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Prokrastination als Eigenschaft der Person und als situationsspezifischer Zustand

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Prokrastination wird entweder als eine habituelle, situationsunspezifische Persönlichkeitseigenschaft oder als ein konkretes, situationsspezifisches Verhalten der Person konzipiert, ähnlich wie es in der Forschung beim Konstrukt „Angst“ geschieht. So wird unterschieden zwischen ängstlichen Personen (Angst als Trait-Merkmal) und Ängsten, die bei Personen nur situationsbedingt auftreten, wie etwa in mündlichen oder schriftlichen Prüfungen (Angst als State-Merkmal). Eine vergleichbare Unterscheidung kann auch für Prokrastination vorgenommen werden.

Prokrastination als Persönlichkeitsmerkmal (trait)

Die Trait-Prokrastination tritt unabhängig von der Aufgabenstellung und der vorliegenden Situation auf bzw. sollte dies nach der vorliegenden Konzeption tun. Für die Forschung sind insbesondere die entsprechenden Persönlichkeitsmerkmale interessant, die diese Art der Prokrastination begleiten und fördern. Laut Schouwenburg (1995) ist Prokrastination eine Persönlichkeitseigenschaft, die eng mit anderen Persönlichkeitsmerkmalen (in Anlehnung an das Big-Five-Modell, s. Kapitel 6.2) verbunden ist, sodass ein nomologisches Netzwerk dieser Persönlichkeitseigenschaft erstellt werden kann. Die dazugehörigen Merkmale sind u.a.: unzureichende Leistungsmotivation und Arbeitsdisziplin, mangelnde Selbstkontrolle und mangelndes Pflichtbewusstsein, die den Big-Five-Faktoren „Extraversion“ und „Gewissenhaftigkeit“ entsprechen (vgl. Patzel, 2004, S. 14).

Obwohl die Trait-State-Differenzierung auch für die alltägliche Prokrastination sinnvoll erscheint, wenn etwa berücksichtigt wird, dass Personen nur bestimmte alltägliche Aufgaben aufschieben, wie etwa die jährliche Steuererklärung, während sie andere alltägliche Aufgaben sehr wohl zügig bearbeiten, konzentrieren sich die meisten Autoren auf die habituelle Alltagsprokrastination. Eine besondere Form dieser habituellen Alltagsprokrastination ist die sogenannte neurotische Prokrastination, die schon von Ellis und Knaus (1975) beschrieben wurde und dadurch gekennzeichnet ist, dass Personen dazu neigen, wichtige Lebensentscheidungen im Berufsleben, in der Familie oder in Beziehungen immer wieder hinauszuzögern. So gehen Ellis und Knaus (1975) davon aus, dass bestimmte Persönlichkeitsmerkmale wie etwa eine geringe Frustrationstoleranz gegenüber unangenehmen Aufgaben oder eine passiv-aggressive Orientierung gegenüber bestimmten Lebenssituationen dafür verantwortlich sind (Milgram et al., 1988).

Prokrastination als situationsspezifisches Merkmal (state)

In diesem Fall wird Prokrastination nicht als Persönlichkeitsmerkmal gesehen, sondern sie tritt vorübergehend, kurzfristig und bei bestimmten Aufgaben oder in bestimmten Situationen auf. Insbesondere Interventionsansätze gehen direkt oder indirekt davon aus, dass Aufschiebeverhalten zwar ein relativ stabiles Verhaltensmuster sein kann, aber dennoch dauerhaft veränderbar ist (vgl. Schubert-Walker, 2004; Tuckman & Schouwenburg, 2004; van Essen, van den Heuvel & Ossebaard, 2004; van Horebeek, Michielsen, Neyskens & Depreeuw, 2004). Situationsgebundene Prokrastination ist intensiv bei akademischer Prokrastination untersucht worden und steht hier in enger Wechselwirkung mit bestimmten Aufgabenmerkmalen, wie fehlende Attraktivität einer Aufgabe oder Aversivität gegenüber einer Tätigkeit, die Personen dazu verleiten, sich von bestimmten Aufgaben oder Tätigkeiten abzuwenden und keine Lernanstrengungen zu investieren.

