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2 Wie viele Sprachen gibt es?

Unerforschte und vom Aussterben bedrohte Sprachen

Erstaunlicherweise gibt es auf diese Frage keine eindeutige Antwort: Während man früher oft mit Angaben um 3.000 – 4.000 operierte, kann man in neueren Bestandsaufnahmen Zahlen zwischen 6.000 und 15.000 finden. Wie kommt es zu diesen unterschiedlichen Zahlen? Es lassen sich dafür mindestens zwei Gründe anführen:

1. Von den vielen Sprachen dieser Welt (es handelt sich auf jeden Fall um mehrere Tausend) sind längst nicht alle gleich gut beschrieben, und es sind auch nicht alle Regionen dieser Welt gleich gut auf die in ihnen benutzten Sprachen hin erforscht. Manche Regionen bilden daher einfach noch relativ weiße Flecken auf der Landkarte, und es ist nicht (genau) bekannt, wie viele und welche Sprachen es dort gibt.

Dass es noch weiße Flecken auf der Landkarte gibt, wäre übrigens nicht weiter schlimm, wenn die Sprachwissenschaft noch alle Zeit der Welt hätte, sämtliche Sprachen nach und nach zu erforschen. In letzter Zeit wird man sich jedoch zunehmend bewusst, dass diese Möglichkeit vielleicht nicht gegeben ist – viele Sprachen sind vom Aussterben bedroht. Im 21. Jahrhundert wird wahrscheinlich mehr als die Hälfte der derzeit noch gesprochenen Sprachen verschwinden. Das hängt damit zusammen, dass nicht einmal ein Fünftel aller Sprachen von mindestens 100.000 Menschen benutzt wird; bei fast einem Drittel hat man |5◄ ►6| weniger als 1.000 Sprecher gezählt. – Es gibt in der Zwischenzeit zwar auch eine stärker werdende Gegenbewegung und diverse Gesellschaften zur Rettung bedrohter Sprachen.2 Dazu bedarf es allerdings eines ausgeprägten Bewahrungswillens der betroffenen Sprecher, der z.B. bei den Friesen und Sorben und überhaupt im europäischen Raum durchaus gegeben ist, kaum aber für die vielen (nicht verschrifteten) Kleinstsprachen in Afrika, Asien und Australien.

Grenzen zwischen Einzelsprachen

2. Der zweite Grund ist fundamentalerer Natur und lässt sich (im Gegensatz zum ersten) nicht einmal prinzipiell aus der Welt schaffen – er führt uns direkt auf grundlegende Probleme der Sprachwissenschaft. Diese lassen sich vorerst in folgender Feststellung fassen: Es ist gar nicht so einfach anzugeben, was genau eine Einzelsprache ist und wo ihre Grenzen zu anderen Einzelsprachen sind. – Warum ist dies so?

Wir hatten oben festgestellt, dass man langage nicht als solche anwenden kann, sondern immer eine Einzelsprache benutzen muss. Tatsächlich sind jedoch auch diese Einzelsprachen keine konkreten Objekte, die unmittelbar als solche gegeben wären und die man direkt beobachten könnte. Das einzige unmittelbar beobachtbare – sicht- bzw. hörbare – sprachliche Phänomen sind vielmehr die konkreten Einzelfälle des Sprachgebrauchs, die mündlichen oder schriftlichen Äußerungen, die Sprecher produzieren, also Parole-Akte.

Normalerweise nimmt man nun natürlich an, dass Parole-Akte produziert werden, indem Menschen auf ihre Kenntnis einer bestimmten Einzelsprache zurückgreifen. Mitunter stellt sich die Frage, um welche Einzelsprache es sich bei bestimmten Parole-Akten handelt. Unproblematisch scheint dies zu sein, wenn man die Sprache kennt, schwieriger dagegen, wenn man sie eben nicht kennt. Denn wer eine Äußerung produziert, sagt ja im Allgemeinen nicht dazu, welche Einzelsprache er gerade benutzt. Das Problem der Identifizierung von Einzelsprachen stellt sich jedoch in Wirklichkeit nicht nur für uns unbekannte Sprachen, sondern kann auch bei Sprachen auftreten, die uns weitgehend geläufig sind. Dies sei ausgehend von einem – authentischen – Parole-Akt demonstriert (Textbeispiel 1). Es handelt sich um den Ausschnitt eines Gesprächs zwischen Frau A und Frau B, das 1994 geführt wurde.

