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6 Wozu man Sprache braucht – Sprachfunktionen

Die kommunikative Funktion

Die Frage danach, wozu die Sprache den Menschen dient, scheint auf den ersten Blick etwas abwegig, so selbstverständlich ist es uns, sie als das Mittel aufzufassen, mit dessen Hilfe wir uns verständigen. Die Sprache benutzen wir also – was sonst? – zur Kommunikation. Immerhin können wir weiter fragen: Was ist denn Kommunikation, welchem Zweck dient sie? Dem Gedankenaustausch oder, moderner ausgedrückt, der Informationsübermittlung? So einfach ist es gewiss nicht, und im vorigen Kapitel haben wir natürlich nicht zufällig Beispiele betrachtet, für die eine solche Kennzeichnung nicht ausreicht. Gewiss, den drei Texten aus dem Hohlspiegel können wir jeweils Informationen entnehmen, u.a. dass Feldbusch gegen Ikea geklagt hat und dass jemand ein Buch gegen einen Kinderwagen tauschen will. Im |30◄ ►31| zweiten Fall (wenn der Text überhaupt ernst gemeint war) geht es aber schon einmal gar nicht so sehr um eine Information, sondern um ein Angebot. Der Schreiber will nicht einfach, dass andere wissen, dass er einen Tausch machen will, er will jemanden zum Tausch anregen und hat zu diesem Zweck der Information auch seine Telefonnummer beigegeben, nicht weil es ihm wichtig wäre, dass die Leute wissen, welche Telefonnummer der Tauschwillige hat, sondern damit ein Interessent ihn anrufen kann. Diese Telefonnummer ist allerdings im Hohlspiegel geschwärzt, unleserlich gemacht, so dass der Aufruf zum Anruf gar nicht mehr wirksam werden kann und dem Text allenfalls eine andere Funktion zukommt. Er dient natürlich – wie die anderen Texte aus dieser Rubrik auch – zur Belustigung der Leser. Auch das müssen wir wohl als eine kommunikative Funktion betrachten, wenn wir unter kommunikativer Funktion den (beabsichtigten) Effekt verstehen wollen, den eine Äußerung beim Hörer oder Leser auslöst: Er erweitert seine Kenntnisse, er wird zu einer Handlung angeregt, er ist belustigt – die Äußerung hat also Wirkungen mindestens auf der kognitiven, der praktischen und der emotionalen Ebene.

Nicht-kommunikativer Sprachgebrauch

So selbstverständlich dem common sense die Annahme ist, die Sprache sei ein Kommunikationmittel, so leicht ist es dennoch, sich auch aus dem Alltag Erfahrungen bewusst zu machen, die zeigen, dass diese Funktionsbeschreibung nicht ausreicht. Zu diesen Erfahrungen gehört, dass es auch sprachliche Äußerungen gibt, denen man kaum einen kommunikativen Zweck zuschreiben kann. Wie ist es z.B. zu verstehen, dass Leute auch sprechen, ohne dass irgendjemand in Hörweite ist (oder ein Aufnahmegerät die Worte speichert)? Oder dass sie gar ganze Bücher schreiben, ohne die Absicht zu haben, sie je einem anderen zum Lesen zu geben, die sie vielleicht sogar wegschließen, um zu verhindern, dass ein fremdes Auge einen Blick hineinwirft, wie es manche mit ihren Tagebüchern tun? Oder wie ist es zu verstehen, dass Leute Briefe an andere Personen schreiben – mit der festen Absicht, sie nicht abzuschicken? Kommunizieren diese Menschen dann mit sich selbst? Das kommt natürlich häufig vor: Man schreibt Einkaufslisten oder sonstige Notizen, um sich diese Informationen zu einem späteren Zeitpunkt – wenn man möglicherweise nicht ganz derselbe ist, nämlich gewisse Dinge vielleicht vergessen hat – selbst zu geben. Man liest sein Tagebuch, um sich zu vergegenwärtigen, was früher geschehen ist, wie man die Dinge erlebt, was man empfunden hat, vielleicht auch, um eine bestimmte Stimmung wiederzufinden.

