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Die Menschwerdung des Menschen

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Bis heute kann die Naturwissenschaft auf die Frage, ab wann unsere (tierischen) Vorfahren als Menschen zu gelten haben, keine schlüssige und befriedigende Antwort geben. „Nichts in der Evolution ist schwerer zu bestimmen als die Schwelle zur Menschwerdung“27. In jedem Fall hat es sich dabei nach heutigen Vorstellungen um einen sehr komplexen und lang andauernden Prozess gehandelt.

Auch scheint es in der Evolution so etwas wie eine „planvolle Freiheit“ zu geben. Was aus der einen Perspektive wie Zufall aussieht, kann sich aus einer anderen durchaus als ein zielgerichteter „Drang“ der Natur (Pierre Teilhard de Chardin) darstellen. Gewaltige Zeiträume waren zu durchschreiten, ehe sich das Leben auf der Erde entwickelte und schließlich der Mensch auftrat. Astrophysiker sprechen von einer „Feinabstimmung“ der fundamentalen Naturkonstanten im frühen Universum. Wären diese auch nur geringfügig anders gewesen, hätte sich kein Leben und erst recht kein menschliches Leben entwickeln können. Die Wahrscheinlichkeit des Zusammenkommens dieser, die Menschwerdung ermöglichenden Faktoren wird mit 10−80 angegeben. Manche Physiker sprechen hier vom „anthropischen“ (gr. = auf den Menschen bezogen) Prinzip.28 Vor allem amerikanische und britische Wissenschaftler haben eine Reihe von eigenartigen „Zufälligkeiten“ entdeckt, bei denen die rätselhafte Zahl 1040 im physikalischen Aufbau der Welt als Vorbedingung für die Existenz jeder Lebensform eine Rolle spielt: „Wenn wir ins Universum hinausblicken und erkennen, wieviel Zufälle zu unserem Wohle zusammengearbeitet haben, dann scheint es fast, als habe das Universum in gewissem Sinn gewusst, dass wir kommen“ (F. Dyson29).

Einige Wissenschaftler gehen noch weiter und vertreten die Ansicht, dass die Naturgesetze sich so, wie sie sind, entwickelt haben einzig und allein zu dem Zweck, dass menschliches Leben auf der Erde entstehen konnte. Der Mensch sei von Anfang an das Ziel aller kosmischen und terrestrischen Evolution gewesen. Manches geht freilich über den Rahmen einer vagen, wenn auch interessanten Hypothese nicht hinaus. Die Gefahr einer anthropozentrischen Denkweise und einer letztlich teleologischen Deutung der Evolution liegt nahe.

Aufgrund neuerer Fossilienfunde in den Hochebenen von Tansania und Kenia wird das Alter der Menschheit auf 4 oder gar 6 Millionen Jahre geschätzt. Die Evolution des Lebens, auch des menschlichen Lebens, stand unter dem Gesetz des „survival of the fittest“.30 Überlebensfähig war nur, wer sich so gut auf die sein Leben gefährdenden oder fördernden Umstände eingestellt hatte, dass er der lebensbedrohenden Gefahr auszuweichen oder sie zu bestehen vermochte und dass er das Lebensförderliche aufsuchen und ausnutzen konnte. Das seiner Umwelt am besten angepasste und in ihr am ehesten überlebensfähige Lebewesen war aber dann bedroht, wenn sich die Umwelt, an die es sich optimal angepasst hatte, zu verändern begann. Das konnte so rasch geschehen, dass eine hochspezialisierte Spezies nicht schnell genug zu reagieren vermochte und damit zum Aussterben verurteilt war.

Evolutionsbiologen vertreten heute die Ansicht, dass der Mensch seine Entstehung mittelbar einer gigantischen Katastrophe zu verdanken hat. Wahrscheinlich führte der Einschlag eines Asteroiden von 10 Kilometer Durchmesser vor 65 Millionen Jahren zum größten bekannten Massensterben auf unserem Planeten. Das Geschoss aus dem Weltraum bohrte sich tief in die Erdkruste ein, löste Erdbeben, Vulkanausbrüche und Flutwellen aus und ließ eine Art nuklearen Winter anbrechen, in dem nahezu alle Pflanzen verdorrten. Damals verschwanden nicht nur die Dinosaurier, nachdem sie rund 140 Millionen Jahre die Erde beherrscht hatten. Mit ihnen gingen auch, so schätzt man, 60 bis 80 Prozent aller Arten zu Grunde.

Vermutlich war der nicht auf einen bestimmten Lebensraum fixierte und spezialisierte (Ur-) „Mensch“ umweltunabhängiger als andere inzwischen ausgestorbene Artgenossen. Dennoch stand (und steht) auch er unter dem Selektionsdruck, sich anpassen zu müssen, um überleben zu können. Doch im Unterschied zu anderen Lebewesen passte er sich der Umwelt nicht dadurch an, dass sich seine Erbinformationen und damit seine körperliche Beschaffenheit änderten, sondern er benutzte Gegenstände aus seiner Umwelt und verfertigte sie zu Werkzeugen, um damit seine mangelhafte Spezialisierung auszugleichen. So paradox es klingen mag: Gerade die Tatsache, dass der Mensch ein „Mängelwesen“ (Arnold Gehlen) ist, bewahrte ihn vor dem Aussterben. Die fehlenden Krallen oder die im Vergleich zu Raubtiergebissen unterentwickelten Zähne ersetzte er durch Steinwerkzeuge zum Schneiden, Schaben und Schlagen oder durch hölzerne, bald schon im Feuer gehärtete Speere und knöcherne Stachel. Für das fehlende Haarkleid hängte er sich die Felle erbeuteter oder gefundener Tiere um. Offenbar lernte es der „Mensch“, Werkzeuge immer differenzierter zu fertigen und überlegt einzusetzen. Diese Sammler, Jäger oder Wildbeuter-Menschen waren also genötigt, sich wie andere Lebewesen den (wechselnden) Erfordernissen der Umwelt anzupassen; sie taten das aber mit anderen Mitteln: Sie halfen sich mit eigens dafür hergestellten Werkzeugen. Ihr Wissen und ihre Fertigkeit wurden von ihren Kindern übernommen und nachgeahmt. Carsten Bresch sieht im Nachahmungstrieb eine wesentliche Voraussetzung der Menschwerdung. Durch Nachahmung entsteht Lebenserfahrung, Übertragung von Tradition von einer Generation zur anderen.31

Diese Situation änderte sich grundlegend erst vor etwa 10.000 Jahren. In einem sich über Jahrtausende hinziehenden Prozess, für den sich erste Ansätze auch wieder über Tausende von Jahren zurückverfolgen lassen, wurde der Mensch sesshaft. Er begann, Ackerbau und Tierhaltung zu entwickeln. Das Neuartige an dieser Einstellung zur Welt bestand darin, dass der Mensch nun nicht länger versuchte, sich der Umwelt anzupassen, sondern dass er zunehmend dazu überging, in umgekehrter Weise die Umwelt sich anzupassen. Im Laufe der Jahrtausende begann er, über das bloße Beobachten und Reagieren hinaus selbst zu experimentieren. Er versuchte, die beobachteten Prozesse und Zustände selber herbeizuführen oder herzustellen und die Ergebnisse seines Forschens und Experimentierens anderen mitzuteilen. Schrift und Wissenschaft begannen, sich zu entwickeln.

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