Sprachmischung Mischsprachen

Welche Sprache spricht Frau B? Sie selbst scheint zu meinen, es handle sich um Deutsch (Daitsch), und es ist ja auch mindestens eine Art Deutsch, jedenfalls ähnelt vieles dem Deutschen; anderes lässt dagegen eher an Englisch denken, das in dem Gespräch ja auch erwähnt wird. Möglich wären nun (mindestens) folgende Lösungen: |6◄ ►7|

Textbeispiel 1: was host-n gsaat, ’s kann-s net versteh, see

A:No erzählt mol, was ihr hait alles gschafft hett.
B:No erscht hun ich me-n appointment gemacht bei-m doctor un sain ‘nuf un hun mei flue shot geholt, hait morjent, des war s erschte Ding. No, norde sein ich in store gange un hun gschopt, bisje esse, bisje candy for Hallowe’en. No sain ich haam komme un hun bisje Midach gesse, un nore hun ich platzkorn geplatzt. Un des war alles, so weit.
A:Seid ihr wohl zu Fuß gange?
B:Naa, ich hun die car gfahr, naa, ich fahr car, des’ ganz upstairs, nuf in town, des’ zu weit vor laawe, do mus ich fahre.
A:Wie lang bleibt es jetz dou?
B:Bis finewe, bissai mame kommt von hospital’s, die schafft in hospital’s, see, so do pickt sie ihn nore uf.
A:So ich komm ivemorje zu aich
B:Des wär de mitwoch, ja wann ever, des macht mir niks aus, vormidags sain ich imer dou. Do werscht du in town bei Midach oder sou. Well, ach nachmidach iz all right, kolsd mich erscht for sure mache. Mei grandchild kommt jo net haam bis drai Uhr, jetz kommt-s grad reigelowwe, dou is es jo, des’ mei grand ... wie saacht me des, mei Engelje, ha? ‘S kann net Daitsch, wenn ich als emol bisje Daitsch sag, no saad-r »Grand-mother, was host-n gsaat?« in English, know, she ask: was host-n gsaat, ‘s kann-s net versteh, see.

– Frau B spricht eine besondere Sprache. Diese ist aus einer Mischung einer speziellen, vielleicht älteren Variante des Deutschen mit dem Englischen hervorgegangen.

– Frau B benutzt zwei Einzelsprachen: Sie wechselt in ihrem Parole-Akt zwischen dem Gebrauch einer Variante des Deutschen (oder einer dem Deutschen eng verwandten Sprache) und dem Englischen ab.

Die beiden Lösungsmöglichkeiten (die richtige findet sich im Anhang) machen nun schon deutlich, warum es so schwierig ist, genau zu bestimmen, was eine Einzelsprache ist, und warum es dementsprechend auch nicht möglich ist, genaue Angaben über die Menge der existierenden Einzelsprachen zu machen.

Varietäten

Einzelsprachen treten in verschiedenen Unterarten auf. Man spricht hier von Varietäten (auch: Lekten, aus Dia-lekt). Die Frage ist: Was berechtigt uns, verschiedene Varietäten als solche einer Sprache zu behandeln? Gibt es z.B. die Sprache Rätoromanisch, d.h. ist es berechtigt, Sursilvan, Vallader usw. als eine Sprache zusammenzufassen? Wann liegen noch Varietäten einer Einzelsprache vor, ab wann muss oder kann man von mehreren eigenständigen Sprachen reden? Ist z.B. Amerikanisch eine eigene Sprache oder eine Varietät des Englischen?

Dialekte und Idiolekte

Die bekanntesten Varietäten sind regionaler Art und werden Dialekte oder Mundarten genannt. Es gibt aber auch andere Varietäten: |7◄ ►8| Zum Beispiel sprechen Männer und Frauen nicht ganz gleich, Akademiker und Bauern nicht, Schüler und Rentner nicht usw. Letzten Endes spricht überhaupt jeder Mensch ein bisschen anders als jeder andere. Diese individuelle Sprache bezeichnet man als Idiolekt. Aber sogar die Idiolekte sind nicht einheitlich, d.h. auch ein und dieselbe Person spricht nicht immer gleich: Zum Beispiel drückt sich der Anwalt während der Gerichtsverhandlung anders aus als am Stammtisch.

