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5. Grant Emerson

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Das von der Vergangenheit gezeichnete Gesicht des hochgewachsenen Mannes, der die Rue Notre-Dame Ouest im Viertel Saint-Henri heraufkam, wirkte älter als das eines Achtundsechzigjährigen. Eine erloschene Zigarre zwischen den Lippen lief Grant Emerson gesenkten Hauptes voran, vielleicht lag es an der Last seiner Phantome, dass er sich so gebeugt hielt. Sein Anzug, eine unförmige Hose und die Jacke mit durchgescheuerten Ellenbogen, hatte zwar schon bessere Tage gesehen, aber der Krawattenknoten war tadellos gebunden. Unter seinem Arm klemmte ein Stapel in Plastik eingeschweißter Werbezettel. Während die Sonnenstrahlen auf seinen Rücken brannten, stapfte er langsam voran, den schweren Rucksack über die Schulter geschlungen, und in den schrägen Schaufensterscheiben der Geschäfte spiegelte sich sein verzerrtes Abbild wider.

An einem Telefonmast blieb er stehen, holte einen Hefter aus seinem Rucksack und tackerte den Zettel an jeder Ecke fest. Anschließend trat Grant zurück und musterte kritisch sein Werk. Auf dem Zettel war das Schwarz-Weiß-Foto einer lächelnden jungen Frau zu sehen und darunter stand auf Englisch und Französisch:

Der SPVM, Service de police de la Ville de Montréal, bittet um die Mithilfe der Einwohner. Seit dem 15. Februar wird Myriam Cummings vermisst, 21 Jahre alt, weiß, 1,60 groß, Gewicht 45 kg; sie spricht sowohl französisch als auch englisch. Sie hat lange braune Haare und dunkelbraune Augen. Die Vermisste trug zuletzt einen schwarzen Wollmantel, Jeans, grüne Schuhe und eine Umhängetasche aus Leder. Möglicherweise hält sie sich noch im Raum Montréal auf. Falls Sie diese junge Frau sehen, rufen Sie bitte schnellstmöglich die Nummer 911 an.

Unzählige Male hatte Grant schon darüber nachgedacht, was sich an jenen Tagen unmittelbar vor dem Verschwinden Myriams zugetragen hatte und war irgendwann zu dem Schluss gekommen, dass er selbst ein Großteil der Verantwortung dafür trug. Nach jener schwierigen Phase, in der Myriam seine Gegenwart in ihrem Leben zunehmend schlechter ertrug und nach den darauffolgenden Monaten, als er wieder leise Hoffnung auf Versöhnung schöpfte, war sie plötzlich verschwunden. Grant machte sich Vorwürfe, zu starrsinnig, zu unnachgiebig gewesen zu sein; er konnte ja nicht ahnen, dass sein Verhalten dabei überhaupt keine Rolle gespielt hatte. Ein böses Schicksal, das jahrelang anderswo sein Unwesen getrieben hatte, verfolgte sie von neuem.

Myriam … er träumte oft von ihr, und in seinen Träumen erschien sie ihm noch kleiner und zerbrechlicher als in Wirklichkeit.

Grant nahm seine alte Nikon aus dem Rucksack und stellte sie geschickt ein. Digitalkameras kamen für ihn nicht infrage. Wie konnte sich jemand, der seine Negative nicht selbst entwickelte, überhaupt als Fotograf bezeichnen? Er kniff ein Auge zu, und im Sucher erschien die Anzeige, die er soeben am Mast befestigt hatte. Gerade als er im Begriff war, den Auslöser zu betätigen, traf ihn Myriams Lächeln wie ein Faustschlag in den Magen und zwang ihn innezuhalten.

Um sich seine Brötchen zu verdienen, hatte Grant früher als Kriminalfotograf gearbeitet. Einer der besten, wie es hieß, so gut, dass er während der großen Zeit der Zeitschrift Allô Police beinahe zu einer Legende geworden wäre. Aber eben nur beinahe, denn aus einer ganzen Reihe von Gründen hatte er damals angefangen, mehr zu trinken, als gut für ihn war, und Kokain zu schnupfen – und er hatte Anik kennengelernt.

Grant schüttelte sich aus seiner Erstarrung, stellte erneut den Sucher ein, machte ein Bild der Anzeige und hielt in seinem Notizbuch genau fest, wo sich der Telefonmast befand. In den vergangenen Wochen hatte er mehrere Viertel der Stadt durchstreift und die Suchmeldung überall in Montréal aufgehängt.

Er strich sich über den zerzausten Bart. Die vielen Zigarren hatten im Lauf der Zeit einen gelben Halbkreis in den weißen Haaren hinterlassen. Für die wenigen Passanten, die vorbeikamen, war er bloß ein Abgestürzter, einer der vielen armen Schlucker, die mit ihrem Leben nicht zurechtkamen und die Straßen von Montréal bevölkerten.