Selbstgespräche Die kognitive Funktion

Dergleichen kann allerdings für Selbstgespräche (sofern man sie nicht speichert) natürlich nicht gelten. Führen Sie Selbstgespräche? Was ist ein Selbstgespräch? Wenn wir unter einem Selbstgespräch verstehen, dass jemand laut vor sich hinredet, gleichgültig, ob ein anderer da ist und jedenfalls ohne sich an jemanden zu wenden, dann wird es wohl viele Leute geben, die so etwas nicht tun und es gar als pathologisches Phänomen betrachten. Wenn wir dazu jedoch auch die Fälle zählen, in denen wir nicht unbedingt etwas Hör- oder Sichtbares produzieren, dann ist Selbstgespräch nur ein anderes Wort für ›nachdenken‹, und das tun wir alle. Man mag Nachdenken nun für einen Unter- bzw. Grenzfall von Kommunikation halten oder nicht, auf jeden Fall haben wir es hier nicht mit Informationsübermittlung zu tun! Eine Information, oder besser die Gedanken, sind noch gar nicht da, sondern sie werden beim Reden oder Schreiben erst entwickelt. Insofern ist Sprache mindestens auch ein Mittel des Denkens, hat also kognitive Funktion (vgl. dazu Textbeispiel 6).

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Textbeispiel 6: Über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden

Wenn du etwas wissen willst und es durch Meditation nicht finden kannst, so rate ich dir, mein lieber, sinnreicher Freund, mit dem nächsten Bekannten, der dir aufstößt, darüber zu sprechen. Es braucht nicht eben ein scharfdenkender Kopf zu sein, auch meine ich es nicht so, als ob du ihn drum befragen solltest: nein! Vielmehr sollst du es ihm selber allererst erzählen. Ich sehe dich zwar große Augen machen, und mir antworten, man habe dir in frühern Jahren den Rat gegeben, von nichts zu sprechen, als nur von Dingen, die du bereits verstehst. Damals aber sprachst du wahrscheinlich mit dem Vorwitz, andere, ich will, daß du aus der verständigen Absicht sprechest, dich zu belehren, und so könnten, für verschiedene Fälle verschieden, beide Klugheitsregeln vielleicht gut nebeneinander bestehen. Der Franzose sagt, l’appétit vient en mangeant, und dieser Erfahrungssatz bleibt wahr, wenn man ihn parodiert, und sagt, l’idée vient en parlant. Oft sitze ich an meinem Geschäftstisch über den Akten, und erforsche, in einer verwickelten Streitsache, den Gesichtspunkt, aus welchem sie wohl zu beurteilen sein möchte. Ich pflege dann gewöhnlich ins Licht zu sehen, als in den hellsten Punkt, bei dem Bestreben, in welchem mein innerstes Wesen begriffen ist, sich aufzuklären. Oder ich suche, wenn mir eine algebraische Aufgabe vorkommt, den ersten Ansatz, die Gleichung, die die gegebenen Verhältnisse ausdrückt, und aus welcher sich die Auflösung nachher durch Rechnung leicht ergibt. Und siehe da, wenn ich mit meiner Schwester davon rede, welche hinter mir sitzt, und arbeitet, so erfahre ich, was ich durch ein vielleicht stundenlanges Brüten nicht herausgebracht haben würde. Nicht, als ob sie es mir, im eigentlichen Sinne sagte; denn sie kennt weder das Gesetzbuch, noch hat sie den Euler, oder den Kästner studiert. Auch nicht, als ob sie mich durch geschickte Fragen auf den Punkt hinführte, auf welchen es ankommt, wenn schon dies letzte häufig der Fall sein mag. Aber weil ich doch irgend eine dunkle Vorstellung habe, die mit dem, was ich suche, von fern her in einiger Verbindung steht, so prägt, wenn ich nur dreist damit den Anfang mache, das Gemüt, während die Rede fortschreitet, in der Notwendigkeit, dem Anfang nun auch ein Ende zu finden, jene verworrene Vorstellung zur völligen Deutlichkeit aus, dergestalt, daß die Erkenntnis, zu meinem Erstaunen, mit der Periode fertig ist. Ich mische unartikulierte Töne ein, ziehe die Verbindungswörter in die Länge, gebrauche auch wohl eine Apposition, wo sie nicht nötig wäre, und bediene mich anderer, die Rede ausdehnender, Kunstgriffe, zur Fabrikation meiner Idee auf der Werkstätte der Vernunft, die gehörige Zeit zu gewinnen. Dabei ist mir nichts heilsamer, als eine Bewegung meiner Schwester, als ob sie mich unterbrechen wollte; denn mein ohnehin schon angestrengtes Gemüt wird durch diesen Versuch von außen, ihm die Rede, in deren Besitz es sich befindet, zu entreißen, nur noch mehr erregt, und in seiner Fähigkeit, wie ein großer General, wenn die Umstände drängen, noch um einen Grad höher gespannt.

