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4. Die Mülltaucher

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Die pralle Sonne spiegelte sich auf den Motorhauben der Einsatzfahrzeuge, die die Kreuzung zwischen dem Boulevard Saint-Laurent und der Avenue Duluth absperrten. Und an der Ecke der Rue Saint-Dominique und Napoléon bot sich genau der gleiche Anblick. Absperrbänder hinderten die Fußgänger daran, auf dem Bürgersteig weiterzugehen. Im flackernden Warnlicht schirmten die Polizisten den gesicherten Bereich vor Schaulustigen ab. Falls es sich nicht bereits herumgesprochen hatte, würde das Gerücht sich in Windeseile verbreiten: In einem Abfallcontainer hatte man einen Kopf entdeckt. Deutlich mehr Polizeibeamte als sonst waren zum Einsatz abkommandiert worden. Das war immer dann der Fall, wenn ein Polizist getötet worden war. Die Polizei ist eine Gemeinschaft. Wird einer von ihnen im Dienst getötet, rückt das Rudel zusammen und schließt die Reihen.

Auf dem Straßenabschnitt, in dem sich der Container befand, wimmelte es nur so von Technikern der Spurensicherung. Noch bevor Jacinthe und Victor dort ankamen, hatten sie die Schachtel mit dem Kopf in Eis gelagert und ins Labor des Gerichtsmediziners Jacob Berger in die Rue Parthenais bringen lassen. Berger, mit dem die beiden Ermittler häufig zusammenarbeiteten, war bereits mit der Autopsie beschäftigt.

Eine junge Frau saß an der Bürgersteigkante und beantwortete seit kurzem die Fragen des Sergent-Détective. Sie war ungefähr zwanzig Jahre alt, trug weinrote ziemlich abgewetzte Doc Martens, einen schwarzen Taftrock und ein Hemd in den Farben des Vereinigten Königreiches.

»Mein Freund und ich gehen kein Risiko ein, Fleisch und Milchprodukte rühren wir nicht an. Normalerweise ist der Container hier einer der besten Plätze. Bäckereiabfall ist am saubersten. Alles, was sie tagsüber nicht verkaufen, packen sie in eine Tüte. Sonst nichts. Sie wissen, dass wir vorbeikommen.«

Eine Laufmasche in ihren roten Strumpfhosen gab den Blick auf ein Stück ihres Knies frei; offenbar hatte sie geweint, ihre mit Khôl umrandeten Augen waren schwarz verschmiert, und als sie sich die Augen wischte, hatte sie die restliche Schminke über ihr bleiches Gesicht verteilt.

»Die Eigentümer der Bäckerei sind Portugiesen … Sie lassen uns die Brioches, Kuchen, und manchmal ist sogar frisches Brot in der Tüte. Das schmeckt super. Als ich die Schachtel gesehen habe, dachte ich erst, da sei ein Kuchen drin.«

Den makabren Fund hatte das junge Pärchen im Container hinter der Bäckerei gemacht, in der Rue Duluth. Jacinthe befragte den jungen Mann, während Victor sich mit seiner Freundin unterhielt.

»Weißt du noch, ob du Fliegen bemerkt hast, als du die Schachtel geöffnet hast?«

Er hatte ihr eine Zigarette angeboten, die jetzt zwischen den Fingern der jungen Frau zitterte, als sie sie an den Mund führte. Sie nahm einen Zug.

»Nein«, erwiderte sie mit erstickter Stimme, »weder im Container noch in der Schachtel. Wenn Fliegen dran sind, lassen wir die Hände davon.«

Sie starrte auf den Boden zwischen ihren Stiefelspitzen, öffnete den Mund, als wollte sie etwas sagen, und klappte ihn dann wieder zu. In ihren weit aufgerissenen Augen schimmerten Tränen. Beruhigend legte ihr Victor eine Hand auf den Arm.

»Lass dir Zeit, Miranda. Kein Problem.«

Sie holte tief Luft.

