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12 Sprache als Mittel des Denkens: Die Kategorisierung der Welt

Bei der Betrachtung der Bedeutungsbeschreibung in Wörterbüchern waren wir bereits auf die Wichtigkeit der Polysemie von Lexemen für das Funktionieren einer natürlichen Sprache gestoßen. Die Polysemie von Lexemen kommt vor allem dadurch zustande, dass ein Ausdruck, der eigentlich für eine bestimmte Art von Referenten gebraucht wird, auch für ganz andere Referenten verwendet werden kann, die in irgendeiner Ähnlichkeitsbeziehung dazu stehen. Wenn sich ein solcher Gebrauch einbürgert, liegt eine neue konventionalisierte Lesart vor.

Die Vielfalt der außersprachlichen Gegenstände

Schon in einer einzelnen Lesart referiert jedoch ein Lexem potenziell auf Gegenstände, die einander durchaus nicht besonders ähnlich sein müssen. So kann man als Sack sowohl einen großen Behälter aus Jute bezeichnen, in dem z.B. Kartoffeln oder Kohle transportiert werden und der oben zugebunden werden kann, als auch einen großen Sack aus festem Papier (z.B. für Zement), der nicht zugebunden, sondern nur verklebt werden kann, als auch z.B. einen kleinen Plastikbeutel, in dem gerade einmal ein Kilo Mohrrüben Platz hat und der an zwei Stellen auf die gleiche Weise verschweißt ist. In manchen Gegenden des deutschen Sprachraums (in der Schweiz) kann man dann auch noch Plastikbeutel oder Papiertüten, wie sie z.B. in Supermärkten |66◄ ►67| ausgegeben oder verkauft werden, als Säcke bezeichnen. Im Norden würde man dagegen bei der Bitte um einen (Plastik-) Sack wohl auf ziemliches Unverständnis an der Kasse stoßen. Auch wenn jemand von seinem Schweizer Sackmesser oder vom zu geringen Sackgeld spricht, reizt das viele Nordlichter zum Lachen. Bei ihnen heißt es nämlich Taschenmesser bzw. Taschengeld.

Ähnlichkeiten zwischen verschiedenen Gegenständen sind relativ

Nun ist es natürlich nicht so, dass die Norddeutschen nicht in der Lage wären, die große Ähnlichkeit zwischen einer Plastiktüte der Coop und einem kleinen Beutel für Gemüse zu erkennen, denn beide haben miteinander ja wohl mehr gemeinsam als mit dem großen Kartoffelsack. Auch die Ähnlichkeit von solchen Säcken oder Säckchen mit der Hosen- oder Jackentasche kann man nicht als besonders abwegig ansehen, wenn man sogar die Ähnlichkeit zum Tränensack erkennt. Verschieden sind also nicht die kognitiven Fähigkeiten (nämlich Ähnlichkeiten zu sehen), sondern lediglich die sprachliche Strukturierung der Welt.

Wir kommen damit auf Saussures Begriff der valeur und der Systemgebundenheit sprachlicher Zeichen zurück. Wir hatten im neunten Kapitel festgestellt: Die potenzielle Referenz eines Ausdrucks ergibt sich letztlich erst daraus, welche anderen Ausdrücke ihm an der Seite stehen. Während man im Englischen zwischen sheep und mutton differenziert, steht dem im Französischen nur mouton gegenüber. Gleiches gilt für unser Beispiel: Im Norddeutschen beschränkt die Existenz von Tasche die potenzielle Referenz von Sack, während dies im Süddeutschen – und erst recht im Französischen (sac) – nur zum Teil bzw. gar nicht der Fall ist. Letztlich bedeutet dies aber nichts anderes, als dass wir die Bedeutung, den Stellenwert (valeur), eines Lexems überhaupt nicht genau beschreiben können, ohne zugleich andere Lexeme zu berücksichtigen. Bedeutungsverwandte Ausdrücke müssen also im Zusammenhang gesehen werden, damit man feststellen kann, welche spezifische Strukturierung eines Weltausschnitts in einer bestimmten Sprache gegeben ist, d.h. für welche Kategorien es in der Sprache konventionalisierte Zeichen gibt.

Kategorisierung

Es geht also grundlegend um das Phänomen der Kategorisierung; diese erfolgt einerseits durch Abstraktion (kognitive Nivellierung von Verschiedenheiten), andererseits durch Differenzierung (kognitive Hervorhebung von Verschiedenheiten). Die beiden Vorgänge lassen sich folgendermaßen erläutern:

Abstraktion

Die Abstraktion ist notwendig, weil nicht jeder einzelne Gegenstand in der Welt einen eigenen ›Namen‹ bekommen kann. Man will ja oft eine Vielzahl von individuellen Objekten zu einer Klasse zusammenfassen und muss dabei von vielen ihrer besonderen Eigenschaften absehen. Man kann fast beliebig weit abstrahieren und z.B. sämtliche Unterschiede zwischen individuellen Objekten beiseite lassen; das geschieht mit Ausdrücken wie Ding oder quelque chose. Sehr viel weniger |67◄ ►68| (aber immer noch Milliarden von) Individuen werden in der Klasse zusammengefasst, für die es im Deutschen den Ausdruck Mensch gibt.