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Die emotionale Funktion

Die meisten Fälle, in denen jemand laut spricht, ohne sich an andere zu wenden, dürften allerdings nicht in diese Kategorie gehören. Viel gängiger sind nämlich Lautäußerungen als Ausdruck eines emotionalen Zustandes. Gemeint sind damit weniger die Gefühlslaute, die dem Ausdruck von Schmerz, Schreck, Überraschung usw. dienen, allerdings unwillkürlich hervorgebracht werden. Vielmehr ist hier an Äußerungen z.B. des Unmuts zu denken, die sich sogar zu elaborierten Schimpftiraden auswachsen können. Höfliche bzw. beherrschte Personen ersparen anderen, dies mit anhören zu müssen und wählen deshalb absichtlich eine Situation, in der sie allein sind. Die Funktion dieser Gefühlsäußerungen ist gut vergleichbar mit der bestimmter körperlicher Reaktionen wie mit den Füßen trampeln, gegen die Wand schlagen, Geschirr auf den Boden werfen usw.; sie dienen (recht wirksam) der Abfuhr von Energie, der psychischen Entlastung. Man will diese Gefühle nicht kommunizieren, sondern bloß loswerden. Hier können wir von der emotionalen Funktion von Sprache sprechen.

Verschiedene Funktionen kommen gemeinsam vor

Freilich schließen sich die emotionale und die kommunikative Funktion keineswegs aus, vielmehr kommen sie oft gemeinsam vor. Manche warten ja z.B. sehnlichst darauf, dass der Bösewicht endlich erscheint, damit sie in seiner Gegenwart Geschirr gegen die Wand und ihm Schimpfwörter an den Kopf werfen können – worin man wiederum einen Grenzfall sprachlicher Kommunikation sehen kann. Eine ausgebaute kommunikative Funktion psychisch zugleich entlastender Rede finden wir, wenn man jemandem von seinem Freud und Leid erzählt. Wir brennen ja oft geradezu darauf, dass jemand kommt, mit dem wir sprechen, dem wir etwas erzählen, bei dem wir uns aussprechen können. Und natürlich ist dabei zugleich die kognitive Funktion relevant: Wir hoffen ja wohl, dass wir z.B. beim und durch das Besprechen einer schwierigen Situation auf neue Gedanken zur Lösung kommen, dass wir sie auf diese Weise aus den verschiedensten Blickwinkeln betrachten können und sie sich uns dann vielleicht anders darstellt.

