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6. Gipfeltreffen

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Auf den vielsagenden Blick seiner Partnerin hin, drehte sich Victor um und setzte die Sonnenbrille ab. Ein mittelgroßer Mann kam gemeinsam mit Commandant Rozon, dem Verantwortlichen für Öffentlichkeitsarbeit, auf sie zugesteuert. Er war hager und sehnig, trug ein weißes mit Auszeichnungen geschmücktes Kurzarmhemd und eine dunkelblaue Krawatte mit Nadel. Der Sergent-Détective erkannte ihn sofort: Marc Piché, Leiter des SPVM. Da das Opfer zur Führungsspitze der Polizei gehörte, überraschte es Victor nicht sonderlich, dass der Chef höchstpersönlich, der lange im Feld gearbeitet hatte, den Schauplatz des Verbrechens in Augenschein nahm. Piché ergriff das Wort.

»Lessard, Taillon.«

Sie schüttelten sich zur Begrüßung die Hand. Die beiden Ermittler trafen zum ersten Mal mit Piché zusammen, der schon allein durch seine Erscheinung Eindruck machte. Victor musterte ihn unauffällig: weiße akkurat gescheitelte Haare, Brille mit schwarzer Fassung, energisches frisch rasiertes Kinn. Piché war der Inbegriff des Polizisten und entsprach exakt dem Bild, das sich die Öffentlichkeit von einem Polizeichef machte: Er wirkte beruhigend, streng und porentief sauber.

Piché sah Jacinthe und Victor nacheinander an und erklärte:

»Ich habe schon von Ihnen gehört, wollte die Untersuchung des Falles aber persönlich mit Ihnen besprechen.«

Obgleich er einen höflichen Ton angeschlagen hatte, war am durchdringenden Blick des Polizeichefs unschwer zu erkennen, dass er nicht die geringste Infragestellung seiner Autorität dulden würde. Commandant Rozon war ein wenig zurückgetreten und starrte vor sich hin, ohne Interesse an der Unterhaltung zu bekunden. Jacinthe, neben Victor, trat von einem Fuß auf den anderen, demonstrativ um Gelassenheit bemüht.

Der Polizeichef legte dem Sergent-Détective eine Hand auf den Rücken.

»Gehen wir ein paar Schritte, Lessard.«

Die beiden Männer liefen die Rue Duluth hinauf Richtung Boulevard Saint-Laurent. Das Rauschen des dichten Verkehrs auf der Zentralachse war gedämpft zu hören.

»Ich will Ihnen nicht verschweigen, dass diese Ermittlung von besonderer Bedeutung ist, Victor.«

Piché hob den Kopf und lächelte ihn kurz an.

»Ich darf Sie doch Victor nennen?«

»Selbstverständlich, Monsieur.«

Es klingelte leise. Der Sergent-Détective warf einen unauffälligen Blick auf das Display seines Handys.

»Muss dich DRINGEND sprechen.«

Besorgt schob er das Handy in die Tasche. Nadja ließ nicht locker. Das war ungewöhnlich.

»Wie gesagt, eine ganz besondere Ermittlung. Maurice Tanguay war nicht einfach nur ein Bürger, sondern insbesondere und vor allem anderen Polizist. Ihnen ist sicherlich klar, was das bedeutet?«

»Absolut. Der Mord eines Polizisten darf nicht ungestraft bleiben. Wir werden nichts unversucht lassen, um den oder die Schuldigen zu fassen.«

»Aller Augen sind auf uns gerichtet. Wir müssen schnell reagieren und zeigen, dass wir die Situation im Griff haben. Worüber werden die Medien Ihrer Ansicht nach in den nächsten Stunden berichten? Über den Mord an einem einfachen Bürger oder an einem hochrangigen Beamten des SPVM? Meinen Sie, die Medien werden sich zurückhalten und keinen Zusammenhang zwischen seinem Tod und den Funktionen, die er ausübte, herstellen? Sie werden es als eine Art Abrechnung darstellen, nahelegen, dass die Tat mit einer laufenden Ermittlung zusammenhängt oder irgendwas in der Art. Wir sprechen hier von einem Mann, der während seiner gesamten Laufbahn immer wieder mit Banden und kriminellen Organisationen aneinandergeraten ist.«

Piché straffte sich und blickte Victor an, der ihn um etliche Zentimeter überragte.