Differenzierung

Die Differenzierung ist notwendig, weil wir oft auch kleinere Klassen bilden, d.h. verschiedene Dinge gegeneinander abgrenzen wollen. Dabei müssen speziellere Eigenschaften herausgehoben werden. Mit Mensch beziehen wir uns z.B. nur auf solche Etwasse, die die Eigenschaften haben, ›Lebewesen‹ und ›menschlich‹ zu sein.

Eigennamen

Man kann auch beliebig weit differenzieren – im äußersten Fall bildet man gar keine Klasse mehr, sondern bezieht sich auf ein Etwas als ganz Individuelles. Dafür stehen spezielle sprachliche Ausdrücke zur Verfügung, nämlich Eigennamen: Johann Wolfgang von Goethe. Das reicht aber nicht immer aus: Herta Müller, verwitwete Adamzik, geb. am 11.6.1931 in Kiel könnte man nämlich verwechseln mit Herta Müller, Schriftstellerin, geb. 1953 in Nitzkydorf (Rumänien), 2009 mit dem Nobelpreis für Literatur ausgezeichnet.

Die Relativität von sprachlichen Kategorien

Man kann nicht nur beliebig weit abstrahieren bzw. beliebig fein differenzieren, vielmehr kann man im Prinzip auch auf beliebige Art differenzieren. Dies zeigt das Textbeispiel 12, dessen Kategorisierungen (Tiere, die dem Kaiser gehören; Tiere, die den Wassertopf zerschlagen haben; Tiere, die mit einem feinen Pinsel gezeichnet sind, usw.) uns wohl ziemlich absurd vorkommen. Allerdings ist jede Kategorisierung nur relativ gültig und sinnvoll. Wenn wir mit Kategorisierungen konfrontiert werden, die wir nicht gewohnt sind – und dies ist eben häufig schon der Fall, wenn man den konventionellen Kategorisierungen einer fremden Sprache oder Varietät begegnet –, löst das zwar oft Befremden oder Belustigung aus, in der Regel reicht jedoch einiger guter Wille, um die (relative) Nützlichkeit auch dieser fremden Kategorisierung zu begreifen. Auch ungewohnte Kategorisierungen, besonders wenn sie sehr fein sind, dienen nämlich im Allgemeinen bestimmten Zwecken: Je genauer man sich mit einem Gegenstandsbereich auseinandersetzt, desto genauer wird man differenzieren. Daher besteht auch eine wesentliche Eigenschaft von Wissenschaften in der Kreation neuer Differenzierungen, neuer Termini bzw. einer ganzen Fachsprache (ein Typ von Varietät). Wenn es z.B. für den an Sprache nicht weiter Interessierten ausreicht, über Ausdrücke wie Wort und Zeichen zu verfügen (diese kennt aber wirklich jeder Deutschsprachige), so sieht man sich bei genauerer Analyse des Gegenstandes veranlasst, weiter zu differenzieren und etwa zwischen Lexem und Wort oder signifiant und signifié zu unterscheiden.

Kategorienbildung mit komplexen Ausdrücken

Kategorienbildung ist jedoch nicht an die Kreation neuer Ausdrücke gebunden. Der Text von Borges und auch das Beispiel Herta Müller zeigen uns jedoch Folgendes: Wenn man beliebig (d.h. entsprechend sehr spezifischen Interessen und Bedürfnissen) kategorisieren will, dann greift man im Allgemeinen auf komplexe sprachliche Ausdrücke zurück: Einzelne Unterscheidungsmerkmale werden explizit genannt und miteinander kombiniert. Auf diese Weise ist jedwede Kategorienbildung (in jeder Sprache) möglich. Wiederum ist es gerade in wissenschaftlichen Untersuchungen oft notwendig, sehr spezielle Kategorien zu bilden. Beispielsweise könnte es für eine linguistische Untersuchung sinnvoll sein, die folgende Kategorie zu bilden: ›Personen, die zur Zeit in Genf ansässig sind, zwischen 1960 und 1980 geboren wurden, im August Geburtstag haben und deren Mutter zweisprachig ist‹. Nichts hindert, eine solche für die Untersuchung gebildete Kategorie dann auch noch mit einem sprachlichen Sonderzeichen zu belegen, etwa Zwimu (von zweisprachige Mutter), eine Vergleichsgruppe hieße dann natürlich Zwiva usw. Solche Ausdrücke für ›x-beliebige‹ Kategorien werden allerdings kaum eine Chance haben, in der Sprachgemeinschaft konventionalisiert zu werden, sie bleiben Ausdrücke der Gruppensprache der mitarbeitenden Forscher.