Die Informationsfunktion

Damit kommen wir noch einmal auf die Funktion zurück, die wir oben als die informative bezeichnet haben. Was ist Information? Im Alltagsgebrauch wird dieses Wort oft als Mitteilung über einen Sachverhalt verstanden, wobei eigentlich vorausgesetzt ist, dass dieser Sachverhalt auch existiert, die Information also eine wahrheitsgemäße Mitteilung ist. Entsprechend gibt es zu Ausdrücken wie Fehl- oder

Sprache bildet die Welt nicht ab

Desinformation auch keine positiven Gegenbegriffe wie Wahr-, Richtiginformation|33◄ ►34| oder dergleichen. Dass eine Information einen Sachverhalt korrekt wiedergibt, ist normalerweise impliziert. Dennoch würden wir nicht zögern, die Mitteilung, Verona Feldbusch wolle nicht mit einer Lampe von Ikea in Verbindung gebracht werden, als eine (Zeitungs-) Information zu bezeichnen, selbst wenn wir skeptisch sind, ob es auch wirklich so war, wie es in der Zeitung stand. Man kann Information also auch verwenden im Sinne von ›Aussage oder Aussagenkomplex, über dessen Korrespondenz zur Wirklichkeit nicht entschieden ist‹. Sicher ist, dass es sehr viele Aussagen und Mitteilungen gibt, die falsch sind; schwieriger ist es schon zu entscheiden, ob es auch Aussagen gibt, die wahr sind. Das würde nämlich eigentlich voraussetzen, dass eine Aussage einem Sachverhalt exakt korrespondieren kann, und das wiederum setzt voraus, dass die Sprache bzw. sprachliche Äußerungen die Wirklichkeit abbilden. Aber was sollte das bedeuten? Wie kann es eine exakte Korrespondenz zwischen wesensmäßig so unterschiedlichen Phänomenen wie einem außersprachlichen Sachverhalt und einer sprachlichen Aussage geben? Man denke in diesem Zusammenhang an das berühmte Bild von Magritte, das den Umschlag dieses Buches schmückt: Ceci n’est pas une pipe.

Wenn wir zugestehen wollen, dass es doch eine solche Korrespondenz geben könnte, stellt sich eine weitere Frage: In welcher Sprache könnten Aussagen diese exakte Korrespondenz zur Wirklichkeit aufweisen? Es lassen sich doch oft genug Aussagen aus verschiedenen Sprachen nicht einmal exakt ineinander übersetzen, welches sollte also die ›richtige‹ sein? Dann stellt sich ein weiteres Problem: Was machen wir mit den vielen falschen Aussagen? Diese bilden die Wirklichkeit ja nun ganz gewiss nicht ab. Schließlich sind wir auch noch oft mit Aussagen konfrontiert, die weder ganz wahr noch ganz falsch sind – tendenziösen, irgendwie gefärbten, die den Sachverhalt in einem bestimmten Licht erscheinen lassen, wie sie Karl Kraus (Textbeispiel 7) aufs Korn nimmt: Wie kann eine Verteilung keine ideale sein, wenn sie nicht einmal eine reale war?

Fazit: Wenn wir daran festhalten wollen, dass wir sprachliche Äußerungen zur Informationsübermittlung benutzen können (und das sollten wir sicherlich tun), dann müssen wir uns darüber klar sein, dass mit Information nicht ›korrekte Abbildung eines Sachverhalts‹ gemeint sein kann. Äußerungen geben bestimmte Bilder über Sachverhalte, sie stellen sie irgendwie dar, falsch, richtig, irgendetwas dazwischen … Außerdem kann man natürlich auch Sachverhalte darstellen, die gar nicht existieren; man kann ja auch Bilder von Einhörnern malen – und Geschichten über diese Wesen erzählen.