»Am schlimmsten ist, dass ich es zuerst nicht mal so besonders eklig fand. Ich habe ganz instinktiv reagiert, noch bevor ich überhaupt kapiert habe, was ich da sehe. Ich wusste, dass irgendwas nicht stimmt, aber erst nachdem ich die Schachtel wieder zugemacht habe, wurde mir klar, was da drin ist.«

Schweigend wartete Victor, bis sie weitersprach. Miranda trat die Zigarette mit dem Schuh aus. Dann hob sie den Kopf und sah ihm direkt in die Augen.

»Allein der Gedanke, dass ein Mensch einem anderen so was antut. Ich … ich kann es einfach nicht fassen, nicht verstehen. Ich habe immer gedacht, Leute, die so verrückt sind, würden nur im Film vorkommen, nicht in meiner Welt. Nicht direkt vor meiner Nase. Wenn ich mir vorstelle, es könnte jemand gewesen sein, dem ich schon auf der Straße begegnet bin, wird mir richtig schlecht.«

Victor nickte. Miranda erinnerte ihn an Charlotte, seine Tochter. Am liebsten hätte er sie in den Arm genommen und getröstet, ihr gesagt, dass einer, der zu dicht am Abgrund stand, Gefahr lief abzustürzen; er hätte ihr leise von den alten Gesetzen der Welt erzählt, die so ungerecht und erbarmungslos waren, hätte ihr zugeraunt, dass nichts existierte, dass alles existierte. Victor wusste, wie gerade jene Bilder, die man angestrengt zu vergessen suchte, immer wieder aufs Neue auftauchten, beschmutzt von der Zeit und den Erinnerungen. Im Unterschied zu der jungen Frau hatte sich Victor jedoch längst an diese Bilder gewöhnt.

»Weißt du, Miranda, niemand dürfte je so etwas sehen wie das, was ihr beide in dieser Schachtel entdeckt habt. Und jetzt möchte ich, dass du zusammen mit deinem Freund nach Hause gehst. Vergesst alles, was ihr erlebt habt und versucht, auf andere Gedanken zu kommen.«

Sie starrte vor sich hin und nickte. In der Straße waren Motorengeräusche zu hören, Autotüren fielen zu. Weitere Einsatzfahrzeuge waren eingetroffen.

»Außerdem möchte ich dir ein Versprechen abnehmen«, fuhr Victor fort.

»Ein Versprechen?«

»Ja. Sobald du wieder an diese furchtbaren Bilder denken musst, stellst du dir stattdessen einfach ein Flusspferd vor. Versprich mir das.«

Sie musterte ihn fragend mit zusammengeschobenen Brauen, wurde aber nicht recht schlau aus seiner Miene. Dann lächelte sie zaghaft.

»Ein Flusspferd?«

Mit aufgeblasenen Backen und ausgebreiteten Armen verdeutlichte Victor, was er meinte.

»Ja, genau, ein Flusspferd.«

Miranda lächelte über das ganze Gesicht.

»In Ordnung.«

»Versprochen?«

Sie nickte bekräftigend. Er reichte ihr seine Visitenkarte und bedachte sie zum Abschied mit einem väterlich besorgten Blick.

»Wenn dir noch was einfällt, rufst du mich sofort an, egal zu welcher Uhrzeit.«

Victor erhob sich und reichte ihr die Hand, um ihr beim Aufstehen zu helfen. Miranda bedankte sich, drehte sich um und ging in Richtung Bäckerei davon. Der Polizist schob sich die Ray-Ban auf die Nase und sah ihr nach, als sie zu ihrem Freund hinüberging, der bereits auf sie wartete, an die Mauer gelehnt und die Hände in den Taschen. Jacinthe hatte offenbar erheblich weniger Zeit für ihre Befragung gebraucht. Jetzt musste er seine Partnerin nur noch finden.

