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11 Wortbedeutungen im Bewusstsein der Sprecher

Können wir nun sagen, dass die eine oder die andere Lösung die richtige ist? Welche Aufgabe hat der Wörterbuchschreiber, der Lexikograf? Soll er erklären, wie es zu der Bedeutungsvielfalt von Lexemen (Polysemie) und zu verschiedenen Lexemen mit identischem signifiant (Homonymie) gekommen ist, oder ist es nur wichtig festzuhalten, welche Lexeme gegenwärtig konventionell in welchen Bedeutungen gebraucht werden? Die Frage stellt sich um so mehr, als es ja in der parole ständig zu neuen Bedeutungsübertragungen kommen kann. Wer z.B. seinen Computer nur zu Textverarbeitungszwecken benutzt (und das waren einmal viele!), für den könnte es durchaus naheliegen, ihn als Schreibmaschine zu bezeichnen. Soll man deswegen für das Lexem Schreibmaschine eine Lesart ›Computer, der nur mit einem Textverarbeitungsprogramm ausgestattet ist‹ rekonstruieren? Schließlich haben wir auch eine elektronisch unter einem bestimmten Namen gespeicherte Datenmenge schon als Dokument bezeichnet, als etwa das Duden Universalwörterbuch in diesem Zusammenhang nur die Lesarten ›Urkunde, amtliches Schriftstück‹ und ›Beweisstück, Zeugnis‹ vorsah, was ja nicht auf Computerdokumente passt. Inzwischen ist auch die folgende Variante verzeichnet: ›(EDV) strukturierte, als Einheit erstellte u. gespeicherte Menge von Daten; [Text]datei‹.

Synchronie und Diachronie im Wörterbuch

Bei der Beantwortung der Frage, was denn nun die Aufgabe des Lexikografen, oder allgemeiner: der Sprachwissenschaft, ist, sollten wir noch einmal an Saussures Überlegungen zurückdenken. Nach seiner Auffassung geht es in der Linguistik der langue um die Rekonstruktion des Sprachsystems zu einem gegebenen Zeitpunkt (Synchronie). Wie die Verhältnisse früher einmal waren – die Diachronie also – ist für die Rekonstruktion des Systems irrelevant. Folgt man dieser Auffassung streng, so sind irgendwelche Erklärungen sprachlicher Phänomene, für die man erst auf frühere Sprach- und Weltzustände zurückgreifen muss, für die Rekonstruktion des Systems ohne Bedeutung. Viele konkrete Entscheidungen bei der Beschreibung einer Einzelsprache, wie man sie etwa in Wörterbüchern und Grammatiken findet, werden denn auch tatsächlich mit dem synchronen Standpunkt begründet: Wenn eine Beziehung synchron nicht mehr einsehbar ist, wird sie nicht als Gegebenheit des Systems gerechnet. So betrachten wir z.B. den Ausdruck Eltern als nicht weiter analysierbares Lexem, obwohl er natürlich historisch mit alt-älter-(die) Älter(e)n zusammenhängt; aber tatsächlich dürfte heutzutage bei Eltern kaum jemand an diese Verbindung denken. Synchron ist die Beziehung also nicht mehr gegeben, das Lexem erscheint unmotiviert. So wird es auch verständlich, dass heutzutage (vor allem jugendliche) Sprecher ihre Eltern auch als meine|62◄ ►63| Alten bezeichnen, d.h. dass sie auf ein Lexem zurückgreifen, in dem wieder neu die relative Motiviertheit hergestellt ist.

Etymologische Wörterbücher

Die Aufdeckung synchron nicht mehr unmittelbar einsichtiger Beziehungen erleichtert uns aber das Lernen der Sprache und fördert unser Verständnis für ihr Funktionieren. Tatsächlich interessiert viele Sprachteilhaber an linguistischer Arbeit ganz besonders dieser Aspekt. Sie fragen: Wo kommt dieser Ausdruck her, wie kommt es zu dieser Bedeutung? Sie empfinden offenbar Vergnügen und Befriedigung, wenn sie erkennen können, dass etwas, was auf den ersten Blick arbiträr erscheint, doch relativ motiviert ist. Auch die Sprachwissenschaftler haben die diachrone Fragestellung natürlich nie ganz aus dem Auge verloren. Wir können also die Frage nach den Aufgaben der Lexikografen zunächst mit dem Hinweis auf eine Arbeitsteilung beantworten: Die diachron orientierte Linguistik beschäftigt sich mit der Frage nach der Entwicklung von Sprachen. Auf lexikografischem Gebiet fasst sie ihre Ergebnisse in etymologischen oder Herkunfts-Wörterbüchern zusammen, die auch für an Sprachfragen interessierte Laien aufschlussreich sein können. Die synchron orientierte Linguistik versucht dagegen, das Funktionieren eines sprachlichen Systems zu einem gegebenen Zeitpunkt zu beschreiben und vernachlässigt dabei die Frage nach dem Sprachwandel. In synchron orientierten Wörterbüchern (für die heutige Zeit also: Wörterbüchern der Gegenwartssprache) braucht sie nur die konventionellen Lexemverwendungen aufzubereiten, die im Augenblick geläufig sind. Solche Beschreibungen sind daher für Sprachteilhaber relevant, die vor allem wissen wollen, welche Konventionen im Moment gültig sind.