Karl Bühler: Das Organonmodell

Mit dem bisher Ausgeführten haben wir bereits alle Elemente genannt, die in das bekannteste Modell über Sprachfunktionen, das Organonmodell des Psychologen Karl Bühler (1879 – 1963) eingegangen |34◄ ►35| sind (Abbildung 6). Bei der Entwicklung seines Funktionsmodells (in einer ersten Version 1918 vorgestellt) greift Bühler auf Platon zurück und erklärt: »Ich denke, es war ein guter Griff PLATONs, wenn er im Kratylos angibt, die Sprache sei ein organum [griech. organon: ›Werkzeug‹], um einer dem andern etwas mitzuteilen über die Dinge.«4 Die Faktoren einer (Sender) – dem andern (Empfänger) – über die Dinge (Gegenstände und Sachverhalte) betrachtet Bühler als die drei grundlegenden »Relationsfundamente«, zu denen eine Äußerung in Beziehung gesetzt werden kann. Je nachdem, um welchen der drei Faktoren es sich handelt, geht es um eine andere Funktion der Sprache:

Textbeispiel 7: Philosophie des Mangels

Ein ungarischer Journalist behauptet, der Präsident des deutschen Kriegsernährungsamtes habe zu ihm gesagt:

Die Verteilung der Lebensmittel war bisher keine ideale … Gegen den Fleischmangel kann man leider gegenwärtig nichts tun, da die zur Verfügung stehende Menge gering ist.… Von einem drohenden Fleischmangel ist keine Rede. Der Verbrauch an Kartoffeln ist jetzt größer, weil wir an den anderen Lebensmitteln keinen Überfluß haben.

Solche Verwirrung entsteht, wenn die Arbeit von guten Reden begleitet wird. Wenn von einem drohenden Fleischmangel keine Rede ist, so hätte der Präsident des deutschen Kriegsernährungsamtes sie auch nicht halten sollen. Denn er wollte doch wohl nicht sagen, daß von einem drohenden Fleischmangel deshalb keine Rede sei, weil er selbst einen schon bestehenden zugegeben hat, gegen den man nichts tun könne, »da die zur Verfügung stehende Menge gering ist« oder, um eine andere Definition des Mangels zu geben, da wir »keinen Überfluß haben«. Auch könnte selbst eine Weltanschauung, die die Lebensmittel ideologisch verklärt, von deren Verteilung unmöglich sagen, sie sei keine ideale gewesen, wenn sie nicht einmal eine reale war. Es ist ja schwer, an jedem Symptom die Wurzel des Übels aufzuzeigen. Aber wenn die Führenden plötzlich einsehen wollten, daß sie durch den Umgang mit den Schreibenden das Kraut nicht fett machen, traun, es würde von selbst wieder fett!

Meine Anregung

geht dahin, das Ernährungsamt, das vielerlei Agenden haben dürfte, in ein Oberernährungsamt und in ein Unterernährungsamt einzuteilen.


Darstellungsfunktion, Ausdrucks- /Symptomfunktion, Appellfunktion

Das, was die Beziehung zu den Dingen, zur außersprachlichen Welt, betrifft, nennt Bühler die Darstellungsfunktion. Das Zeichen fungiert seiner Auffassung nach hier als ein Symbol – dabei dürfen wir freilich nicht an symbolisch im Sinne von ›sinnbildlich, von tieferer Bedeutung‹ denken; es handelt sich vielmehr um das Symbol als Merkzeichen. Um die Beziehung zum Sender geht es bei der Ausdrucksfunktion. Hier fungiert das Zeichen als ein Symptom, das auf irgendwelche Befind-lichkeiten |35◄ ►36| des Senders schließen lässt. Dabei kann es sich um seinen emotionalen Zustand handeln (er drückt Freude oder Wut aus), aber auch um gewisse Eigenschaften, die der Sender vielleicht gar nicht absichtlich ausdrückt. Zum Beispiel kann eine bestimmte Dialektfärbung seiner Redeweise Symptom für seine Herkunft sein, die der Sender möglicherweise lieber verborgen hätte. Die Ausdrucksfunktion wird deswegen auch als Symptomfunktion bezeichnet. In Bezug auf den Hörer schließlich fungiert das Zeichen nach Bühler als Signal, das äußeres oder inneres Verhalten auslöst. Hier hat die Rede Appellfunktion.


