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Kapitel 2

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Bodo war plötzlich unendlich traurig. Ihm wurde bewusst: Es lag zwar in seiner Macht, diese Robben dort drüben zu retten. Ewald hatte dies damals versucht – vor nun genau zehn Jahren. Ewald … vergib mir, dass ich dich damals mitgenommen habe, sinnierte Bodo. Ewald, sein Kindheits- und Jugendfreund … sein Blutsbruder … sein Anker in so vielen Stunden … Für ihn, diesen leidenschaftlichen und bekannten Naturfotografen, waren diese Bilder, diese unschuldigen und lebensfrohen Robbenbabys das Paradies schlechthin. Bodo schloss kurz die Augen. Ihm war, als hörte er Ewalds erregte Stimme.

Vor seinem geistigen Auge sah er nun wieder, wie sich Ewald mit seiner Kamera auf allen vieren an die kleinen Robben heranarbeitete, um hautnah Bilder schießen zu können. Die Evolution hatte es so eingerichtet, dass aus der Sicht der Robben vom Menschen keine Gefahr ausging. Also blieben die Robben­mütter seelenruhig liegen, und die Robbenbabys ließen ihrer Neugierde freien Lauf und schnupperten am Objektiv von Ewalds Kamera.

»Schau dir das an. Sind sie nicht süß? Toll. Danke Bodo«, flüsterte er aufgeregt zu Bodo, Simone, Ole und Vincent hinüber.

Durch die Robben abgelenkt, war ihnen entgangen, dass sich ein Kutter näherte. Bodo hatte mit den Robbenjägern erst am darauffolgenden Tag gerechnet, da die Jagdsaison erst ab dem 15. April freigegeben wurde. Sie hörten das Tuckern des Motors und das Zerspringen der dünnen Eisdecke. Kurz darauf fuhr der Kutter knirschend auf die Kiesbank. Dann ging auf einmal alles sehr schnell. Sechs Männer in braunen Overalls sprangen vom Boot. Offensichtlich hatten sie die Aktivistengruppe bereits gesehen. Die beiden größten Robbenjäger stapften rasch auf Bodos Gruppe zu. Die restlichen Robbenschlächter begannen im Akkord mit ihren Hakapiks, den Spitzhacken, auf die jungen Robben einzuschlagen. Lautes Jammern und Klagen erfüllte die kalte Luft – und immer wieder die dumpfen Schläge der Hakapiks. Keine Robbe machte Anstalten, zu fliehen. Es war, als hätten sie ihr Schicksal klagend angenommen; als würden sie lediglich flehen und bitten, verschont zu werden. Doch die Schläge trafen selbst die weißen Robbenbabys. Für die Robben­schlächter waren es Whitecoats. Die Preise pro Robbenfell waren rückläufig. Aber für Whitecoats zahlten die Chinesen viel Geld. Die Jagd auf weiße Robbenjungen war seit 1987 offiziell verboten. Umso erstaunlicher war es gewesen, dass diese Männer in einen Tötungsrausch verfielen, obwohl sie davon ausgehen mussten, beobachtet zu werden.

Ewald fotografiert hektisch und rannte auf die Robbenschlächter zu; schreiend und weinend. Er kam nicht weit. Einer der beiden Robbenjäger war bei ihm angelangt. Ohne Vorwarnung schlug einer von ihnen mit der Hakapik Ewald die Kamera aus der Hand. Wie erstarrt blickte der Fotograf einige Sekunden auf seine zertrümmerte Kamera. Seine Kamera war sein Heiligtum! Wie von Sinnen stürzte er sich auf den Robbenjäger. Der Fotograf war 195cm groß und durchtrainiert. Er hob den Robbenschlächter hoch wie ein Spielzeug. In diesem Augenblick traf ihn die Spitzhacke des zweiten Jägers.

Ewald ließ den Mann fallen, sackte in die Knie und krümmte sich am Boden.

Bodo, Vincent und Ole waren rasch zur Stelle gewesen. Bodos Tritt traf den Hakapik-Schläger in die Magengrube. Der Mann taumelte mehrere Meter zurück und ging in die Knie. Noch bevor er aufstehen konnte, hatte der deutsche Hüne ihn hoch­gerissen und ihn in hohem Bogen durch die Luft geworfen. Krachend durch­brach der Körper die dünne Eisdecke und landete im Wasser. Ole traktierte den zweiten am Boden liegenden Robbenjäger.

Vincent hatte aufgrund seiner Kriegs­einsätze sofort erkannt, dass Ewald schwer verletzt sein musste. Rasch öffnete er die wattierte Windjacke. Der Pullover war im Bauchbereich blutge­tränkt. Simone kniete inzwischen auf der anderen Seite von Ewalds Kör­per und schluchzte. «Ist er schwer verletzt?« Vincent nickte.