Die historische Tiefe des sprachlichen Wissens

Allerdings lassen sich beide Orientierungen dennoch nicht ganz scharf voneinander trennen. Dies hängt vor allem damit zusammen, dass die Rekonstruktion des synchronen Systems ja letzten Endes der Versuch ist, das sprachliche Wissen der Sprachteilhaber, also eine psychische Größe, zu rekonstruieren. Nun hat jedoch das sprachliche Wissen jedes einzelnen immer eine gewisse historische Tiefe. Wer schon 1920 gehört und gelesen hat, kennt selbstverständlich noch viele Lexemverwendungen, die heute ganz ungebräuchlich sind, und vielleicht kennt er viele nicht, die erst in neuester Zeit aufgekommen sind, weil er z.B. kaum mit jungen Leuten kommuniziert. Auch das Bewusstsein für bestimmte Zusammenhänge, die Motiviertheit von einzelnen Lesarten etwa, verschwindet in der Sprachgemeinschaft nicht plötzlich, sondern nur allmählich und kann überdies – z.B. durch etymologische Erläuterungen – auch immer wieder (re-)aktiviert werden. So kommt es dazu, dass manche Menschen den Zusammenhang zwischen den Lesarten von Schloss oder zwischen Eltern und alt erkennen und andere nicht. Außerdem werden sich manche für solche Zusammenhänge interessieren und andere nicht.

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Jeder Wörterbuchschreiber muss daher immer gewisse Kompromisse machen. Das Wörterbuch, aus dem wir unsere beiden Eingangsbeispiele entnommen haben, ist ein vor allem synchron orientiertes. Trotzdem führt es am Anfang der Einträge auch etymologische Erläuterungen an und greift hier und da auf historische Erklärungen zurück, z.B. wenn der Ausdruck Sack Zement als Entstellung aus Sakrament erklärt wird oder die Hintergründe für den Ausdruck der Weiße Sonntag aufgedeckt werden. Dies entspricht Zugeständnissen an den Tatbestand,

Ein synchroner Schnitt betrifft nicht einen Zeitpunkt, sondern einen größeren Zeitraum

dass ein wirklich synchroner Schnitt, die Momentaufnahme einer Sprache (z.B. Deutsch am 17.9.1998, 11 Uhr 50) ohnehin gar nicht möglich und auch nicht sinnvoll ist. Wie schnell sich nun allerdings die sprachlichen Verhältnisse wirklich ändern, ist außerordentlich schwer zu sagen. Leicht festzustellen ist hingegen, dass die Wörterbücher alle paar Jahre neu herausgegeben werden. Ist das eigentlich notwendig, muss man ständig das neueste haben, geht es dabei nur um Änderungen in der Orthografie, die die Diskussion im letzten Jahrzehnt ja beherrscht haben?

Das Textbeispiel 11 habe ich aus dem Duden. Das große Wörterbuch der deutschen Sprache in sechs Bänden entnommen, das im Jahre 1981 vollständig vorlag. Die 2. Auflage erschien in acht Bänden (1995), die 3. in zehn Bänden liegt seit 1999 vor. Wächst die deutsche Sprache so schnell und zunehmend rasant, dass man alle zwei Jahre einen neuen Band füllen kann? Schauen wir uns am Beispiel etwas genauer an, welche

Veränderungen beim Eintrag Sack

Veränderungen vorgenommen wurden: Der Eintrag zu Sack ist in der neuesten Version etwa doppelt so lang wie 1980 (in diesem Jahr erschien der 5. Band mit der Buchstabenstrecke O-So). Eine echte Neuigkeit in der Wirklichkeit ist der gelbe Sack, der erst mit dem dualen System der Müllbeseitigung in den 1990er Jahren auch als komplexes Lexem in die Welt kam, so dass erst in den Neuauflagen erklärt werden konnte: ›gelber Plastiksack, in dem recycelbare Wertstoffe gesammelt werden‹.

Alle anderen Änderungen beruhen meiner Einschätzung nach nicht auf Sprach- und/oder Weltwandel, sondern auf veränderten Prinzipien oder Entscheidungen der Wörterbuchmacher. Die wesentlichste, d.h. diejenige, die zu einer so bedeutenden Umfangserweiterung führt, besteht darin, dass viel großzügiger nicht nur Beispielsätze, sondern auch authentische Verwendungen, Belege also, aufgenommen werden, z.B.:

»Nachdem er als Moderator von ›Show u. Co. mit Carlo‹ … in den S. gehauen hat [Hörzu 19, 1986, 5]«,

»Zusatzlichter mit Batterie … lassen sich abnehmen und in den S. stecken (Basler Zeitung 2.10.1985, 27)«.