Sprachstadien

Einzelsprachen verändern sich im Laufe der Zeit, treten also in historischen Varietäten auf. Diese bezeichnet man meist als Sprachstadien. Die Frage ist auch hier: Handelt es sich bei verschiedenen Sprachstadien um verschiedene Sprachen? Ist z.B. das heutige Deutsch eine andere Sprache als das Deutsch, das vor tausend Jahren benutzt wurde, oder betrachten wir es noch immer als dieselbe Sprache?

Sprachverwandtschaft

Verschiedene Einzelsprachen sind miteinander mehr oder weniger eng verwandt und einander daher mehr oder weniger ähnlich. Im historischen Prozess kann eine Einzelsprache sich in verschiedene Varianten aufspalten (z.B. [Vulgär-]Latein in Italienisch, Französisch, Spanisch usw.). Verschiedene Einzelsprachen oder Varietäten können sich aber auch aufeinander zu bewegen, dergestalt, dass sich auf ihrer Grundlage eine neue Varietät oder eine neue Sprache ausbildet (z.B. gibt es so genannte Ausgleichsmundarten, die weiträumiger verständlich sind als lokale Dialekte, und Standardsprachen werden normalerweise auf der Grundlage mehrerer Dialekte entwickelt). Die Frage ist: Wann sprechen wir von einer einzigen Sprache, wann von zwei (oder mehr) sehr eng verwandten Sprachen? Als eine oder zwei Sprachen kann man z.B. Flämisch und Niederländisch oder Dänisch und Norwegisch (Bokmål) ansehen. Diese sind ungefähr so gleich oder verschieden wie die deutsche Standardsprache in Deutschland, Österreich und der Schweiz. Handelt es sich hier um eine oder drei Sprachen?

Sprachfamilien

Miteinander verwandte Sprachen bilden eine Sprachfamilie wie z.B. das Indoeuropäische, zu dem wie die meisten europäischen Sprachen auch das Deutsche gehört. Eine Sprachfamilie ist als eine Art Großfamilie zu verstehen und umfasst oft mehrere Gruppen von Sprachen, die einander sehr unähnlich sein können.

Mehrsprachigkeit

Die meisten Individuen sind mehrsprachig, d.h. sie beherrschen mehrere Einzelsprachen, zumindest aber mehrere Varietäten einer Einzelsprache. Einzelsprachen und Varietäten von Einzelsprachen können in Parole-Akten auch abwechselnd gebraucht bzw. gemischt werden (man spricht hier auch von Code-Switching). Wann sollen wir von der Mischung zweier Sprachen, wann von einer (Misch-) Sprache sprechen?

Um nun auch eine Vorstellung davon zu geben, wie sich das Problem der Abgrenzung von Einzelsprachen konkret darstellt, Textbeispiel 2: eine Liste von Parole-Akten, die alle denselben Inhalt haben; es |8◄ ►9| handelt sich um den Beginn des Johannes-Evangeliums. Sie sind (fast ausschließlich und so gut es geht) in Schriftzeichen wiedergegeben, die im heutigen Deutsch verwendet werden. Wie viele Sprachen kann man dort unterscheiden? Welche gehören enger zusammen? (Die Auflösung findet sich im Anhang.)

Textbeispiel 2: Im Anfang war das Wort

1.Im Anfang war das Wort
2.Au commencement était le Verbe
3.I begynnelsen var Ordet
4.Hadjime ni kotobaga atta
5.Aum aunfaung is des wuat gwesn
6.I begynnelsn fanns Ordet
7.In anaginne uuas uuort
8.Am Aafang isch ds Wort gsii
9.Fil bid i kanat al kalima
10.Nel principio era la parola
11.In the beginning was the Word
12.Al principio era el verbo
13.De peschin de gotin bu
14.In deme anbeginne was dat wort
15.Hapo mwanzo kulikuwako neno
16.Au début était la parole
17.In die begin was die Woord
18.Upotschetku bješe rijetsch
19.En la komenco estis la Vorto
20.Alussa oli sana
21.Am aneuang was das wort
22.Fil-bidu kienet il-Kelma
23.Pada mulanya adalah Firman
24.In dem beginne was daz wort
25.Iesakuma bija Vards
26.La îuceput era Cuvîntul
27.Kezdetben vala az íge
28.Da principi eira il pled
29.Na poczatku bylo slowo
30.I begyndelsen var Ordet
31.In principio era il Verbo
32.Im anfang war dz wort
33.En archä än ho logos
34.Am Aafang isch s Wort gsii
35.In den beginne was het Woord
36.I’ upphafi var Orðið
37.In principio erat Verbum
38.Em ofang isch s wort gseh
39.Khamput naii ton roemton
40.Ne fillim ishte Fjala