Zuerst hielt er in der Nähe des Streifenwagens Ausschau nach ihr und dann am Tatort, konnte sie aber nirgends entdecken. Blitzlichter flackerten durch die schmale Straße, als die Spurensicherung Aufnahmen des Müllcontainers und der direkten Umgebung machte. Rings um den Container waren an allen Objekten, bei denen es sich möglicherweise um Indizien handelte, nummerierte Markierungskegel platziert, unter anderem an zwei Dosen Farbspray, einer alten Socke, einer Kopfhörerverpackung sowie gebrauchten Batterien.

Victor umrundete das Gebäude und steuerte auf den Eingang der Bäckerei zu. An der Tür blieb er stehen und grinste spöttisch. An der Ladentheke deutete Jacinthe auf die kleinen Törtchen, die in einer Kühlvitrine lagen. Hinter der gläsernen Theke war der Besitzer des Ladens bereits eifrig damit beschäftigt, alles, was sie auswählte, in einer Schachtel anzuordnen. Als Victor näher kam, bezahlte sie gerade.

»Und deine Diät?«

Auf frischer Tat ertappt wich Jacinthe einen Schritt zurück, war aber gleich wieder obenauf und musterte ihn angriffslustig.

»Die sind natürlich für Lucie!«

Jacinthes Freundin, vegetarisch und asketisch lebend, war ein ebenso sanftmütiges wie geduldiges Wesen und arbeitete als Bibliothekarin in der Stadtbücherei. Victor hielt sich zwar mit einem Kommentar zurück, ließ sich aber nicht zum Narren halten: Lucie machte sich nichts aus Süßigkeiten.

Seine Teamkollegin beugte sich zu ihm vor und schnupperte bedeutungsvoll.

»Und selbst? Wieder heimlich gequalmt?«

»Das war ich nicht«, log er. »Miranda hat eine geraucht.«

Jacinthe grinste.

»Miranda? Ihr habt euch ja schnell angefreunde t… Ich wette, du hast ihr deinen berühmten Flusspferdtrick verraten.«

Victor überging den Spott.

»Und wie war’s mit ihrem Freund?«

»Na ja, der typische kleine Anarcho-Hipster vom Plateau. Hat mich total zugetextet. Solche Leute ertrag ich einfach nicht! Verdammt, was für Scheißtypen.«

Mit gesenkter Stimme fuhr sie fort: »Wir suchen uns das Essen doch nicht im Abfall zusammen, weil wir kein Geld haben, Mann. Nein, damit wollen wir zeigen, dass der beschissene Kapitalismus einfach versagt hat.«

Sie lachte etwas gekünstelt.

»Hast du eigentlich gewusst, dass es schon eine Bezeichnung für dieses Herumwühlen im Abfall gibt? Das nennt sich nämlich …«

Sie zog ihr Notizbuch aus der Tasche und fing auf der Suche nach dem Eintrag an zu blättern. Victor konnte helfen.

»Dumpster diving«, sagte er.

»Ach, du kennst das? Hm, wer so was macht, muss schon richtig scharf auf Ärger sein, oder?«

Victor zuckte die Schultern und verkniff sich die Antwort. Dass er die Idee ganz interessant fand, führte doch nur zu endlosen Diskussionen.

»Und sonst? Hast du den Besitzer der Bäckerei befragt?«

Sie nickte und rollte mit den Augen. Natürlich hatte sie sich den vorgenommen.

»Erst den Besitzer, dann seine Frau. Sie wohnen direkt über dem Laden. Er hat den Sack mit Abfall zwischen 23 Uhr und Mitternacht in den Müll geworfen und nichts Ungewöhnliches bemerkt. Anschließend hat er sich noch einen Film im Fernsehen angesehen und sich danach ins Bett gelegt. So gegen 1 Uhr morgens.«

»Welchen Film?«

Jacinthe zog einen verächtlichen Flunsch.