»Einer der Unseren ist gefallen. Und wenn ein Polizist in dieser Stadt ermordet wird, ist das System in seiner Gesamtheit bedroht. Jeder Tag, der vergeht, ohne dass wir den Schuldigen gefasst haben, ist ein Tag, an dem das Chaos den Sieg über die Ordnung davonträgt. Das können wir uns einfach nicht erlauben. Wir müssen das Gleichgewicht herstellen, um jeden Preis.«

Victor nickte zustimmend, und Piché fuhr fort:

»Ihnen wird mit Sicherheit nicht entgangen sein, dass in diesem Fall die Art, wie das Verbrechen verübt wurde, ebenso bedeutsam ist wie die eigentliche Tat.«

Der Polizeichef sah ihn durchdringend an.

»Man hat ihn enthauptet, Victor. Ihnen ist gewiss klar, dass die Enthauptung eines Commandant des SPVM eine unmissverständliche Botschaft ist. Es ist ein Angriff auf unsere Autorität.«

Insgeheim hielt der Sergent-Détective die Tatsache, dass ebendieser Kopf in einen Abfallcontainer in einer kleinen Seitenstraße geworfen worden war zwar für eine weitaus unmissverständlichere Botschaft, aber das behielt er für sich. Selbst wenn er die Hypothese, das Verbrechen sei ein Angriff auf die Polizei als Repräsentant für Recht und Ordnung, durchaus in Betracht zog, hielt er die Schlussfolgerung des Polizeichefs in jedem Fall für voreilig.

An der Kreuzung zum Boulevard zog Victor Piché am Arm zurück, der um ein Haar mit einem jungen Mädchen, das auf Rollschuhen angesaust kam, zusammengeprallt wäre.

»Sie haben Zugriff auf alle Ermittlungsakten der Fälle, mit denen Maurice beschäftigt war. Sollte der Mord an ihm etwas mit seiner Funktion zu tun haben, finden Sie dort vielleicht eine Spur.«

Die Hände in den Taschen beobachtete Piché einen Augenblick lang sinnierend den dichten Verkehr und wandte sich dann wieder dem Sergent-Détective zu.

»Mir ist bekannt, dass Sie eine Weile unter Maurice im 11. Revier gearbeitet haben und Ihre Lebensgefährtin nach wie vor dort in Dienst ist.«

Victor richtete sich mit einem Ruck auf, plötzlich auf der Hut. Ihm war zwar klar, dass er sich wahrscheinlich über seine ziemlich schwierige Beziehung zu Tanguay würde äußern müssen, aber was Nadja damit zu tun hatte, begriff er nicht so recht.

»Das ist richtig, Monsieur. Ich verstehe trotzdem nicht ganz …«

Mit einer kurzen Handbewegung brachte ihn Piché zum Schweigen.

»Nadja Fernandez ist die dienstälteste Ermittlerin im 11. Revier. Sie kennt nahezu alle Fälle und wird mit Ihnen zusammenarbeiten. Ich werde Frau Fernandez von ihren laufenden Ermittlungen abziehen und für die Zusammenarbeit mit Ihnen in diesem Fall freistellen. Ich habe bereits mit ihr gesprochen und sie hat eingewilligt. Haben Sie damit ein Problem, Sergent?«

Plötzlich begriff Victor, warum seine Liebste die ganze Zeit verzweifelt versuchte, ihn anzurufen.

»Nein, Monsieur. Natürlich nicht.«

Unversehens trat Piché an ihn heran und platzierte drei Finger auf seiner Brust. Sein Gesicht war nur wenige Zentimeter entfernt.

»Ich kenne Ihre Akte auswendig, Lessard. Sie neigen zu Alleingängen. Ich weiß, dass Sie sich in der Vergangenheit schon häufig Ärger eingehandelt haben, und was Ihre Ermittlungsmethoden betrifft, da habe ich so meine Bedenken.«

Die Züge des Polizeichefs entspannten sich. Er senkte den Arm und trat zurück.

»Davon einmal abgesehen, schätze ich Paul Delaney sehr. Und Paul hält große Stücke auf Sie. Ich habe daher auch seinen Vorschlag unterstützt, dass Sie während seiner Abwesenheit die Abteilung leiten sollten.«

Im vergangenen Jahr war die Frau seines Vorgesetzten im Dezernat Kapitalverbrechen an Krebs erkrankt. Nach einer langen und schweren Behandlung und mehreren komplizierten Operationen hatte sich ihr Gesundheitszustand schließlich gebessert. Inzwischen ging es ihr so gut, dass Delaney, nach den Ergebnissen der letzten Blutuntersuchung, eine sechswöchige Reise nach Italien organisiert hatte, von der die beiden immer geträumt hatten. Und während dieser Reise wollten sie ein neues Kapitel ihrer gemeinsamen Geschichte schreiben: Sie würden sich in Venedig noch einmal das Ja-Wort geben.

»Außerdem ist Delaney offenbar nicht der Einzige, der Ihnen ein geradezu unerschütterliches Vertrauen entgegenbringt. Ted Rutherford schwört ebenfalls, Sie seien einer der Besten unserer Zunft.«

Als Victor den Namen des alten Mannes hörte, hellte sich seine Miene auf.