Unmittelbar gegeben ist nur parole

Fazit: Wenn wir von Einzelsprachen reden, als handele es sich dabei um relativ klar gegeneinander abgegrenzte Kommunikationsmittel, vereinfachen wir die Sachlage sehr stark. Unmittelbar gegeben ist nur parole. Und die Zuordnung von Parole-Akten zu Einzelsprachen ist nicht unproblematisch, da es tatsächlich zwischen verwandten Sprachen und Varietäten nur fließende Übergänge gibt. Auch historisch liegen keine Sprünge von einem Sprachstadium zum nächsten vor, sondern nur ein kontinuierlicher Wandlungsprozess. Und schließlich sind auch nicht miteinander verwandte Sprachen und Varietäten keineswegs strikt gegeneinander abgegrenzt, da sie miteinander in Kontakt treten und sich wechselseitig beeinflussen können.

Dennoch müssen wir natürlich gewisse Einteilungen vornehmen, schon um uns miteinander verständigen und das Forschungsfeld abstecken zu können. In den Abbildungen 1 – 3 daher einige Daten zu den wichtigsten Sprachfamilien und Sprachen und eine Übersicht über die indoeuropäische Sprachfamilie.

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Abb. 1: Sprachfamilien

Muttersprache (Mio. Menschen)Amtssprache (Mio. Menschen)Geschätzte Sprecherzahlen für die 20 bedeutendsten Sprachen der Welt
1.Chinesisch (1000)1.Englisch (1400)(in Millionen): Die linke Spalte gibt an, wie viele Menschen die einzelnen Sprachen als Muttersprache (Erstspra che) sprechen. Liegen widersprüchliche Schätzungen vor, ist hier die höhere Zahl aufgeführt. In der rechten Spalte sind die geschätzten Bevölkerungs zahlen von Ländern zusammengefaßt, in denen die jeweilige Sprache offi ziellen Status hat. Die Abweichungen zwischen beiden Listen gehen darauf zurück, daß manche bedeutenden Sprachen (etwa Javanisch und Telugu) nicht Amtssprachen ganzer Länder sind, andere (wie Malaiisch und Ta galog) dagegen Amtssprachen mehr sprachiger Länder. Als Sprecherzahlen sind die Angaben in der zweiten Spalte meist zu hoch gegriffen, da keines wegs alle Menschen in den Ländern, in denen eine zweite Sprache offiziell anerkannt ist (z.B. Indien), diese auch fließend sprechen. Die Zahlen sind aber als Indikatoren für sprachliche Tenden zen von gewissem Interesse.
2.Englisch (350)2.Chinesisch (1000)
3.Spanisch (250)3.Hindi (700)
4. Hindi (200)4.Spanisch (280)
5.Arabisch (150)5.Russisch (270)
6.Bengali (150)6.Französisch (220)
7.Russisch (150)7.Arabisch (170)
8.Portugiesisch (135)8.Portugiesisch (160)
9.Japanisch (120)9.Malaiisch (160)
10.Deutsch (100)10.Bengali (150)
11.Französisch (70)11.Japanisch (120)
12.Pandschabi (70)12.Deutsch (100)
13.Javanisch (65)13.Urdu (85)
14.Bihari (65)14.Italienisch (60)
15.Italienisch (60)15.Koreanisch (60)
16.Koreanisch (60)16.Vietnamesisch (60)
17.Telugu (55)17.Persisch (55)
18.Tamil (55)18.Tagalog (50)
19.Marathi (50)19.Thai (50)
20.Vietnamesisch (50)20.Türkisch (50)

Abb. 2: Die 20 bedeutendsten Sprachen

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Abb. 3: Die indoeuropäische Sprachfamilie

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