verließ sie ihre Wohnung und machte sich zu Fuß auf den Weg zum Brucker Hauptplatz. Hier fand alljährlich die große Faschingsparty in einem Festzelt statt und auch die umliegenden Lokale profitierten davon. Normalerweise würde sie mit dem Auto fahren, aber da sie sowieso schon ein bisschen beduselt vom Cannabis war und noch dazu vorhatte, Alkohol in nicht zu geringen Mengen zu konsumieren, würde sie sich morgen wahrscheinlich nur ärgern, wenn sie erneut in die Innenstadt gehen müsste, um ihr Auto zu holen.

Am Hauptplatz angekommen, beschloss sie, ins Zelt zu gehen, da sie befürchtete, in einer Bar Lennon oder Rainer zu begegnen. Im Zelt war die Menschenansammlung so groß, dass sie mit Glück sogar in der Menge untergehen würde. Jola ging auf eine Bar zu und musste den Mann dahinter zweimal anbrüllen, bis er ihre Bestellung verstand.

Als sie kurz darauf ihre Bacardi-Cola bekam und den ersten Schluck ihres Getränkes nahm, erschien plötzlich neben ihr wie aus dem Nichts eine rothaarige Frau und schrie dem Barkeeper eine Gin-Tonic-Bestellung zu. Jola trat zwei Schritte zur Seite und sah sich im Zelt um, so als würde sie Ausschau nach ihren nicht vorhandenen Freunden halten.

„Ganz schön was los heute, nicht?“, hörte sie die schrille Stimme neben sich sagen. Jola reagierte nicht darauf, sie nahm an, dass sich die unkostümierte Rothaarige mit dem Mann hinter der Bar unterhielt.

„Okay, keine Antwort ist auch eine Antwort.“

Nun begriff Jola, dass sie damit gemeint war. Sie sah die Frau an, die neben ihr stand und etwas jünger als sie selbst zu sein schien. „Entschuldigung, ich wusste nicht, dass du mit mir geredet hast. Ja, ganz schön was los heute.“

„Hast du deine Leute verloren?“

Jola zögerte einen Moment, antwortete dann mit einem Satz, der gar nicht mal so weit entfernt von der Wahrheit war: „Kann man so sagen. Und du?“

„Ich bin alleine unterwegs. In der letzten Zeit habe ich mich zurückgezogen, aber jetzt ist Schluss damit.“

Ob sie darauf eingehen sollte, wusste sie nicht. Für sie sah die Frau so aus, als wäre sie bereits betrunken. Und vermutlich wollte sie nicht alleine sein. Aber bevor sie sich entschieden hatte, stellte sich die Rothaarige schon vor: „Ich bin Jenni. Jenni mit I.“

„Jola.“

„Freut mich, Jola. Stößt du mit mir an?“

Die beiden Frauen lächelten sich an und nachdem sie mit ihren Plastikbechern angestoßen hatten, meinte Jenni mit I: „Auf all die Typen, die uns heute hoffentlich vom Hals bleiben!“

Jola lachte und fragte: „Wieso? Willst du nicht angebaggert werden?“

„Nein, ich habe die Schnauze voll von Arschlöchern. Hier.“

Jenni schlüpfte aus ihrem Jackenärmel und Jola erschrak. Auf ihrem linken Oberarm war eine Narbe zu sehen, die verdächtig nach einer Schnittverletzung aus der Vergangenheit aussah.

„Was …“, begann Jola, doch Jenni redete schon weiter: „Das habe ich von meinem Exfreund, dem größten Arschloch, das du dir vorstellen kannst.“

„Das … Das tut mir leid.“

„Muss es nicht. Ich war selbst schuld. War total vernarrt in den Kerl. Als ich ihn endlich an der Angel hatte, war es auch schon zu spät.“

„Ist er einfach auf dich losgegangen?“

„Kann man so sagen. Ein richtiger Psychopath.“

„Hast du ihn angezeigt?“ Plötzlich war Jola selbst von ihrer Neugierde überrascht. Sie wollte die Rothaarige nicht ausfragen, aber sie störte es anscheinend in keiner Weise. Jenni machte eine abwehrende Handbewegung und antwortete: „Nah, das war zum Glück nicht nötig. Ich wurde sozusagen gerettet und man hat den Freak weggesperrt.“

„Da bist du nochmal davongekommen.“

„Das kannst du laut sagen! Er wollte mir auch die Kehle durchschneiden.“

„Was?“

„Ja, nicht zu fassen, oder? Aber dazu kam er nicht mehr, zum Glück. Sonst könnte ich heute hier nicht mit dir abhängen.“

Als abhängen würde Jola es nicht unbedingt bezeichnen, aber die Anwesenheit der Rothaarigen störte sie auch nicht, also erwiderte sie darauf nichts.

