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Kapitel 4

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Die Straße 430 im Norden von Neufundland führte direkt an der Seal Bay vorbei in Richtung St. Anthony. Bei einem kleinen Fischerhafen hatte Cristostomo den großen und alten Geländewagen abgestellt. Bodo hatte Bradly eingeschärft, den Kutter am äußersten Ende des kleinen Hafens anzulegen. Während die Männer von Bord kletterten, war es Oles Aufgabe, mehrere kleine Sprengsätze mit Zeitzünder knapp unterhalb der Wasserlinie anzubringen. Die Detonationen durften nicht laut sein. Gleichzeitig würde an mehreren Stellen des Kutters Feuer ausbrechen und rasch alle DNA-Spuren beseitigen. Erst danach sollte der Kutter auf Grund sinken.

Beim Verlassen des Kutters blickte Bodo auf die Uhr. Es war inzwischen kurz vor 11:00 Uhr. In wenigen Minuten sollten sie am Flugplatz sein, und spätestens in dreißig Minuten würde das Flugzeug abheben.

In Yarmoth, im äußersten Westen der Halbinsel Nova Scotia, würden sie voraussichtlich gegen 13:30 landen, hatte Vincent versprochen. Und gegen 14:30 Uhr wären sie mit der Yacht im Golf von Maine und kurze Zeit später im Atlantik in Richtung Süden. Der Kutter durfte deshalb nicht zu früh gesprengt werden. Sehr clevere Ermittler könnten eine Verbindung zum nahegelegenen Flugplatz herstellen – und damit zum Flug nach Nova Scotia. Andererseits war es notwendig, alle Spuren auf dem Kutter zu vernichten. Keine DNA-Spur durfte zurückbleiben; kein Fingerabdruck; nichts Verwertbares.

Nach fünfzehn Minuten erreichte der Geländewagen den kleinen Flugplatz. Vincent, der fließend französisch sprach, hatte ein Flugzeug reserviert, und dem Piloten zweihundert kanadische Dollar zusätzlich versprochen, wenn dieser un­ver­züglich nach ihrer Ankunft vom Flugplatz abheben würde. Er gab die Mannschaft als Geschäftsleute und Ingenieure aus, welche einen sehr wichtigen Ter­min in Yarmouth hatten. Um diese Jahreszeit gab es keine große Auswahl an Flugzeugen. Ein kleines Flugzeug hätte nur vier Passagiere aufnehmen können, weshalb nur noch das Wasserflugzeug übrigblieb; eine Turboprop DHC-3T Turbine Otter.

Der Abschied von Cristostomo und Amaro war kurz, herzlich und wortlos. Amaro und Cristostomo würden in fünfundvierzig Minuten in St. Barbe auf der Fähre zum Festland nach Quebec sein. Vereinbart war, dass Cristostomo in Blanc-Sablon ein Flugzeug nach Ottawa nehmen sollte. Dort hatte er seinen Jeep abgestellt. Amaro hatte sein geländegängiges Fahrzeug in Blanc-Sablon bei einem Freund geparkt. Zunächst war es seine Aufgabe, den Geländewagen mit eventuellen Fingerabdrücken und DNA-Spuren zu beseitigen. Danach würde er sich mit seinem Wagen auf Schleichwegen durch die Einöde schlagen. Hier war er zuhause. Die Bundesstraße 510 endete zwar dreißig Kilometer westlich in Middle Bay. Entlang der Küste gab es offiziell erst wieder eine Straße in Natasquan; über 400 Kilometer entfernt.

Der Pilot musterte seine fünf Passagiere. Hier oben war es angebracht, nur Männer ins Flugzeug zu nehmen, denen man auch vertrauen konnte. Vincent unterhielt sich mit ihm in französischer Sprache, worauf sich die Miene des Piloten schlagartig lockerte.

Es war ein Inlandflug. Nova Scotia, im äußersten Südosten, gehörte noch zu Kanada. Also verzichtete er auf Papiere. Allerdings musste er seinen Flug der Flugsicherheit melden, und den Flugplatz in Nova Scotia informieren, wann mit der Landung zu rechnen sei. Vincent sollte neben dem Piloten Platz nehmen. Marco und Bradly arbeiteten sich nach hinten. Als Bodo Ole bat, mit ihm den Platz hinter dem Piloten einzunehmen, wusste der norwegische Luchs, was er zu tun hatte.