Abb. 6: Karl Bühlers Organonmodell

Roman Jakobson: Drei weitere Sprachfunktionen

Das Organonmodell hat Roman Jakobson (1896 – 1982) ergänzt, indem er drei weitere grundlegende Faktoren einbezieht.5 Modifiziert man in seinem Sinne die grafische Darstellung von Bühler, ergibt sich etwa Abbildung 7. Zunächst berücksichtigt Jakobson auch äußerungsinterne Relationen, da ja das eingesetzte ›Werkzeug‹, eine Äußerung, eine innere Komplexität aufweist. Besonders an Phänomenen wie Reim oder Alliteration lässt sich sehr gut erkennen, dass es Beziehungen gibt, die sich nur innerhalb des Textes ergeben und damit einem ›Bezug des Zeichen(komplexe)s auf sich selbst‹ entsprechen. Jakobson bezeichnet dies als die poetische Funktion; sie kommt aber keineswegs nur in literarischen Texten zum Tragen. In dem Werbespruch Milch macht müde Männer munter konstituiert z.B. das fünfmal wiederholte m am Anfang eine zusätzliche lautliche Beziehung zwischen den Wörtern

Die poetische Funktion

(zusätzlich zu den grammatischen und inhaltlichen Beziehungen). Diese gibt dem Spruch eine Dichte und Einprägsamkeit, die durch das |36◄ ►37| inhaltlich etwa entsprechende Milch gibt erschöpften Männern wieder Kraft nicht erreicht werden kann.


Abb. 7: Modifiziertes Organonmodell nach Jakobson

Die metasprachliche Funktion Metakommunikation

Ein weiteres notwendiges Element jedes sprachlichen Kommunikationsaktes stellt die Sprache (langue) selbst als ein Zeichensystem dar, auf das jede Äußerung bezogen ist, insofern sie in dieser Sprache – Jakobson benutzt hier den Ausdruck Kode – ausgedrückt wird. Denn jedes Einzelzeichen muss einem bestimmten System zugeordnet werden, um (richtig) verstanden zu werden. So gibt es z.B. das Wort mit sowohl im Deutschen als auch im Französischen, dort bedeutet es jedoch ›legte‹. Dass wir ein Sprachzeichen auf das gemeinte System beziehen müssen, versteht sich von selbst. Wieso sollen wir aber annehmen, dass sich damit eine besondere Funktion der Sprache verbindet? Der Grund hierfür liegt darin, dass die Sprache ein außerordentlich flexibles und variables Kommunikationsmittel ist und wir sie auch benutzen können müssen, um das System an unsere jeweiligen Bedürfnisse anzupassen oder den Gebrauch, den wir von der Sprache machen, zu klären. Dies macht es oft notwendig, sich über die Bedeutung oder die jeweilige Verwendung einzelner Zeichen oder auch Zeichensysteme zu verständigen, z.B. Was bedeutet der Ausdruck Pidgin? Was meinst du mit Selbstgespräch? Darf man hier Dialekt sprechen? Eine Anpassung liegt z.B. dann vor, wenn |37◄ ►38| wir neue Wörter einführen oder Konventionen ändern wollen: Mit Saussure sprechen wir auch in der deutschen Sprachwissenschaft von langue; Wollen wir nicht ›du‹ zueinander sagen? Da es sich hier um das Sprechen über Sprache handelt, wird dies als die metasprachliche Funktion von Sprache bezeichnet (zu griechisch meta-, was u.a. ›über‹ bedeutet). Im Alltag sprechen wir allerdings seltener über die Sprache selbst (über das System), sondern eher über die Kommunikation (Du sollst mir nicht sagen, was dieser Ausdruck im Deutschen alles bedeuten kann. Ich will wissen: Was meinst du jetzt und hier mit dem Ausdruck?) Um uns auf solche Kommunikation über Kommunikation zu beziehen, sprechen wir parallel von Metakommunikation.