„Ich bin vor etwa anderthalb Jahren hierher gezogen“, erzählte Jenni. „Davor habe ich in Graz gewohnt, aber ich kam nicht mehr mit meinem Leben klar. Ich wusste, dass dieser Scheißkerl weggesperrt war, aber ich spürte trotzdem noch eine Nähe zu ihm, die mich fertigmachte. Also musste ich weg. Dabei hätte ich in Graz so viele Möglichkeiten gehabt! Ich besuchte Kurse für Schauspielunterricht und das erfolgreich. Aber tja, so spielt das Leben nun mal. Meine Cousine war alles andere als begeistert, als ich ihr sagte, dass ich wegziehe. Sie hat sich große Sorgen um mich gemacht. Aber jetzt geht es mir schon besser.“

Jola beschloss, nicht zu fragen, warum ausgerechnet ihre Cousine eine Rolle dabei spielte. Das ging sie nun wirklich nichts an, obwohl Jenni es ihr wahrscheinlich so oder so gleich erzählen würde. Diese Person war ihr vor fünf Minuten noch völlig fremd gewesen und innerhalb kürzester Zeit hatte sie Jola ihre halbe Lebensgeschichte offenbart.

„He, Jo!“

Auf einmal wurde sie von hinten umarmt und schrak zusammen. Als sie sich umdrehte, erblickte sie Rainer in Matrosenverkleidung.

„Hey.“ Mehr sagte sie gar nicht.

Jenni ergriff das Wort: „Oh, ihr kennt euch. Ich lass euch mal lieber alleine. Hat mich gefreut, Jola. Vielleicht sieht man sich wieder mal.“

Die Rothaarige verschwand in der Menge, ehe Jola etwas sagen konnte.

„Wie geht’s dir?“, hörte sie Rainers tiefe Stimme fragen.

„Ganz gut, danke.“

„Hübsch siehst du aus.“

„Danke.“

Ihr war das alles unangenehm. Rainer hatte ihr noch nie ein Kompliment gemacht. Und nun, da sie nicht mehr mit Lennon zusammen war, wurde sie anscheinend als Frau gesehen und nicht als die Freundin des besten Freundes. Jola interessierte es eigentlich nicht, aber sie stellte die Frage trotzdem, um zu verhindern, noch mehr Komplimente von Rainer zu bekommen: „Wo ist Lennon?“

„Warum interessiert dich das?“ Rainer grinste sie unverschämt an und kam ihr so nahe, dass sie seine Bierfahne riechen konnte. Sie wich zurück und meinte: „Ich dachte mir, dass ihr gemeinsam hier seid.“

„Nein! Also ja. Er hat gesagt, er kommt etwas später.“ Er schaute auf seine Armbanduhr und lachte. „Aber dieses später ist auch schon eine Weile her. Mit wem bist du hier? Mit der Rothaarigen von eben?“

„Ja“, antwortete sie, in der Hoffnung, ihn bald wieder los zu sein. „Hat mich gefreut, dich wieder zu sehen. Ich muss dann mal zu Jenni.“

„Ach, komm schon, Jo. Trink eins mit mir. Auf die guten alten Zeiten.“

„Ich habe bereits ein Getränk. Aber danke trotzdem. Bis dann.“

Sie wandte sich zum Gehen und wurde plötzlich von Rainer am Oberarm zurückgezogen. „Jo, warte!“

„Was ist denn noch?“

„Lennon ist ein Arschloch, weil er dich gehen ließ. Du bist so eine tolle Frau, Jo, echt. Du hast was Besseres verdient.“

Oh, nein. Auf so eine Unterhaltung hatte sie keine Lust. „Danke, Rainer. Jetzt lass mich bitte los.“

Zu ihrer Überraschung zog er sofort seine Hand weg. „Tut mir leid, ich wollte dir nicht wehtun.“

„Hast du nicht. Aber ich will nicht über Lennon reden.“

„Müssen wir nicht! Lass uns das Thema wechseln.“

„Tschüss, Rainer.“

Sie entfernte sich vom Freund ihres Exfreundes. Den letzten Schluck ihres Getränkes nahm sie, bevor sie das Zelt verließ und klapperte dann noch einige Bars ab. Jenni, Rainer und Lennon sah sie an dem Tag nicht mehr.