Vincent gab die Mannschaft als Experten für Bodenschätze aus. Das war in Kanada und Labrador nichts Ungewöhnliches und hätte den Piloten eigentlich beruhigen müssen. Doch warum blickte dieser Bursche auffallend oft in den Rückspiegel? Das war mehr als reine Neugierde.

Die Männer hinter dem Piloten sprachen kein Wort. Seit über zwölf Jahren waren sie fast täglich zusammen. Ole verstand inzwischen aus der kleinsten Hand-, Mund- oder Augenbewegung Bodos zu lesen. Ole hatte keinen sehr hohen IQ. Dafür war er mit einer raschen Auffas­sungsgabe und einem außergewöhnlichen Instinkt ausgestattet.

Als der Hüne ganz bewusst einige Sekunden die Lider seiner Augen schloss, war dies für den Norweger ein unmissverständliches Signal: Von diesem Piloten ging eine große Gefahr aus. Deshalb durfte dieser Mann nicht überleben.

Bodo lehnte sich in den Sitz zurück. Er versuchte, ein wenig zur Ruhe zu kommen, und die letzten Stunden zu verarbeiten.

In den letzten fünfzehn Jahren hatte er sich, zusammen mit vielen Aktivisten, darauf kon­zentriert zu helfen, zu schützen und zu bewahren. Immer wenn er die Augen schloss, waren sie da … diese Bilder … von den angstverzerrten Augen der Tiere in den Laboratorien … von den traurigen und skandalösen Massen­tierhaltungen … von den Zehntausenden toten oder ölverklebten Vögeln … von den Einsätzen gegen den bestialischen Walfang und gegen Robbenschlächter … von der geschundenen Schöpfung. Er hatte diese Bilder mit seinen eigenen Augen gesehen. Sie waren durch ein Meer des Leidens, der Widerstände, der bodenlosen Arro­ganz, der Dummheit, der Ohnmacht, der Wut und der Tränen gegangen. Sie hatten sich treten, schlagen und einsperren lassen. Allein Little Guantanamo war die Hölle gewesen.

Nein, es war nicht falsch, Ewalds Tod zu rächen. Diese seelenlosen Schlächter hatten den Tod verdient.

Wie oft stand er mit hunderten Aktivisten im kalten Ölschlamm. Sie froren, zitterten und weinten, wenn sie in die flehenden Augen der vielen tausend Wasservögel sahen. Und auch später, wenn er mit seinen eigenen Augen die unvorstellbaren Umwelt­zerstörungen miterleben musste - hatte er sich oft gewünscht, eine Pistole in den Händen zu haben … weil ihm in diesen Augenblicken bewusst wurde, dass hier alle Worte endeten. In seinen Träumen hatte er schon oft eine Pistole oder ein Gewehr in den Händen – und aus Wut und Verzweiflung geschossen; mit Tränen in den Augen.

Doch heute - das war kein Traum. Heute hatte er seine Träume Realität werden lassen. Ewald hätte versucht, diese Aktion zu verhindern. »Gott wird sie eines Tages richten«, wären seine Worte gewesen. Aber in der Zwischenzeit würden diese Wesen weiterhin Unheil anrichten an dieser schönen Natur mit ihren herrlichen Geschöpfen. In Bodos Seele rumorte es seit vielen Jahren. In ihr fanden Kämpfe statt. Sie krümmte sich vor Schmerzen. Sie weinte. Sie schrie. Sie ließ ihn nicht zur Ruhe kommen. Er war die ganzen vielen Jahre ruhelos. Oft hatte er sogar mit dem Gedanken gespielt, diesen entsetzlichen Bildern in seiner Seele zu entrinnen, indem er sich und seine Seele auslöschte - um endlich zur Ruhe zu gelangen; zu einer göttlichen und endgültigen Ruhe. Jetzt fühlte er sich auf eine ihm unerklärliche Weise frei von diesen Ängsten und Schmerzen. Jetzt schämte er sich sogar ob seiner Sehnsüchte, in der Vergangenheit sei­nem Leben ein Ende setzen zu wollen. Das wäre falsch gewesen. Grundfalsch. Vor dem Tod hatte er wahrlich keine Angst. Ein sinnloser Tod wäre jedoch eine Schande gewesen – nein nein, eine Sünde.