»Der Knüller, von Woody Allen. Hab ich schon überprüft, der lief gestern Abend tatsächlich im Kabelfernsehen. Am Morgen, als er den Laden öffnen wollte, hat er gehört, wie die beiden in der Straße herumschrien.«

»Wann war das?«

»Gegen 6 Uhr. Und während Monsieur Lessard Liebesbriefe an sein Schätzchen schreiben musste, habe ich Zeit genug gehabt, um auch gleich noch die Angestellten der Bäckerei zu befragen.«

Das Handy in Victors Tasche vibrierte. Nadjas Name stand auf dem Display. Widerstrebend ließ er die Nachricht in seine Sprachbox eingehen.

»Und weiter?«

»Das gleiche Lied: Nichts gesehen und nichts gehört.«

»Wer hat Tanguay erkannt?«

»Brown, von der Spurensicherung, er war als einer der Ersten hier. Der hat schon in Tanguays Abteilung gearbeitet. Was ist mit dir? Irgendwas Neues?«

»Sein Kopf hat mindestens 24 Stunden lang in dem Container gelegen.«

»Woher willst du das wissen?«

»Als Miranda die Schachtel geöffnet hat, waren keine Fliegen drin. Weißt du, was das bedeutet?«

Jacinthe zögerte.

»Hilf mir auf die Sprünge …«

»Soweit ich mich erinnere, hat Élaine Segato mir damals bei den Ermittlungen gegen den König der Fliegen erklärt, dass sich Fliegen schon nach wenigen Minuten über einen Kadaver hermachen, wenn er sich an der freien Luft befindet. Ist er jedoch mehr oder weniger hermetisch abgeschlossen gelagert, wie in der Schachtel und dem Container, kann es bis zu vierundzwanzig Stunden dauern, bevor Fliegen kommen.«

»Wenn mich mein Gedächtnis nicht im Stich lässt, war Élaine Segato doch diese Anthropologin, mit der du was hattest, oder?«

»Ich dachte, wir hätten uns darauf verständigt, solche Themen in Zukunft zu vermeiden? Und nebenbei bemerkt war Élaine Entomologin.«

Jacinthe grinste anzüglich.

»War ja nicht persönlich gemeint, Schätzchen. Und denk immer schön dran, dass Tante Jacinthe dir ein Paar tolle rote Converse zum Geburtstag geschenkt hat.«

»Und jetzt auch noch emotionale Erpressung?«

»Auf jeden Fall! Da kenne ich nichts.«

Sie wischte sich mit dem Daumen den Schweiß von der Lippe und fuhr fort: »Wenn das eine Folge von CSI wäre, würde ich dich jetzt fragen, ob nicht vielleicht das junge Pärchen selbst den Kopf in den Container gelegt hat.«

»Aber das ist eben nicht CSI. Das junge Mädchen hatte jedenfalls einen Schock, und diese Bilder werden sie für den Rest ihres Lebens verfolgen. Außerdem, welches Motiv sollten sie denn haben?«

»Was weiß ich. Sich ein Alibi verschaffen oder so?«

Schulterzuckend winkte Victor ab.

»Blödsinn. Neuigkeiten von Kid?«

Der Sergent-Détective hatte Loïc und einige Streifenpolizisten beauftragt, sich in der Nachbarschaft umzuhören, während er mit Jacinthe das Pärchen befragte. Er hoffte, dass sich dadurch Zeugen fanden, jemand, der irgendetwas Ungewöhnliches bemerkt hatte.

»Ich hab eben mit ihm gesprochen. Im Moment noch nichts. Er beschafft sich gerade die Aufzeichnungen der Überwachungskameras aus den Geschäften ringsum, aber meiner Ansicht nach wird das nicht viel bringen.«

»Warum nicht?«

»Keine davon war in der Seitenstraße.«

Jacinthe warf einen Blick über Victors Schulter und kniff dann die Augen zusammen.

»Aufgepasst, gleich gibt’s Ärger.«

Durch die Tore des Todes

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