Häufiger geworden sind auch die Erklärungen zur (eventuellen) Herkunft von Phraseologismen: jemanden in den Sack stecken » geht wohl auf |64◄ ►65| eine frühere Art von Wettkampf zurück, bei der der Besiegte vom Sieger tatsächlich in einen Sack gesteckt wurde«. Die Wendung in Sack und Asche gehen erfährt folgende Erläuterung: »wohl nach dem Alten Testament [Esther 4, 1], wo von dem altorientalischen Brauch berichtet wird, dass die Menschen sich zum Zeichen der Trauer in grobes Tuch [Säcke] kleideten u. sich Asche auf die Haare streuten«. Auch die eigentliche Bedeutung des griechischen sákkos ist neu hinzugekommen: »= grober Stoff aus Ziegenhaar; (aus solchem Material hergestellter) Sack«.

Als eine gewisse Selbstkorrektur betrachte ich die Aufnahme zusätzlicher Fügungen, die man 1980 wohl vergessen bzw. für nicht so wichtig gehalten hatte. Schon länger gehören jedenfalls die folgenden Verwendungen zur deutschen Sprache:

das Kleid sitzt, sieht aus wie ein S. (ist unförmig, schlecht geschnitten); lieber einen S. [voll] Flöhe hüten als … (… ist eine kaum zu bewältigende Aufgabe): lieber einen S. [voll] Flöhe hüten als diese drei Kinder [zu] beaufsichtigen.

Nicht sicher bin ich mir bei angeben wie ein, zehn Sack Seife, was eine saloppe Ausdrucksweise mit der Bedeutung ›sehr prahlen‹ sein soll, die mir noch nicht begegnet ist.

Als Korrektur muss man auch betrachten, dass der dritte Unterfall der ersten Lesart, nämlich ›Geldbeutel‹ entfallen ist und keinen Pfennig im Sack haben jetzt auf die Tasche im Kleidungsstück bezogen wird (die Anpassung des Beispielsatzes an die neue Währung ist im Universalwörterbuch seit 2003 vorgenommen).

Ob es sich um Sprachwandel oder eine veränderte Einschätzung der Lexikografen handelt, ist mir am wenigsten klar bei einigen Veränderungen, die die Gebrauchsbedingungen betreffen. Während nämlich 1980 die Lesart ›Mann, Mensch‹ als ›derb, meist abwertend‹ bezeichnet wurde, ist sie 1999 nur noch als ›salopp abwertend‹ charakterisiert. Umgekehrt sind jemandem auf den Sack fallen und etwas bzw. eins auf den Sack kriegen nun nicht mehr ›salopp‹, sondern ›derb‹. Aber solche Einschätzungen sind ja ohnehin recht subjektiv.

Das Wörterbuch ist eine Annäherung an das unterschiedliche Sprachwissen vieler Individuen

Dies zeigt am deutlichsten, dass ein Lexikograf auch in anderer Hinsicht die Idealisierung von der langue als einem stabilen und homogenen System zurücknehmen muss.

Wie wir im zweiten Kapitel gesehen haben, umfasst eine Einzelsprache tatsächlich ja verschiedene Varietäten, z.B. landschaftliche, stilistische und soziale. Das Wörterbuch versucht, die Varietäten umfassend zu beschreiben (und gibt damit übrigens ein Sprachwissen wieder, über das kein einziger konkreter Sprachteilhaber wirklich verfügt).

Zusammenfassung

Es sind, so können wir zusammenfassend feststellen, hauptsächlich drei Tatbestände, die dazu führen, dass ein Wörterbuchartikel |65◄ ►66| viel komplizierter ist, als es das einfache Zeichenmodell von Saussure erwarten lässt:

Polysemie Wörter und Wendungen: Idiomatik

– Lexeme haben meist mehrere Lesarten (Polysemie).

– In ihrer Bedeutung konventionalisiert sind nicht nur Einzelausdrücke (von der Größe eines Worts, also Sack und weiß), sondern auch komplexere Ausdrücke, Fügungen wie der Weiße Sonntag, Redewendungen wie in den Sack hauen oder jemandem nicht das Weiße im Auge gönnen, Redensarten oder Sprichwörter wie Den Sack schlägt man, den Esel meint man und schließlich geläufige Sätze wie Ihr habt zu Hause wohl Säcke an den Türen. Auch diese Einheiten haben den Status von Lexemen in dem Sinne, dass sie fest im Lexikon gespeichert sind, d.h. nicht erst im jeweiligen Parole-Akt neu konstruiert werden.

Varietätenspezifik

– Lexeme und deren Lesarten sind zum Teil nur in bestimmten Varietäten der Sprache gebräuchlich. Ihre regional, stilistisch usw. nur begrenzt gültige Verwendbarkeit muss erläutert werden.

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Sprache: Wege zum Verstehen

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