Prokrastination als Prozess

In einer weiteren Sichtweise wird Prokrastination ebenfalls nicht als Persönlichkeitsmerkmal, sondern als dynamischer Prozess begriffen. Das bedeutet, Prokrastination wird nicht mehr punktuell betrachtet, sondern Entstehungsbedingungen, Zusammenhänge mit anderen Merkmalen, Auftretensweisen und Auswirkungen werden innerhalb eines bestimmten zeitlichen Rahmens, in dem verschiedene Phasen durchlaufen werden, betrachtet und untersucht.

Bei diesem Prozess kommt es oftmals gar nicht zu einer Handlungsintention, oder die Bildung einer Intention wird verzögert (van Eerde, 2000). Für den Prokrastinationsprozess wird dann in der Literatur häufig der Begriff „Selbst- oder Handlungsregulations-Defizit“ verwendet (vgl. Schulz, 2007, S. 6).

In der motivations-volutionspsychologischen Sicht, wie sie beim Rubikonmodell von Heckhausen vorliegt (s. hierzu Kapitel 6.3.) und wie sie von Helmke und Schrader (2000) vertreten wird, wird besonders der Prozesscharakter von Prokrastination betont.

Konzeptionelle Unterscheidungen zwischen Trait- und State-Merkmalen sowie der prozesshaften Betrachtung basieren auf unterschiedlichen psychologischen Paradigmen der Verhaltenserklärung. Trait-Merkmale entsprechen dem eigenschaftstheoretischen Ansatz, während State-Merkmale dem situationistischen bzw. interaktionistischen Paradigma zuzuordnen sind (Rustemeyer, 2003, S. 3ff.). Die einzelnen Paradigmen basieren auf unterschiedlichen Annahmen, die in der sogenannten „Dispositionismus-Situationismus-Kontroverse“ heftig diskutiert wurden. Dabei zeigt sich aber auch, dass Eigenschafts- und situationsbedingte Merkmale keineswegs eindeutig bestimmt werden können (vgl. dazu ausführlicher Rustemeyer, 2003). Auch in der Prokrastinationsforschung zeigt sich die Schwierigkeit einer trennscharfen empirischen Abgrenzung zwischen den beiden Formen der Prokrastination, obwohl theoretisch konzipierte Fragebögen zu beiden Prokrastinationsformen existieren (s. ausführlich in Kapitel 2). In vielen Studien ist ein relativ hoher positiver Zusammenhang zwischen Trait- und State-Prokrastination zu finden (u.a. Helmke & Schrader, 2000; Rustemeyer & Rausch, 2007), der verschiedene Interpretationsmöglichkeiten eröffnet, die von der unzureichenden theoretisch-empirischen Abgrenzung der verschiedenen Prokrastinationsformen bis hin zur Interaktion dispositioneller und situativer Bedingungen reichen.

Die verschiedenen Auffassungen von Prokrastination als Trait, State oder als Prozess stellen zunächst einfach unterschiedliche Betrachtungsmöglichkeiten dar, die jedoch unterschiedliche Messinstrumente und methodische Verfahren erfordern. Die Überlegung, Prokrastination als ein zeitlich ausgedehntes, länger andauerndes, prozesshaftes und dynamisches Geschehen zu konzipieren, ist dem Paradigma des Interaktionismus zuzuordnen.

Die Differenzierung zwischen den verschiedenen Sichtweisen wird noch einmal im Kapitel 6 aufgegriffen, wenn es um die verschiedenen theoretischen Ansätze zu Beschreibung und Erklärung von aufschiebendem Verhalten geht.

Aufschieben, Verzögern, Vermeiden

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