Die Kontaktfunktion

Schließlich bezieht Jakobson auch die Tatsache ein, dass eine Äußerung ja irgendwie übermittelt werden muss, dass es einen physischen Kontakt zwischen Sender und Empfänger geben muss. Besonders deutlich ist dies, wenn der Kontakt durch eine technische Stütze etabliert wird, wie es beim Telefongespräch der Fall ist. Auf diesen Faktor bezieht sich z.B. die Frage am Telefon Sind Sie noch da?, die ausschließlich dazu dient, zu überprüfen, ob die Übermittlung noch funktioniert. Aber natürlich dienen sprachliche Äußerungen auch in ganz anderer Hinsicht der Aufrechterhaltung menschlichen Kontakts. Beispielsweise wird über irgendetwas (möglichst Unverfängliches) auch dann noch gesprochen, wenn man sich eigentlich gar nichts mitzuteilen hat, wenn z.B. einander unbekannte Personen beim Zusammentreffen im Aufzug einige Worte austauschen. Diese Funktion wird oft als Kontaktfunktion bezeichnet. Jakobson nennt sie im Anschluss an den Ethnologen Bronislaw Malinowski – dieser hat sich ausführlicher mit der gemeinschaftsbildenden Bedeutung von weitgehend inhaltsleerem Sprechen um des Sprechens willen beschäftigt – die phatische Funktion (dies geht auf griechisch phatis ›Rede‹ zurück, was allerdings auch nicht viel erklärt).

Und schließlich: Die soziale Funktion

Wir können nun den Gedanken, dass Sprache eine gar nicht zu überschätzende Funktion für das menschliche Miteinander hat, noch etwas weiter führen und Sender und Empfänger – so ähnlich wie ein einzelnes Zeichen als Element einer Sprache – als Angehörige eines umfassenden ›Systems‹ betrachten, nämlich der Gesellschaft, in der sie leben. Sprache dient nämlich auch – und nicht zuletzt – der gesellschaftlichen Organisation, sie hat soziale Funktion. Zunächst ist es ja offensichtlich, dass sich die Menschheit mittels Sprache, genauer: der Vielfalt von Sprachen, in verschiedene Gemeinschaften aufgliedert. Wer noch immer der Auffassung anhängt, die babylonische Sprachverwirrung sei eine Strafe Gottes oder auf jeden Fall von Übel, der möge sich nur vor Augen halten, dass wir die Sprache als Mittel der sozialen Organisation auch dort noch gebrauchen, wo dies nicht notwendigerweise mit Verstehensproblemen einhergeht. Deutsche verstehen z.B. (Deutsch-) Schweizer sehr gut – nicht wenn sie ihren Dialekt, wohl aber wenn sie ihre Variante der Hochsprache sprechen –, aber sie erkennen sehr leicht, woher die Person kommt. Die Deutschschweizer verstehen sich untereinander auch bestens, wenn sie miteinander – jeder in seinem – Dialekt sprechen (für sie die übliche Kommunikationsform im Alltag); und auch sie können aus der Sprache Rückschlüsse über die Herkunft und den Lebensraum des Gesprächspartners ziehen. Verständigen könnten sie sich auch in der Standardsprache, aber dann ginge ihnen viel von ihrer Identität verloren. Denn Sprache kann man eben – viel bequemer als Kleidung, materielle Güter oder Parteiabzeichen – auch zur Selbstdarstellung nutzen, um sich über sie mit bestimmten Gruppen zu identifizieren oder aber von anderen abzugrenzen. Nicht nur Dialekte, sondern sprachliche Varietäten, alle Arten als ›anders‹ erkennbarer sprachlicher Verhaltensweisen überhaupt, dienen also auch der Identifikation verschiedener Gruppen innerhalb einer Sprachgemeinschaft. Wie weit man dabei mit viel Übung gelangen könnte, zeigt das Textbeispiel 8.