Draußen war es bereits dunkel, als sie sich auf den Heimweg machte. Dafür, dass sie mit keinem verabredet gewesen war, war der Tag gar nicht so öde verlaufen. In jedem Lokal quatschte sie mit wildfremden Leuten, die alle sehr gesprächig und freundlich waren. Zugegebenermaßen war Jenni von allen Bekanntschaften heute die sympathischste gewesen.

Eine Gänsehaut überkam Jola, als sie den gepflasterten Weg Richtung Kirche entlangging und an die Geschichte mit Jennis Exfreund denken musste. Der Typ musste wirklich krank gewesen sein. Egal, was zwischen zwei Menschen vorgefallen war – mit einem Messer auf jemanden loszugehen, zeugte von einem gewaltigen Sprung in der Schüssel. Ihre Blicke streiften die Wände der Gasse, durch die sie schritt, auf denen jemand versucht hatte, sich künstlerisch zu verewigen. Die mit Lackfarbe gesprühten Worte sowie eine Abbildung des männlichen Genitals ließen daraus schließen, dass seine wahre Begabung wohl in anderen Fachgebieten lag.

Sie passierte die Kirche und obwohl sie nicht weit vom Hauptplatz und der großen Faschingsparty entfernt war, war sie die einzige Person hier um diese Uhrzeit. Zumindest dachte sie das.

Jola blieb abrupt stehen, hinter sich hörte sie Schritte und ein Rascheln. Der Gedanke an Jennis psychopathischen Exfreund kam ihr wieder in den Sinn. Was, wenn …?

Plötzlich wurde ihr eine Hand auf den Mund gepresst. Innerhalb weniger Sekunden wurde sie hinter einen nahegelegenen Busch gezerrt. Jola wollte um Hilfe rufen, aber kaum ein Laut verließ ihren Mund. Panisch schlug sie um sich, aber es half nichts. Sie wurde von hinten auf den Boden gedrückt. Der Versuch, zuzubeißen, scheiterte kläglich.

„Mmmpphph!“ Mehr konnte sie nicht von sich geben und auch dieser Laut erstickte hinter ihren geschlossenen Lippen. Jola zappelte, schaffte es aber nicht, sich umzudrehen. Sie konnte nicht einmal sagen, ob es eine oder mehrere Personen waren, die sie da festhielten, aber sie vermutete mindestens zwei.

Dann geschah das, wovor sie sich am meisten fürchtete: Ihr wurde mit Gewalt die Strumpfhose runtergezogen. Nein, nein! Bitte nicht! Jola wollte nach den Gestalten treten, aber ihre Beine wurden auf den Boden gedrückt.

„Mmmmppppph!“ Tränen traten aus Jolas Augen.

Als ihr das Höschen runtergezogen wurde, spürte sie eine Panik und Kraft in sich hochkommen, die sie zuvor noch nie erlebt hatte. Sie schlug noch wilder um sich und glaubte, einen der Peiniger getroffen zu haben. Aus dem Griff des anderen hatte sie sich ebenso befreit und kroch auf allen vieren davon. Dabei scheuerte sie sich die Knie am Asphalt auf. Gierig sog sie die kalte Luft ein und schrie um Hilfe. Mit einer Hand griff sie nach ihrem Höschen und als sie es hochziehen wollte, bekam sie einen Schlag gegen die Schläfe und ihr Kopf prallte unsanft auf dem harten Untergrund auf. Das Einzige, das sie mitbekam, war, dass sie jemand grob an den Oberschenkeln packte und zurückzog. In dem Moment musste sie an ihre Eltern denken. Jola glaubte, sich selbst noch das Wort Mama murmeln zu hören, ehe ihre Sicht verschwommen wurde und sie gar nichts mehr wahrnahm.

Aller guten Dinge

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