Irgendetwas ließ Bodo leicht zusammenzucken. Er spürte Oles Hand auf seinem Arm.

»Alles, was du tust, ist richtig«, hörte er Oles leise Stimme.

»Verdammt! Kann dieser Kerl bereits meine Gedanken lesen«, fluchte Bodo in sich hinein. Er blickte auf seine Uhr. In zwanzig Minuten würde das Flugzeug landen. Er legte seine Hand auf Vincents Schulter.

»Fliegt er heute noch zurück?«

Vincent unterhielt sich kurz mit dem Piloten und beugte sich anschließend leicht zu Bodo nach hinten.

»Er hat heute noch einen Flug. Er wird hier am Flugplatz noch einen Kaffee trinken, und muss in spätestens einer halben Stunde wieder starten.«

Der Pilot blickte leicht fragend in den Spiegel. Bodo klopfte ihm leicht auf die Schulter.

»Hauptsache das Wetter hält«, sagte er mit einem freundlichen Grinsen.

Der Pilot deutete mit seiner linken Hand nach draußen.

»Viel lieber würde ich jetzt auf die Jagd gehen«.

Vincent lachte. »Oder einen solchen Lachs oder Dorsch fangen«. Mit beiden Händen deutete er das Maß der angestrebten Beute an.

Der Pilot nickte einige Male zustimmend.

Ole blickte demonstrativ auf seine Armbanduhr. Seine Augen richteten sich danach fragend an Bodo.

»Vierzehn Uhr dreißig«, sagte Bodo leise und langte dabei mit der linken Hand leicht unter den Sitz des Piloten. »Bist du ausgestattet?«

Ole nickte kurz.

Danach lehnten sich beide Männer zurück, und versuchten, trotz des Dröh­nens in der Maschine etwas zu dösen.

Bradly berichtete unterdessen Marco weiter hinten von seinen amourösen Abenteuern in Biloxi.

Kurze Zeit später tauschte sich der Pilot mit dem Tower aus. In wenigen Minuten würden sie zur Landung ansetzen.

Ole griff nach seinem Rucksack, den er griffbereit zwischen seinen Beinen hatte. Seitdem er mit einem Flugzeug in der Einöde von Norwegen einen Ab­sturz miterleben musste, hatte er sich vorgenommen, diesen mittelgroßen Ruck­sack immer in seiner unmittelbaren Nähe zu haben. Darin waren alle über­lebenswichtigen Utensilien verstaut. Mit einem geübten Griff öffnete er nun den Reißverschluss einer Seitentasche. Das kleine, schwarze Päckchen sah aus wie ein normaler Reisewecker. Der Rucksack war am unteren Ende mit vier Plastik­noppen ausgestattet, um diesen beim Abstellen vor Nässe zu schützen. Ole drehte an einer der beiden hinteren Noppen. Es stellte sich heraus, dass diese die Plastikstangen verschlossen, welche normalerweise die Aufgabe hat­ten, den Rucksack entlang des Rückens zu stabilisieren. In diesen beiden Stan­gen verbargen sich insgesamt zehn kleine Plastikpäckchen mit hochexplosivem Sprengstoff. Unzählige Tests hatten ergeben, dass diese Päckchen bei Routine­röntgenaufnahmen nicht sichtbar waren. Er entnahm nun eines dieser knapp fünf Zentimeter langen Päckchen. Danach klappte er den Deckel des Weckers auf, drückte kurz auf das Ziffernblatt, um es zur Seite zu schieben. Eine kleine längliche Vertiefung war zu sehen. Dort hinein legte der Sprengstoffexperte nun das weiße Päckchen. Erst jetzt war die kleine Steckverbindung zu sehen, die er aktivierte. Jetzt schob er das Ziffernblatt wieder in die Ursprungslage zurück. Aus einer der vorderen Noppen entnahm Ole zwei dünne Plättchen. Diese arretierten sich wie von Geisterhand auf der Rückseite des Weckers. Später erzählte er Bodo, dass es sich um Spezialmagnete gehandelte hatte. Ein Wecker, mit solchen Magneten ausgestattet, hätte bei eventuellen Kontrollen alle Alarmglocken schrillen lassen. Abschließend verglich er seine Armbanduhr mit der Uhr des kleinen Weckers. Es war 13:20 Uhr. Er stellte einen Zeiger auf 14:30 Uhr ein, schob einen winzigen Sicherungshebel zur Seite und klappte schließlich den Deckel zu.