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Textbeispiel 12: Die vierzig Kategorien des Universums

In der Universalsprache, die John Wilkins um die Mitte des 17. Jahrhunderts erfand, definiert jedes Wort sich selber. Schon Descartes hatte in einem Brief, datiert vom November 1629, vermerkt, daß wir mit Hilfe der Zählung nach dem Dezimalsystem binnen eines einzigen Tages die Zählung sämtlicher Größenmengen bis zum Unendlichen erlernen und diese in einer neuen Sprache, nämlich in Ziffern, niederschreiben können, und hatte entsprechend die Bildung einer Allgemeinsprache vorgeschlagen, die das menschliche Denken organisieren und in sich befassen sollte. John Wilkins nahm um das Jahr 1664 diese Aufgabe in Angriff.

Erteilte das Universum in 40 Kategorien oder Genera auf, die sich ihrerseits in »Differenzen« und diese wiederum in »Spezies« unterteilten. Jedes Genus bezeichnete er mit einer Silbe aus zwei Buchstaben; jede Differenz mit einem Konsonanten; jede Spezies mit einem Vokal. Zum Beispiel: de bedeutet: Element; deb das erste der Elemente, das Feuer; deba einen Teil des Elements Feuer, eine Flamme. In der ähnlich konstruierten Sprache von Letellier (1850) bedeut ›a‹ soviel wie Tier; ›ab‹ Säugetier; ›abo‹ Fleischfresser; ›aboj‹ Katzengattung; ›aboje‹ Katze, ›abi‹ Pflanzenfresser, ›abiv‹ Pferdegattung usw. […] Die Wörter der analytischen Sprache John Wilkins’ sind keine plumpen willkürlichen Symbole. Jeder einzelne der Buchstaben, aus denen sie sich zusammensetzen, ist bezeichnend, so wie für die Kabbalisten die Buchstaben der Heiligen Schrift. […]

Nachdem wir Wilkins’ Methode definiert haben, müssen wir ein Problem untersuchen, das sich unmöglich oder nur schwer hintan halten läßt: die Gültigkeit der Vierzigertabelle, die der Sprache zugrunde liegt. Betrachten wir die achte Kategorie, unter die die Gesteine fallen. Wilkins unterteilt sie in gewöhnliche (Kiesel, Kies, Schiefer), in durchschnittliche (Marmor, Bernstein, Koralle), in kostbare (Perle, Opal), in durchsichtige (Amethyst, Saphir), in unlösliche (Steinkohle, Ton, Arsenik). Fast so beunruhigend wie die achte ist die neunte Kategorie. Sie führt uns vor Augen, daß die Metalle unvollkommen (Zinnober, Quecksilber), daß sie künstlich (Bronze, Messing), abfallartig (Eisenfeilspäne, Rost) und natürlich (Gold, Zinn, Kupfer) sein können. Die Schönheit hat ihren Ort in der sechzehnten Kategorie; sie ist ein lebendgebärender, länglicher Fisch. Diese Doppeldeutigkeiten, Überlagerungen und Fehlanzeigen erinnern an die Gebrechen, die Franz Kuhn einer gewissen chinesischen Enzyklopädie nachsagt, die sich betitelt: Himmlischer Warenschatz wohltätiger Erkenntnisse. Auf ihren weit zurückliegenden Blättern steht geschrieben, daß die Tiere sich wie folgt gruppieren: a) Tiere, die dem Kaiser gehören, b) einbalsamierte Tiere, c) gezähmte, d) Milchschweine, e) Sirenen, f) Fabeltiere, g) herrenlose Hunde, h) in diese Gruppierung gehörige, i) die sich wie Tolle gebärden, j) unzählbare, k) die mit einem ganz feinen Pinsel aus Kamelhaar gezeichnet sind, l) und so weiter, m) die den Wasserkrug zerbrochen haben, n) die von weitem wie Fliegen aussehen. Das bibliographische Institut in Brüssel befleißigt sich ebenfalls des Chaotischen: es hat das Weltall in tausend Unterteilungen zerstückelt. Nummer 262 entspricht dem Papst, 282 der römisch-katholischen Kirche, 263 dem Tag des Herrn, 268 den Sonntagsschulen, 289 dem Mormonismus und 294 dem Brahmanismus, Buddhismus, Schintoismus und Taoismus. Es schreckt vor den heterogensten Unterteilungen nicht zurück. So zum Beispiel Nummer 179: »Grausamkeit gegen Tiere. Tierschutz. Das Duell und der Selbstmord, moralisch betrachtet. Verschiedene Laster und Gebrechen. Verschiedene Tugenden und Qualitäten«.

Ich habe Wilkins, den unbekannten (oder apokryphen) chinesischen Enzyklopädisten und das Bibliographische Institut in Brüssel mit einer Aufstellung von Beliebigkeiten vorgeführt. Bekanntlich existiert keine Klassifikation des Universums, die nicht willkürlich und mutmaßlich ist. Aus einem sehr einfachen Grund: wir wissen nicht, was das Universum ist.

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Bei der Beschreibung des Systems einer Einzelsprache kommt es nun genau darauf an zu rekonstruieren, welche Kategorisierungen konventionalisiert sind, nämlich Lexemen der langue (eines Systems, das für eine ganze Sprachgemeinschaft oder größere Untergruppen davon verbindlich ist) entsprechen.

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Sprache: Wege zum Verstehen

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