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Textbeispiel 8: Die Sprache ist ein Hologramm

Das Institut für Eskimologie liegt in der Fiolstræde. Ich rufe aus einer Telefonzelle am Markt an und werde zu einem Dozenten durchgestellt, der so klingt, als sei er grönländischer Abstammung. Ich erkläre, daß ich ein Band auf ostgrönländisch habe, das ich nicht verstehe. Er fragt, warum ich nicht in das Grönländerhaus gehe.

»Ich will einen Experten. Es geht nicht nur darum zu verstehen, was gesagt wird, ich möchte auch den Sprecher identifizieren. […]« […]

Vor ihm auf dem Tisch steht ein flacher, mattschwarzer, quadratischer Kassettenrecorder. Er legt das Band ein. Der Ton kommt von weit her aus Lautsprechern irgendwo an den Rändern des Raumes. […]

Er hat das Gesicht in den Händen und hört eine halbe Minute lang zu. Dann hält er das Band an.

»Mitte Vierzig. Um Angmagsalik herum aufgewachsen. Nur sehr geringe Schulbildung. Auf ostgrönländischem Fundament eine Spur nördlicherer Dialekte. Aber da oben ziehen sie zuviel herum, als daß man sagen könnte, welche. Wahrscheinlich ist er nie längere Zeit aus Grönland weggewesen.«

Er sieht mich mit hellgrauen, fast milchigen Augen mit einem Ausdruck an, als warte er auf etwas. Plötzlich weiß ich, was es ist. Der Beifall nach dem ersten Akt.

»Beeindruckend«, sage ich. »Läßt sich noch mehr sagen?«

»Er beschreibt eine Reise. Übers Eis. Mit Zugschlitten. Wahrscheinlich ist er Robbenfänger, denn er benutzt eine Reihe von Fachausdrücken, wie zum Beispiel anut für die Hunderiemen. Wahrscheinlich spricht er zu einem Europäer. Für die Lokalitäten benutzt er englische Bezeichnungen. Und mehrere Dinge meint er wiederholen zu müssen.«

Er hat sich das Band nur ganz kurz angehört. Ich überlege mir, ob er mich zum Narren hält.

»Sie mißtrauen mir«, sagt er kalt.

»Ich wundere mich nur darüber, daß man aus so wenig so viel erschließen kann.«

»Die Sprache ist ein Hologramm.«

Er sagt das langsam und nachdrücklich.

»In jeder Äußerung eines Menschen liegt die Summe seiner sprachlichen Vergangenheit. Nehmen Sie doch nur sich selbst … Sie sind Mitte Dreißig. In Thule oder nördlich davon aufgewachsen. Ein Elternteil oder beide Eltern inuit. Sie sind nach Dänemark gekommen, nachdem Sie die grönländische Sprachgrundlage bereits vollständig erworben hatten, aber noch bevor Sie das instinktive Talent des Kindes zur perfekten Erlernung einer Fremdsprache verloren hatten. Sagen wir, Sie waren zwischen sieben und elf Jahre alt. Danach wird es schwerer. Sie zeigen Spuren verschiedener Soziolekte. Sie haben vielleicht in den vornehmen nördlichen Vororten gewohnt oder sind da zur Schule gegangen, in Gentofte oder Charlottenlund. Da ist auch etwas eigentlich Nordseeländisches. Und seltsamerweise auch eine spätere Andeutung von Westgrönländisch.«

Ich mache keinen Versuch, meine Bewunderung zu verbergen.

»Das ist richtig«, sage ich. »Im großen und ganzen ist das richtig.«

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Sprache: Wege zum Verstehen

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