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48. Unter der Erde

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Die Waffe in der Hand, richtete Victor Lessard den Lichtstrahl seiner Taschenlampe in die Dunkelheit und tastete sich mit vorsichtigen Schritten in den Kanalisationsschacht hinein. Der Lichtstrahl glitt über die Betonwände mit den Ablagerungen und ließ das schlammige Wasser im Schacht aufblitzen. Ein ekelhafter Geruch stieg ihm in die Nase; er verzog das Gesicht und biss in die Zitrone, die zwischen seinen Zähnen klemmte. Er war noch nie in einen Abwasserkanal hinuntergestiegen und hatte Angst vor den Ratten, die sich hier vermutlich herumtrieben.

Jacinthe Taillons ungeduldige Stimme knisterte in seinem Hörer.

»Na und? Kannst du was sehen?«

Das Donnergrollen im Hintergrund deutete er als böses Omen. Ein Gewitter braute sich zusammen.

Victor spuckte den Zitronenschnitz aus.

»Bis jetzt noch nicht.«

Jacinthe leitete die Operation von oben und wartete dort auf Verstärkung ihres Teams und die Arbeiter, die für die Instandhaltung des Tunnels zuständig waren.

»Hey, Lessard … pass da unten bloß auf deine neuen Sneaker auf. Du weißt schon, du würdest ja noch in den einzigen Hundehaufen in der Wüste reintreten.«

Das etwas bemühte Lachen seiner Partnerin bohrte sich in sein Ohr. Offenbar ein gutgemeinter Versuch, die angespannte Stimmung etwas zu lockern. Ihre Bemerkung spielte auf die roten Converse aus Leder an, die er vor zehn Tagen zu seinem Geburtstag geschenkt bekommen hatte. Victor sah lieber gar nicht erst hin: Das schmutzige Abwasser stand ihm bis zu den Waden.

Seit er die gezückte Waffe in der Hand hielt, hatte sich sein Puls beschleunigt, und das flaue Gefühl in seinem Magen wurde merklich stärker. Und er wusste auch, woran das lag: Es war die Angst. Eine Angst, die sich mit dem Adrenalin in seinen Venen zu einem explosiven Gebräu mischte. Er ließ den Lichtstrahl über die Betonwände wandern: Die Kalkablagerungen hatten sich zu Stalaktiten geformt. Während er sich langsam vorwärtsbewegte, zeigte sich ihm im Lichtkreis der Taschenlampe stets das gleiche Bild: bräunliche Pfützen auf dem Boden des Abwasserkanals und ansonsten nur schwarze Leere. Er blieb stehen, atmete tief ein und hielt die Luft an.

Dass jede Leere letztlich immer etwas enthielt, wusste er. Sobald man die Lider schloss und Bilder vor dem inneren Auge auftauchten, wurden die Schatten in der Dunkelheit deutlicher. Vor allen Dingen aber war ihm klar, dass diese Bilder, wenn man sie zuließ, einen mit Haut und Haaren zu verschlingen drohten.

Jacinthes Stimme holte ihn in die Wirklichkeit zurück.

»Hey, hast du ihn gefunden, oder was?«

»Nein. Und brüll nicht so rum, Jacinthe. Mir platzt gleich das Trommelfell.«

»Okay, okay. Stell dich nicht so an, Weichei.«

Victor ging langsam weiter, als der Lichtstrahl seiner Taschenlampe plötzlich aufflackerte. Er stieß die Lampe zweimal gegen den Lauf seiner Waffe, und besorgt fiel ihm ein, dass er die Batterien seit langer Zeit nicht ausgewechselt hatte. Vor ihm, in Sichtweite, bog der Kanal nach links ab, weiter konnte er nicht sehen. Als er nur noch ein paar Schritte entfernt war, hörte er Trappeln und nahm undeutlich eine Bewegung wahr. Er zuckte zusammen und schrie leise auf.

»Lessard? Was quiekst du denn?«

Sein Herz pochte heftig.

»Irgendwas ist gerade zwischen meinen Beinen durchgehuscht.«

Den Finger am Abzug, ließ er den Lichtstrahl über das Wasser am Boden wandern, bereit, den Nager in der Luft zu zerfetzen. Es war jedoch nichts zu sehen.

Wieder vernahm er die gepresste Stimme seiner Kollegin.

»Was war das denn?«

»Weiß ich nicht. Wahrscheinlich eine widerliche Ratte.«

Schwer atmend legte Victor die restlichen Meter bis zur Kurve zurück und hielt dort abrupt inne. Hier war der Gestank noch durchdringender: Der Dunst nach fauligem Fleisch und Exkrementen schlug ihm entgegen.

Ein heftiger Hustenanfall schüttelte ihn. Die Nase in die Armbeuge gepresst ging er weiter und unterdrückte einen Anfall von Übelkeit. Jacinthe fragte ihn unaufhörlich, was los sei, aber er nahm ihre Stimme nur noch als ein fernes Rauschen wahr. Seine Zweifel waren schlagartig verflogen. Er wusste jetzt, was ihn erwartete. Und er fürchtete es mehr als alles andere.

Obwohl es Victor nicht gelang, eine innere Stimme auszublenden, die ihm befahl umzukehren, und obwohl ihm klar war, dass ihn jeder Schritt der Welt der Schatten näher brachte, wagte er sich weiter vor. Bis das, was er erwartet hatte, schließlich im Lichtkegel seiner Lampe vor ihm auftauchte.

