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Person-Sein

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In der abendländischen Philosophie und Theologie wird die Eigenart der leib-geistigen Existenz des Menschen als „Person-Sein“ bezeichnet. Was ist damit genau gemeint? „Auf die Frage: ‚Was ist deine Person?‘ – kann ich nicht antworten – ‚mein Körper, meine Seele, mein Verstand, mein Wille, meine Freiheit, mein Geist‘. Das alles ist noch nicht Person, sondern gleichsam erst deren Stoff. […] Person wird als die Tatsache bestimmt, dass der Mensch in sich stehe, aus sich handle, für sich verantwortlich und in Würde Zweck seiner selbst sei.“ (Romano Guardini38)

Das Wort „Person“ kommt vermutlich vom etruskischen „phersu“ und bedeutet Maske. Der Ursprung des Maskentragens wird wohl darin zu suchen sein, dass die alten Jäger sich als Tiere verkleideten, um Beute anzulocken oder Feinde zu verscheuchen. Häufig wird – in späterer Zeit – die Maske zu Kulttänzen oder Dämonenaustreibungen verwendet. Sie identifiziert den Träger mit einem anderen (höheren) Wesen. Sie löscht die Existenz des Maskierten aus und lässt ihn zu dem werden, dessen Maske er trägt. Der Maskenträger spielt nicht, er wird verwandelt. Weil in der antiken Tragödie die Mimen darum grundsätzlich Masken vor dem Gesicht trugen, durch deren Mundöffnung sie „hindurchtönten“, wird „persona“ häufig, aber etymologisch nicht zutreffend, von dem lateinischen Wort „per-sonare“ (= hindurchtönen) abgeleitet.

Das entsprechende griechische Wort für Person heißt „prósopon“ (wörtlich: das, dem man sich gegenübersieht). Es kann die Bedeutung Maske oder auch Gesicht haben. In der griechischen Übersetzung des Alten Testaments wurde „prósopon“ häufig verwendet, um das „Antlitz Gottes“ zu bezeichnen (vgl. dazu etwa den bekannten aaronitischen Priestersegen: „Der Herr lasse dein Antlitz über dir leuchten und sei dir gnädig! Der Herr erhebe sein Antlitz auf dich und gebe dir Frieden!“; [Num 6,24–26]).

Etwa im 3. Jahrhundert tritt im griechisch sprechenden Osten des Römischen Reiches an die Seite von „prósopon“ ein anderer Begriff, der mehr das Statische, Grundsätzliche betont: „hypóstasis“ (wörtlich: das sich unterhalb Aufstellende; lateinisch: substantia). Im klassischen Griechisch besagt das Wort nichts anderes als die Wirklichkeit im Unterschied zum Scheinbaren. Mehr und mehr nimmt dieser Begriff die Bedeutung an: „konkrete, individuelle, unabhängige Wirklichkeit“.39

Die erste formalontologische Definition des Personbegriffs, die wir besitzen und die weithin auch noch für das neuzeitliche Denken bestimmend ist, stammt von Boë thius (ca. 480–524): „Persona est naturae rationalis individua substantia“ (Person ist die unteilbar-ganze Wirklichkeit einer geistbegabten Natur).40

Für die Neuzeit wurden jene Bestimmungen des Personbegriffs maßgebend, die Immanuel Kant (1724–1804) eingeführt hat: „Person ist dasjenige Subjekt, dessen Handlungen einer Zurechnung fähig sind“.41 Das macht die Person zum unbedingten „Gegenstand der Achtung“, zum „Zweck an sich selbst“, so dass Kant seinen viel zitierten, individuell gefassten „kategorischen Imperativ“ im Hinblick auf das Person-Sein des Menschen zu der Forderung umformuliert: „Handle so, dass du die Menschheit, in deiner Person als in der Person eines jeden anderen, jederzeit als Zweck und niemals bloß als Mittel gebrauchst.“42 Person-Sein zeichnet sich aus durch Ich-Bewusstsein, Selbstbejahung und freie Selbstbestimmung. Person ist das zu Selbstbewusstsein und Selbstbestimmung fähige Wesen.43

Angesichts der enormen Fortschritte in der Medizin und einer zunehmenden Industrialisierung des Umgangs mit Tieren (und inzwischen auch mit „embryonalen Stammzellen“) hat eine Antwort auf die Frage nach dem Person-Sein des Menschen und die damit verbundene Begründung des Anspruchs auf Achtung und Schutz des Lebens einen wichtigen und brisanten Stellenwert erhalten. Es sind heftige Kontroversen darüber entbrannt, wer als Person zu gelten habe und wieweit Person-Sein mit dem Besitz bestimmter, empirisch feststellbarer Eigenschaften gleichgesetzt werden könne. Die jeweilige Antwort auf diese Fragen hat unmittelbare Auswirkungen darauf, welches ethische Verhalten in Konflikt- und Grenzfällen geboten ist (Abtreibung, Embryonen-Forschung, medizinische Experimente, Hirntod, [aktive] Sterbehilfe, Schwerstbehinderung u.a.).

Wann aber wird der Mensch Person in diesem vollen Sinn? Als Antwort auf diese Frage werden in der heutigen Diskussion vor allem drei Positionen vertreten:

Die strengste Auffassung geht davon aus, dass menschliches Leben im umfassenden Sinne schon ab dem Augenblick der Zeugung, also mit der Befruchtung gegeben ist. Was von Menschen gezeugt ist, gehört zur Gattung Mensch. Der Embryo ist daher von der Empfängnis an wie eine Person zu behandeln.44

Zunehmend wird vor allem von Naturwissenschaftlern die Ansicht vertreten, dass erst mit dem Augenblick der Nidation der befruchteten Eizelle in der Gebärmutterschleimhaut von menschlichem Person-Sein gesprochen werden kann. Verhältnismäßig viele befruchtete menschliche Eizellen gelangen nämlich überhaupt nicht zur Nidation, und es stellt sich damit die Frage, ob auch diese Zellen vollgültiges menschliches Leben, also Person, sein sollen.