Erst in diesem Augenblick wurde ihm bewusst, dass ihn jemand beobachtete. Eine junge Frau auf der gegenüberliegenden Straßenseite sah voller Mitgefühl zu ihm herüber. Geblendet von der grellen Sonne hob Grant die linke Hand und stieß sie Richtung Himmel, als wollte er dem Feuerball dort oben einen Schlag versetzen.

Diese junge Frau, ihr Gesicht … ohne zu zögern, stürzte er auf sie zu und schwenkte aufgeregt die Arme.

»Myriam! Bist du’s, Myriam?«

Alles andere vergessend und wie von Sinnen lief Grant über die Straße. Dort stand Myriam, seine kleine Myriam, direkt vor ihm. Ein Auto streifte ihn leicht, hupte, ein anderes konnte ihn gerade noch rechtzeitig umkurven, aber immerhin kam er heil auf der anderen Straßenseite an. Die junge Frau, die er gesehen hatte, eilte auf ihn zu und hielt ihn stützend am Arm. Sein Atem ging schwer und laut.

»Monsieur … Monsieur, ist alles in Ordnung mit Ihnen?«

Grant legte seine zitternden Hände an die Wangen der jungen Frau und sah ihr in die Augen.

»Geht es Ihnen besser, Monsieur?«

Er musterte sie wie betäubt.

»Sie wären beinahe angefahren worden! Monsieur? Monsieur?«

Mit einem Schlag war er wieder zurück in der Wirklichkeit; er nickte zustimmend und lächelte angestrengt.

Als er sich zum Gehen wandte, verspürte er plötzlich das Bedürfnis, das Missverständnis aufzuklären.

»Entschuldige, meine Schöne … Ich habe dich mit jemandem verwechselt.«

In ein Selbstgespräch versunken, ging Grant die Rue Greene entlang und stieß die Tür zum Greenspot auf, einem rund um die Uhr geöffneten Schnellimbiss. Einige Stammgäste saßen an den langen Tischen, an deren Ende antiquierte Juke-Boxen prangten. Grant nahm an der Theke auf einem mit rotem Skai bezogenen Aluminiumbarhocker Platz und legte die Anzeige neben sich. Eigentlich hatte er zwar Lust auf einen Whiskey, entschied aber, dass es dafür noch zu früh war, und bestellte sich eine Cola, zwei Hot-dogs und eine Portion Pommes frites.

Der Kellner stellte die Dose und ein Glas mit Eiswürfeln vor ihm ab und schob einen Bierdeckel darunter. Grant schenkte sich ein und nahm einige Schlucke. Gedankenverloren kaute er auf seiner erloschenen Zigarre herum. Seit Myriam verschwunden war, hatte sich ein fester Tagesablauf bei ihm eingebürgert: Er brach früh am Morgen auf, lief bis zum Nachmittag durch die Straßen und hängte seine Suchanzeigen auf. Anschließend ging er kurz in ein Bistro oder eine Bar, wo er finster vor sich hin brütete. Dann kehrte er nach Hause zurück und rauchte seine spuckefeuchten Zigarrenstummel.

Auch der heutige Tag war nach genau demselben Muster verlaufen. Draußen war es noch warm, und an die Wand des Restaurants gelehnt, zündete sich Grant eine Zigarre an und betrachtete die Straße, die sich langsam belebte, während grüne Neonschrift die einsetzende Dunkelheit erhellte. Hin und wieder verschwand sein verwittertes Gesicht hinter einer Rauchwolke, während er mit der Fußspitze in dem achtlos weggeworfenen Papier auf dem Bürgersteig stocherte.

Einer plötzlichen Eingebung folgend wechselte er dann die Straßenseite und ging die Rue Greene hinunter Richtung Marché Atwater. Der Kirchturm mit der Uhr hob sich vor dem nächtlichen Himmel ab. An der Stelle, wo die Straße sich verzweigte, befand sich ein kleiner, um diese Tageszeit verlassener Park. Grant setzte sich auf eine Bank und verstaute seinen Rucksack unter der Sitzfläche. Anschließend nahm er die Pistole, die in seinem Gürtel steckte und legte sie neben sich.

Die Ellbogen auf die Schenkel gestützt, legte er das Gesicht in die Hände. Dann bedeckte er die Augen mit einer Hand, und seine Schultern bebten. Lange Zeit schluchzte er stumm vor sich hin, während Fragen auf ihn einstürmten.

Myriam … Wo würde er sie finden?

Grant Emerson war nicht gläubig, aber jetzt wandte er sich an Gott und verfluchte ihn inbrünstig, drängte ihn, ihm ein Zeichen zu geben. Schließlich nahm er die Pistole und steckte den Lauf in seinen Mund. Zitternd näherte sich sein Zeigefinger dem Abzug.

War das wirklich alles, was die Menschheit ihm zu bieten hatte?

Durch die Tore des Todes

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