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1.2. Aufschieben im Alltag, in der Schule, im Studium und Beruf

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Prokrastination wird etwa seit den 1990er Jahren hinsichtlich der Ursachen, der Ausprägung, der Folgen und der Wirksamkeit potenzieller Interventionsverfahren systematisch empirisch untersucht. Vor allem die beiden Sammelbände von Ferrari et al. (1995) sowie Schouwenburg, Lay, Pychyl und Ferrari (2004) und das im Jahre 2000 von Ferrari und Pychyl herausgegebene Sonderheft der Zeitschrift „Journal of Social Behavior und Personality“ mit dem Schwerpunktthema Prokrastination geben einen differenzierten Überblick über den Stand der wissenschaftlichen Diskussion.

Insbesondere die Auswirkungen von Prokrastination auf das Leistungsverhalten und die tatsächliche Leistung waren immer wieder Gegenstand empirischer Untersuchungen. Und obwohl die akademische Prokrastination in Lern- und Leistungssituationen im engen Zusammenhang mit verschiedenen motivationsrelevanten Variablen wie Selbstkonzept, Selbstwirksamkeit, Studieninteresse, Prüfungsangst etc. (Helmke & Schrader, 2000; Rustemeyer & Rausch, 2007; Steel, 2007, 2011) steht, ist der direkte Zusammenhang zwischen Prokrastination und Leistung nicht durchgängig belegt. Rothblum, Solomon und Murakami (1986) sowie Rustemeyer und Schirner (2009) fanden bei Studierenden einen signifikanten Zusammenhang zwischen Prokrastination und der Semesterleistung. Steel (2007) konnte in seiner Metaanalyse einen mäßig negativen Zusammenhang zeigen (vgl. auch Tice & Baumeister, 1997). Mit den Leistungen in bestimmten Fächern korreliert akademisches Aufschiebeverhalten zum Teil recht hoch (vgl. Schouwenburg, 2004; z.B. Englisch (r = −.62) und Mathematik (r = −.61); ebenso fanden Owens und Newbegin (2000) bei weiblichen und männlichen Studenten einen engen Zusammenhang zwischen Mathematik- und Englischnoten und akademischer Prokrastination. Auch Elvers, Polzella und Graetz (2003) fanden einen Zusammenhang zwischen Prokrastination und Leistung. Interessanterweise gab es in dieser Studie in Online-Kursen einen signifikanten Zusammenhang zwischen aufschiebendem Verhalten und Examensnoten und Einstellungen, nicht jedoch in traditionellen Seminaren. Die Ergebnisse des Strukturgleichungsmodells von Elvers, Polzella und Graetz (2003) zeigen, dass schlechte Noten (u.a. neben domänspezifischem Selbstwertgefühl) zu hoher Prokrastination führen. In anderen Studien hingegen gibt es keinen Zusammenhang zwischen Prokrastination und Leistung (Lay, 1986; Rustemeyer & Rausch, 2007).

Einige Untersuchungen weisen auf einen Zusammenhang zwischen Prokrastination und den durch Lehrende (u.a. Lehrer, Professoren) vermittelten Normen und Standards hin. So konnten Ackerman und Gross (2005, p. 9) Unterschiede zwischen Aufschiebern und Nichtaufschiebern belegen, die besagen, dass Nichtaufschieber stärker der (Klassen-)Norm zustimmen, frühzeitig mit Aufgaben zu beginnen. Weiter antizipieren Nichtaufschieber im Vergleich zu Aufschiebern eher Belohnungen und Anreize für frühzeitigen Arbeitsbeginn, und sie beurteilen die Aufgabenstellung als klar und eindeutig.

Prokrastination wird in einigen Studien auch in Zusammenhang gebracht mit Stresserleben und der allgemeinen Beeinträchtigung der psychischen Gesundheit (Tice & Baumeister, 1997; Wohl, Pychyl & Bennett, 2010). Stress und Krankheit werden in der Studie von Tice und Baumeister (1997, p. 455) als sogenannte Kosten des Aufschiebens bezeichnet, die aber eher langfristig wirksam werden, während kurzfristig oftmals vor allem der positive Effekt gesehen wird. Sie konnten dies bei prokrastinierenden Studierenden zeigen, die zu Beginn des Semesters über weniger Stress und weniger Krankheitsanzeichen berichteten als Nichtaufschieber. Am Ende des Semesters jedoch berichteten sie über höheren Stress und fühlten sich insgesamt kränker als Nichtaufschieber.

Die Auswirkung von Prokrastination im Beruf ist ebenfalls untersucht worden. So scheinen bestimmte Arbeitsplatzmerkmale das Aufschieben zu fördern und sich damit letztendlich negativ auf die individuelle und die betriebliche Produktivität auszuwirken. In der Studie von Lonergan und Maher (2000) wurden Beschäftigte im Gesundheitswesen befragt. Wenn sie angaben, dass sie nur bedingte Möglichkeiten hätten, selbstständig zu arbeiten, wenig Rückmeldung von ihren Vorgesetzten bekämen und eine fehlende Kontrolle über Arbeitsabläufe hätten, zeigten sich signifikante Zusammenhänge zum Aufschieben von Entscheidungen.

Der vermutete volkswirtschaftliche Verlust, der einer Gesellschaft durch das Aufschieben der Arbeitnehmer entsteht, hat u.a. Steel (2011) dazu angeregt, diesen zu berechnen. Als Berechnungsbasis legte er Daten einer Befragung der Unternehmen AOL und Salary.com zugrunde, bei der eine große Anzahl von Personen nach ihren Gewohnheiten am Arbeitsplatz befragt wurden (Malachowski, 2006). Die Arbeitnehmer gaben an, rund zwei Stunden pro Tag, ohne Einrechnung von Mittagspause und Zigarettenpausen, zu vertrödeln, und zwar bevorzugt am PC. Rechnet man die Kosten für die verlorene Arbeitszeit hoch, kommt Steel auf mehr als eine Billiarde Dollar Verlust pro Jahr (Steel, 2011, S. 140).

Wie (wenig) aussagekräftig solche Berechnungen auch immer sein mögen, es gilt doch zu bedenken, dass durch die umfassende und leichte Verfügbarkeit der Internetnutzung am Arbeitsplatz, den Zugang zu Computerspielen, sozialen Netzwerken etc. an fast allen Arbeitsplätzen eine hohe Verführbarkeit und Ablenkungsgefahr gegeben ist, die dazu führen kann, sich angenehmeren Dingen zu widmen als den anstehenden Aufgaben. Daraus jedoch den Schluss zu ziehen, dass „wir immer mehr und immer öfter aufschieben“ (Steel, 2011, S. 94), oder noch allgemeiner von einer „aufschiebenden Gesellschaft“ zu sprechen, entbehrt u.E. allerdings einer validen Grundlage.

Aufschieben, Verzögern, Vermeiden

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