Die menschliche Gestalt saß unmittelbar vor ihm auf dem Boden, mit dem Rücken gegen die Betonwand gelehnt, Hüfte und Gesäß im Wasser. Von den steif ausgestreckten Beinen der Leiche ragten nur noch zwei Schuhspitzen aus dem Wasser hervor. Victor richtete den Lichtstrahl auf die Schuhe und ließ ihn dann langsam nach oben wandern, bis zum Oberkörper des Toten. Erst als er die Brust der Leiche sah, fiel ihm auf, dass irgendwas nicht stimmte. Der Brustkorb hob und senkte sich leicht. Das Opfer atmete noch! Victor wich zurück und wäre um ein Haar rücklings umgekippt.

Er konnte sich gerade noch an der Mauer abstützen, aber seine Taschenlampe rutschte ihm aus der Hand, fiel in die Dunkelheit und erlosch, als sie ins Wasser eintauchte.

Es war mit einem Mal so dunkel, als hätte jemand ein blickdichtes Tuch über seine Augen gezogen.

»Lessard, was machst du eigentlich da unten? Du zerrst an meinen Nerven!«

Victor setzte den Ohrhörer ab und legte ihn über die Schulter. Er musste unbedingt diese überlebenswichtige Lampe wiederfinden, Jacinthes Fragen konnten erst mal warten. Er schob die Glock zwischen Hüfte und Gürtel, hockte sich nieder und tastete blind im schlammigen Wasser umher. Währenddessen, jedenfalls solange ihn keine Ratte biss, überstürzten sich die Gedanken in seinem Kopf.

Schließlich stießen seine Finger gegen etwas Festes. Er schloss die Hand um die Taschenlampe, fischte sie aus dem Wasser, schickte ein Stoßgebet zum Himmel und schüttelte sie. Dann schob er den Schalter mehrmals nach oben. Nichts. Wütend schlug er das Metallgehäuse gegen seinen Schenkel.

»Verdammt! Du lässt mich jetzt nicht einfach im Stich.«

Victor seufzte erleichtert auf, als der Lichtstrahl aufblitzte. Vorsichtig ging er näher an das Opfer heran und bemerkte, dass er in der Aufregung nicht auf das merkwürdige leise Rumoren geachtet hatte, das jetzt ganz deutlich an sein Ohr drang. Erst als er unmittelbar vor dem Toten stand, begriff er die Ursache des Geräusches: Eine ganze Rattenkolonie hatte sich über den Toten hergemacht und bedeckte seinen Körper wie eine zweite Haut. Das erklärte auch, warum er zuerst geglaubt hatte, der Tote atme noch.

Obwohl er Jacinthe mitteilen wollte, welchen Fund er gemacht hatte, zog ihn der widerwärtige Anblick derart in seinen Bann, dass er kein einziges der vielen Worte herausbrachte, die durch sein Hirn rasten.

Der Kopf der Leiche – offenbar ein Mann – war am Nacken abgetrennt worden. Victor schrie auf, versuchte, seinen Ekel zu überwinden und schlug die Taschenlampe gegen die Betonwand, um die Ratten zu verscheuchen, die in der durch die Enthauptung entstandenen Öffnung wimmelten. Sie ließen sich aber nicht weiter davon stören und benagten gierig den Toten, rissen Fleischfetzen ab und verschlangen sie auf der Stelle.

Der Ohrhörer spuckte Jacinthes weit entfernt klingende Stimme aus, während Victor mit dem Lauf der Glock herumfuchtelte, um ein paar Ratten zu vertreiben, bis er schließlich die Schulter des Toten so lange genug von den Tieren befreien konnte, dass er die mit Abzeichen geschmückte Paradeuniform des Toten erkannte. Victor stöpselte den Hörer in sein Ohr und unterbrach seine Kollegin, die ihn mit einer Litanei an Vorwürfen überschüttete.

»Jacinthe?«

»Was zum Teufel treibst du da unten? Mit wem hast du …«

Er schnitt ihr kurzerhand das Wort ab.

»Hier liegt die Leiche des Commandant. Die Ratten fressen ihn gerade.«

Jacinthe schwieg einen Augenblick.

»Bist du sicher, dass es nicht der Weihnachtsmann ist?«, fragte sie dann.

Paradeuniform und Enthauptung ließen keinerlei Zweifel an der Identität des Toten. Genau das wollte er Jacinthe gerade mitteilen, als ihn eine Welle der Übelkeit überkam und sein Magen sich von neuem verknotete. Diesmal konnte er sich nicht zurückhalten. Er wandte sich ab, um den Tatort nicht zu verunreinigen und erbrach sich ins Wasser.

Als er nach der Zigarettenpackung in seiner Tasche tastete, fiel der Strahl seiner Taschenlampe auf die Betonwand. Er kniff die Augen zusammen, aber sein erster Eindruck hatte ihn nicht getäuscht. Es stand tatsächlich dort.

»Scheiße«.

»Wo liegt das Problem? Los, erzähl schon, Lessard.«

Dicht neben dem Toten schmückte ein gigantisches Graffiti die Betonmauer des Tunnels. Es war rechteckig und ungefähr zwei Meter breit. Ein Skelett mit smaragdgrünen Augen fixierte darauf einen Mann mit weißem Rauschebart und roter Weihnachtsmannmütze, der an ein mit Lichtern bestecktes Metallkreuz genagelt war. Einen Augenblick lang starrte Victor mit offenem Mund auf das Machwerk. Makaber, verstörend und dennoch irgendwie ergreifend. Ohne auf die Stimmen seiner Kollegen zu hören, betrachtete der Polizist die Wandmalerei einige Sekunden lang. Dann wirbelte er herum und jagte so schnell in Richtung Ausgang davon, dass mit jedem Schritt eine Wolke aus Gischt aufsprühte.

»Sie sind am Mont Royal, Jacinthe.«

Durch die Tore des Todes

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