»Wir müssen die Blutung rasch stillen. Mach eine Faust.«

Er hatte bereits Simones Hand genommen. »Fest drücken«, befahl Vincent und griff nach seinem Rucksack.

Mit einem »Ewald« hatte sich Bodo am Kopfende seines Freundes fallen lassen. Das Gesicht des Fotografen war schmerzverzerrt. Aus dem Mund­winkel sickerten Blutstropfen.

»Ich glaube, das war‘s mein Freund«, röchelte der verwundete Fotograf und versuchte, Bodos Hand zu ergreifen.

Doch das Schicksal hatte Ewalds Ende noch nicht vorgesehen. Vincent konnte rasch einen Hubschrauber organisieren. Bodo bestand darauf, mitgenommen zu werden.

»Geld spielt keine Rolle«, hatte er viele Male gesagt. Es war erstaunlich, wie rasch sich mit Geld viele Türen öffnen ließen. Erst zu diesem Zeitpunkt stellten beide Freunde fest, dass sie die gleiche, sehr seltene Blutgruppe, AB Rhesus­faktor positiv, besaßen. Am ersten Tag musste Bodo 1,5 Liter Blut spenden und im Abstand von zwei Tagen noch einmal je einen halben Liter. Ewald wurde in ein Klinikum in Montreal verlegt und verbrachte dort zwei Monate. Entgegen den Ratschlägen der Ärzte verließ der Fotograf vorzeitig das riesige Krankenhaus. Bodo bestand darauf, ihn zu begleiten. In der Einöde von Quebec, hundert Kilometer südlich der Hudson Bay, gingen Ewalds Kräfte endgültig zu Ende. Der einzige Kindheits-, Jugendfreund und Blutsbruder starb in Bodos Armen.

Dies war das zweite große Schlüsselerlebnis, welches Bodos Seele erkranken ließ und sich zu einem schweren Trauma ausweiten sollte.

Vor zehn Jahren, fast auf den Tag genau, hatte sich das Unglück mit Ewald und den Robbenschlächtern ereignet. Es war Amaros Aufgabe gewesen, die Namen der sechs Robbenjäger ausfindig zu machen. Kein Zweifel durfte bestehen. Als Indianer, Jäger und Fischer war er im Dorf dieser sechs Personen nicht weiter aufgefallen.

Er übernachtete mehrere Male im Haus eines alten und kranken Inuit. Sie gaben vor, miteinander verwandt zu sein. Akkilokipok hieß der zahnlose Inuit. Er hasste diese sechs crazy devils, wie er sie nannte. In deren Adern floss das Blut von Wikingern und Basken. Diese Burschen waren körperlich größer als die Ureinwohner Labradors. Es waren Raufbolde und Säufer, die ihre Frauen schlugen. Diese degenerierte Brut hatte kein Gefühl für die Natur und deren Geschöpfe. Sie waren eine Schande für dieses ehemals schöne Land. Von diesem traurigen und wütenden Alten hatte Amaro die zuverlässige Information: Es war die gleiche Mannschaft wie vor zehn Jahren, auf die sie heute warteten.

»Bodo, Bodo, sie sind da«.

Es war Ole, der genau registrierte, dass Bodo in seinen Gedanken weit weg war. Und er ahnte, woran Bodo in den letzten Minuten gedacht hatte.

Der Kutter war an der ersten Kiesbank angelangt. Als würde sich alles minutiös wiederholen, sprangen sechs Männer in braunen Overalls vom Kutter. Ohne Zögern gingen sie auf die Robbenjungen zu. Die Robbenjäger waren inzwischen aufgrund des Druckes der Tierschützer verpflichtet, die Tiere zu­nächst mit einem gezielten Schuss zu töten und anschließend mit der Hakapik die noch dünne Schädeldecke zu zertrümmern. Doch es fiel kein Schuss. Auch die geschützten Whitecoats wurden nicht verschont. Viele Leiber zuckten noch, als die Robbenjäger begannen, die Decke der Robben vom Körper zu lösen. Nein, sie hatten nichts dazu gelernt. Das waren nach wie vor seelenlose Schlächter.

»Der Dritte von links«, vernahm Bodo aus der Ohrmuschel. Er blickte durch das Fernglas. Ihm war, als ob der Mann direkt vor ihm stand. Er war älter geworden. Aber es war zweifellos der Bursche, welcher Ewald damals die Spitzhacke in den Bauch gerammt hatte. In diesem Moment wusste er: Diese Aktion war richtig und gerechtfertigt. Diese Aktion musste ausgeführt werden.

Bodos zornige Seele

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