Bodos Freund aus den Fjorden Norwegens hatte eine gründliche Ausbildung zum Sprengstoffexperten genossen. Später, in Deutschland, als Bodo ihm nicht nur finanziell freie Hand ließ, sondern ihn sensibilisierte, sich weiterzubilden, hatte Ole Kontakte mit vielen Waffen- und Sprengstoff-Experten geknüpft. Da es äußerst gefährlich gewesen wäre, mit einer entsprechenden Ausrüstung nach Kanada zu fliegen, hatte Bradly nach Oles Anweisungen einige wichtige Utensilien überbracht. Beide Aktivisten hätten es sich niemals träu­men lassen, wie schnell und wie oft diese Ausstattung zum Einsatz gelangen sollte.

Das Flugzeug nahm Kurs über den zerklüfteten Südteil Nova Scotias. Der Highway 103 führte kurz vor Yarmouth an der Küste des Golfs von Maine entlang. Einige Kilometer vor Yarmouth machte das Flugzeug eine Schleife, um den Flughafen von Süden anzufliegen.

Ole sah eine kleine Landstraße nur knapp einhundert Meter unter sich. Er wartete, bis das Flugzeug aufsetzte.

Ohne sich nach unten zu beugen, tastete er mit der linken Hand unter den Sitz des Piloten. Im Moment des Aufsetzens führte er das kleine Kästchen mit der Rechten nach unten. Das Klacken des Mag­neten wurde vom Dröhnen des Motors und durch das Geräusch des Aufsetzens übertönt. Sicherheitshalber kontrollierte er noch einmal, ob das Käst­chen festsaß. Zufrieden verzog er leicht den Mundwinkel.

Der Flugzeugmotor heulte leicht auf, als der Pilot das Flugzeug drehte, und auf die kleine Halle mit dem angebauten Tower zurollte.

Die fünf Männer stiegen aus. Vincent war mit einem Leihwagen durch Kanada bis zu seinem Freund in Tusket, einige Kilometer von Yarmouth ent­fernt, angereist. Dieser Freund und Verwandte würde später notfalls versichern, dass Vincent bei ihm einige Tage verbracht hatte. Bei seinem Freund Henry würde er übernachten, um am anderen Tag ein Flugzeug nach Montreal zu nehmen. Da Bodo nicht mit einem Taxi zum Yachthafen fahren wollte, bat Vincent seinen Freund, die kleine Crew abzuholen. Als sie das Flugha­fengebäude betraten, zischte Marco:

„Blickt möglichst oft nach unten. Hier sind vier Kameras angebracht. Nicht interessiert oder gar prüfend nach oben schauen. Versichert euch am besten, ob eure Schuhe gut geputzt sind. Pelzmütze aufsetzen, und möglichst tief ins Gesicht ziehen. Alle Männer zogen ihre Pelzmützen ins Gesicht und steuerten mit dem Blick nach unten den Ausgang der Halle zu. Im Freien angelangt schlenderten sie gemeinsam an den kleinen Hallen entlang, als hätten sie alle Zeit der Welt. Einige hundert Meter außerhalb des Flughafengeländes, wo keine weiteren Überwachungskameras vermutet werden konnten, wartete Henry mit einem großen Geländewagen. Er brachte Bodo, Bradly, Ole und Marco zum Yachthafen. Bodo hatte Bradly eine Woche zuvor eingeschärft, seine Yacht mög­lichst am Rand des Hafengeländes vor Anker zu bringen.

»Danke für deine Unterstützung mein Freund. Ich werde dir das nie verges­sen.« Bodo umarmte Vincent.

»Ich habe es auch für Ewald getan«, brummte dieser. »Er war auch mein Freund. Verdammt, ich bin stolz auf unsere Truppe.« Er blicke Bodo in die Augen. »Der Pilot …?«

»Gönn ihm seinen letzten Kaffee. Er wird nichts spüren«, sagte Bodo emotionslos. »Dieser dumme Mensch hatte sich alle unsere Gesichter sorgfältig ein­geprägt. Wir dürfen kein Risiko eingehen.«

Vincent nickte kurz, klopfte Bodo noch einmal auf die Schulter und stieg in das Fahrzeug zu seinem Freund Henry.

Bodos zornige Seele

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