Eine dritte Position geht noch weiter. Sie setzt bei der Diskussion um den „Gehirntod“ an und projiziert diesen auf den Beginn menschlichen Lebens zurück. Der Mensch wird als leib-geistiges Wesen definiert. Die Möglichkeitsbedingungen geistigen Verhaltens liegen in der Großhirnrinde. Ohne ein funktionstüchtiges Gehirn ist Geistigkeit nicht nachweisbar. Wenn ein Mensch, dessen Gehirn nicht mehr funktioniert, als tot zu gelten hat, so kann auch ein Mensch, dessen Gehirn noch nicht funktioniert, nicht im Vollsinn als menschliche Person betrachtet werden.

Die erste dieser drei Positionen klammert den Aspekt des Werdens völlig aus. Selbstverständlich liegt schon in der befruchteten Eizelle die volle Potentialität zu menschlicher Existenz. Doch darf man so weit gehen, das Leben eines „Zellhaufens“, einer Zygote, ab dem ersten Tag schon als „berufen zur Auferstehung“ zu betrachten?

Diese Frage ist auch der zweiten der oben angeführten Positionen zu stellen. Ist die befruchtete und eingenistete Eizelle nicht vielmehr nur als gattungsspezifisch menschliches Leben zu werten, das erst in der Folgezeit der Entwicklung zum personalen Wesen wird? Sicher entwickelt sich der Mensch nicht zum Menschen, sondern er entwickelt sich als Mensch. Aber sind „unentwickelter“ und „entwickelter“ Mensch in gleicher Weise als „personales Wesen“ anzusprechen?

Richtig ist ohne Zweifel, dass menschliches Person-Sein nicht allein von der Aktualität und Aktualisierung der oben genannten Kriterien des Person-Seins (Ich-Bewusstsein, Selbstbejahung, Selbstbestimmung) definiert werden darf, sondern auch von der Potentialität her, d.h. von der realen Möglichkeit, sich zu einer bewussten und verantwortungsfähigen Existenz zu entwickeln. Bewusstsein und Verantwortungsfähigkeit bilden sich heraus, indem die Mutter oder andere Bezugspersonen das Baby, vielleicht sogar schon den vorgeburtlichen Embryo, so behandeln, „als ob“ er bereits bewusst und verantwortungsfähig wäre. „Die Voraussetzung und Bedingung dafür, dass menschliches Leben als bewusste und verantwortungsfähige Person erscheint, ist, anders gesagt, diese, dass andere mit ihm von Anfang an so umgehen, als sei es eine Person […]. Diese Potentialität im Sinne eines Angelegtseins ist entschieden mehr als die Potentialität im Sinne eines bloßen Offenseins für die Möglichkeit.“45

Jede menschliche Person beginnt ihre Existenz unentfaltet. Sie ist von Anfang an nicht „fertig und abgeschlossen“, sondern Person-im-Werden, in der Entwicklung. Man könnte wohl auch sagen: Person-in-Evolution. Denn sie evolviert ihr Person-Sein erst allmählich aus dem Stadium des gänzlich unbewussten Existierens zum Ich-Bewusstsein. Einen mehr oder minder gewichtigen Rest von Unbewusstem schleppt jeder Mensch zeitlebens mit sich herum. Menschliches Person-Sein entfaltet sich langsam zur Selbstbejahung und zur freien Selbstbestimmung. Nicht wenige Personen leiden vorübergehend oder auf Dauer unter einem erheblichen Mangel oder unter starker Eingeschränktheit dieser Merkmale der menschlichen Person. Es ist aber unzulässig, daraus die Folgerung zu ziehen: Wenn ein menschliches Wesen nicht in der Lage ist, die genannten Kriterien der Personalität wahrzunehmen und die Indikatoren der Personalität aktiv und aktuell zu vollziehen, dann ist ein solches Wesen auch keine Person.46

Menschliches Leben ist definiert durch lebenslanges Werden und Verändern. Die Kriterien des Personalen (Ich-Bewusstsein, Selbstbejahung und freie Selbstbestimmung) sind ebenso Abstraktionen wie „der“ Mensch und „das“ Leben, und sie werden in der Konkretheit der wirklichen Lebensverläufe keineswegs einheitlich realisiert – teils mehr, teils weniger, teils nur in bescheidenen Ansätzen (die für Außenstehende gar nicht immer wahrnehmbar sein müssen), teils deutlich erkennbar. Es gibt im wirklichen Leben kaum je scharfe, für jedermann klar ersichtliche Einschnitte zwischen ihrem (Schon-)Vorhandensein und ihrem (Noch-) Nichtvorhandensein. Stets sind die Übergänge fließend, oder es handelt sich um Mischverhältnisse (ein Kriterium ist erkennbar, ein anderes nicht).

Wenn also der Spezies „Mensch“ das Person-Sein zeitlebens grundsätzlich eignet, dürfen Glieder dieser Spezies, denen die Kriterien des Person-Seins aus irgendwelchen äußeren oder inneren Gründen ganz oder teilweise, auf Dauer oder vorübergehend abgehen, nicht anders behandelt werden als jene Individuen, die die Kriterien aktiviert haben und sie aktualisieren. Sonst wären allein schon ein Schlafender oder ein Ohnmächtiger im Hinblick auf ihr Person-Sein anders zu behandeln als ein Wacher und seiner Sinne Mächtiger.

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