»Ich wusste nicht, dass Sie Ted kennen.«

»Er war mein Lehrer an der Polizeischule. Ich habe gehört, Sie betrachten ihn als eine Art Ersatzvater. Wie geht es ihm?«

Dass Victor zur Polizei gekommen war, lag an Rutherford, der damals als erster Streifenpolizist am Tatort des Dramas erschien, bei dem Victor seine Familie verloren hatte. Einige Jahre später überzeugte Ted seine damalige Sekretärin und deren Mann, Victor zu adoptieren. Und als Victor in den Polizeidienst trat, wurde Rutherford sein Mentor und Partner. Seit dem Tod seiner Adoptiveltern waren Ted und sein Lebensgefährte Albert Corneau Victors Familie.

Die Miene des Sergent-Détective verdüsterte sich.

»Er ist im Krankenhaus.«

Der Polizeichef kratzte sich verlegen am Kopf und strich das Haar rasch wieder glatt.

»Das wusste ich nicht. Etwas Ernstes?«

»Eine Lungenentzündung. Ich hoffe, er kann bald wieder nach Hause.«

Victors Kehle war plötzlich wie zugeschnürt, und er senkte den Blick. Piché versicherte, das hoffe er auch, und ließ ihm einen Moment lang Zeit, sich zu sammeln.

»Aufgrund der Art des Verbrechens und der Identität des Opfers müssen wir mit dem größten Medienrummel seit Magnotta rechnen. Von Ihnen wird nicht erwartet, dass Sie persönlich mit der Presse reden. Darum kümmert sich meine Abteilung unter Leitung von Commandant Rozon, den Sie gerade gesehen haben. Sie sollen sich uneingeschränkt und mit Ihrer gesamten Energie auf die Ermittlung konzentrieren. Gehen Sie unbürokratisch vor, der ganze Papierkram soll Sie nicht aufhalten. Ich brauche Resultate. Falls Sie etwas benötigen oder sich Probleme ergeben, rufen Sie mich an.«

Die Sonne brannte unerträglich heiß. Victor suchte Schutz im Schatten eines Baumes, und der Polizeichef folgte ihm, ohne dabei seinen Monolog zu unterbrechen.

»Haben wir es hier mit einem Verrückten zu tun, einem, der es nur auf Polizisten abgesehen hat? Oder deutet die Tat eher auf ein Bandenverbrechen oder die Mafia hin? Aber ich muss Ihnen ja nicht sagen, wie Sie Ihre Arbeit erledigen, Victor. Lassen Sie Ihre Kontakte spielen, sprechen Sie mit Informanten und bringen Sie mir den Dreckskerl so schnell wie möglich.«

»Ja, Monsieur.«

Piché legte die Hände hinter dem Rücken zusammen, und seine Miene verfinsterte sich.

»Mir ist zu Ohren gekommen, dass es zwischen Ihnen und Commandant Tanguay Differenzen gab. Ich hoffe, Ihre Ermittlungen werden dadurch nicht behindert.«

Victor öffnete den Mund, um zu protestieren, aber der Polizeichef ließ ihn nicht zu Wort kommen.

»Maurice konnte manchmal sehr stur sein, aber je besser man ihn kennenlernte, desto sympathischer war er. Es ist auch nicht leicht, zuerst die Frau zu verlieren und dann allein ein behindertes Kind großzuziehen.«

»Ich wusste nicht, dass er ein behindertes Kind hatte.«

Sichtlich enttäuscht schüttelte Piché den Kopf.

»Da kennt man sich nun seit fünfundzwanzig Jahren … Maurice war sehr engagiert. Haben Sie gewusst, dass er im Verwaltungsrat einer Organisation saß, die sich um in Schwierigkeiten geratene Jugendliche kümmerte?«

Was Piché ihm hier schilderte, passte so gar nicht zu dem Bild, das Victor sich von Tanguay gemacht hatte. Hatte er sich in Bezug auf seinen früheren Chef so gründlich getäuscht?

»Nein, das war mir nicht bekannt, Monsieur.«

Der Polizeichef wirkte, als tauchte er aus tiefen Abgründen auf, als er jetzt erneut den Sergent-Détective musterte.

»Ich will eine Verhaftung, ich will ordnungsgemäße Verhöre, und der in der Öffentlichkeit sichtbare Teil der Ermittlungen muss absolut unanfechtbar sein.«

Die Stimme des Polizeichefs senkte sich zu einem verschwörerisch anmutenden Flüstern.

»Ich war immer der Ansicht, dass ein guter Polizist seinem eigenen Moralkodex folgen muss. Ich habe meinen Männern weitgehende Freiheit gelassen, um erfolgreich zu operieren. Damit Sie mich recht verstehen: Ich will damit keineswegs sagen, dass der Zweck alle Mittel heiligt. Ich toleriere aber gelegentliche Grauzonen.«

Victor spürte, wie sich sein Magen zusammenschnürte.

»Ich bin nicht sicher, ob ich Sie da richtig verstehe, Monsieur.«

Piché musterte den Sergent-Détective einen Augenblick zu lange; Victor hatte den Eindruck, dass die Tür, die sich gerade einen Spaltbreit geöffnet hatte, wieder ins Schloss gefallen war.

»Vorsicht, ich schlage Ihnen hier kein Selbstbedienungsbüfett vor, bei dem sich jeder nach Belieben etwas herauspicken kann, Sergent. Ich biete Ihnen allenfalls einen gewissen Spielraum, eine gewisse Ellbogenfreiheit. Im Gegenzug bitte ich Sie lediglich darum, auf Ihr eigenes Urteil zu vertrauen.«

Victor öffnete den Mund zu einer Antwort, aber der Polizeichef kam ihm zuvor.

»Finden Sie dieses Schwein, das Maurice Tanguay ermordet hat. Für einen fünfundzwanzigjährigen jungen Mann im Rollstuhl bricht soeben die Welt zusammen. Nichts kann seinen Vater wieder lebendig machen, aber unsere Arbeit besteht darin, dass wir zumindest versuchen, seinen Schmerz zu lindern und alles dafür tun, damit derjenige, der dieses scheußliche Verbrechen verübt hat so schnell wie möglich festgenommen wird.«

Ohne Abschiedsgruß drehte Marc Piché sich um und marschierte zur Bäckerei zurück. Victor folgte ihm mit den Augen und tastete dabei nach der Zigarettenpackung in seiner Hosentasche. Er war wie vor den Kopf gestoßen und hatte keine Ahnung, was er von dem letzten Teil ihres Gesprächs halten sollte.

Nadja ging schon beim ersten Klingelton dran. Noch bevor er etwas sagen konnte, platzte sie mit ängstlicher Stimme heraus:

»Es wäre mir wirklich lieber gewesen, wir hätten miteinander sprechen können, bevor ich ihm antworte, aber Piché hat mir keine Wahl gelassen. Wenn du es für eine schlechte Idee hältst, kann ich ihn immer noch anrufen und die Sache abblasen.«

Victor beschwichtigte seine Liebste. Er freute sich darauf, wieder mit ihr zusammenzuarbeiten.

»Überhaupt nicht, ganz im Gegenteil! Ich finde, das ist eine prima Idee.«

»Bestimmt? Du bist für das Dezernat verantwortlich, daher dachte ich …«

»Ich versuche doch schon seit einiger Zeit, dich zurück ins Kapitalverbrechen zu locken. Komm, wann es dir passt. Du wirst mit Loïc zusammenarbeiten.«

Victor fuhr sich mit der Hand durchs Haar und setzte einen Fuß auf den gewaltigen Pflanzkübel aus Beton, der sich auf dem Bürgersteig der Rue Duluth breitmachte. Den Ellbogen auf den Schenkel gestützt und das Kinn in der Hand blickte er nachdenklich auf die Straße und rauchte. Rechts neben ihm lieh sich gerade eine Jugendliche ein BIXI-Fahrrad, dessen Chromteile in der Sonne schimmerten. Victor dachte an Commandant Tanguay und versuchte, sich dessen Gesicht vorzustellen, sah jedoch nur das Gesicht eines jungen Mannes im Rollstuhl vor sich. Er musste ungefähr so alt sein wie Victors eigener Sohn Martin. Tanguay hatte nie ein Wort über ihn verloren. Hätte ein Gespräch über ihre Söhne etwas an ihrer Beziehung zueinander geändert?

Schulterzuckend zog Victor ein letztes Mal an der Zigarette. Er nahm den Fuß von dem Pflanzkübel, drückte die Kippe in der Erde aus und bemerkte dabei eine Spraydose zwischen zwei Farnsträuchern. Er hob den Blick und musterte die Wand aus weiß getünchtem Backstein vor sich. Sie war mit Graffiti übersät, und eines davon erweckte seine Aufmerksamkeit.

Verwundert wandte Victor sich um. Die Spraydose am Tatort neben dem Abfallcontainer kam ihm in den Sinn, als er aus dem Augenwinkel eine Bewegung erhaschte. Er zog das Handy aus der Tasche und ging mit langen Schritten zu dem gegenüberliegenden Wohngebäude hinüber.

Durch die Tore des Todes

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