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3.1Selbstverständnis, Ziele, Forderungen

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Historisch greifbar äußert sich das Selbstverständnis des AKH in zentralen Erklärungen, die durch Abstimmungsprozesse legitimiert sind. Als Grundlagendokumente des Aktionskreises lassen sich der Protestbrief an den Papst im Juli 1969460, der Nienburger Tagungsbericht aus dem Herbst 1969461, eine Erklärung vom 14. März 1970 zur Bischofswahl462 sowie die verschiedentlich aktualisierte Grundsatzerklärung463 und Ordnung464 des Aktionskreises bestimmen. Das Proprium der Gemeinschaft, ihre Ziele und Forderungen werden darin ebenso fixiert wie die Grundlagen der Zusammenarbeit.

Die Einforderung von mehr innerkirchlicher Mitverantwortung aus dem Geist des Konzils ist das zentrale Motiv der Gründung des AKH und für seine Identität von essentieller Bedeutung. Die Magdeburger Priester und Laien proklamierten mit ihrer Protestnote an den Papst 1969 nicht nur größere Beteiligungsrechte bei der anstehenden Bischofsernennung.465 Mit der Legitimierung des Anspruchs aus der Volk-Gottes-Ekklesiologie heraus ordneten sie sich in eine innerkirchliche „Suchbewegung“466 ein, die nach der authentischen Interpretation und Rezeption von Geist und Buchstabe des Konzils fragte. Von Beginn an verstand sich der Aktionskreis Halle als selbstständige „Impulsgruppe und Arbeitsgemeinschaft von katholischen Christen (Priestern und Laien) im Kommissariat Magdeburg, [die] an der Erneuerung der Kirche im Sinne der beschlossenen Grundsatzerklärung mitwirken [wollte].“467 Obgleich er sich bewusst nicht in die kanonischen Kategorien des kirchlichen Vereinsrechts einordnete, interpretierte die Gruppe ihre Arbeit ausdrücklich „als legitime Form kirchlichen Lebens“468 und insistierte dabei auf den theologisch gerechtfertigten Zusammenschluss getaufter Christen und auf die Notwendigkeit innerkirchlicher Pluralität.469 Dabei rezipierte sie vor allem die zeitgleichen Erklärungen Karl Rahners zu den Möglichkeiten und Chancen von Priestergruppen.470 Sein Selbstverständnis als „Impulsgruppe und Aktionsgemeinschaft“471 bekräftigte der AKH mehrfach, wobei die territoriale Fokussierung auf das Kommissariat Magdeburg ab 1972 zugunsten einer Orientierung auf das Gebiet der gesamten DDR ausgeweitet wurde.472 Eine Reduzierung des AKH auf eine bloß personell aufgestockte „Korrespondenzgruppe“ oder eine über die Studienzeit hinaus erstarkte Hallenser Studentengemeinde wird dem Selbstverständnis der verschiedenen Gruppen kaum gerecht.473 Vielmehr handelt es sich beim Aktionskreis Halle um eine neue Gruppierung, die zwar auf bestehenden Erfahrungen und personellen Netzwerken aufbauen konnte, die sich aber im Mitgliederprofil, ihrer Struktur, Größe, Arbeit und Zielsetzung von den Vorläufern deutlich unterschied. Obgleich der AKH jedwede Exklusivität ablehnte, „weil sie die Einheit der Kirche sprengt und ihre Offenheit zur Welt gefährdet“474, formte die überwiegend akademische Herkunft seiner Mitglieder die Gruppe maßgeblich. Ob er sich selbst als „Avantgarde“475 verstand, ihm dieses Bewusstsein zugeschrieben oder es nur von einzelen Mitgliedern gepflegt wurde, bleibt offen. Von Anfang an verstand sich der Aktionskreis nicht als „unverbindliche Freizeitbeschäftigung, die man betreibt, wenn man gerade Lust dazu hat, wenn man wieder einmal die Nase voll hat von einsamen kirchenamtlichen Entscheidungen.“476 Auch wollte er kein Auffangbecken für frustrierte Katholiken und kirchliche „Revoluzzer“477 sein.478 Obgleich er dies in bestimmter Hinsicht doch auch war, blieb sein programmatisches Interesse und Selbstverständnis auf „Veränderungen in der Kirche der DDR“479 ausgerichtet. Indem sich der Aktionskreis Halle für jene katholischen Priester in der DDR einsetzte, die infolge von Laisierungsverfahren geistlicher und finanzieller Unterstützung bedurften - der AKH richtete ein eigenes Konto ein, von dem die sogenannten „Priester ohne Amt“ (PoA) finanzielle Hilfen bekamen - drückte sich ein diakonaler Aspekt seiner Tätigkeit aus.

Fünf Jahre nach seiner Gründung modifizierte der Aktionskreis seine Grundsatzerklärung erstmals.480 Nun verstand er sich wesentlich offener als „Gruppe von Christen, die Fragen und Entwicklungen in der Kirche offenhalten wollen“; als „Gruppe, die sich um Information bemüht und Informationen weitergibt, damit Offenheit möglich wird“; als „Ort, wo man sich trifft. Unsere Versammlungen sollen Kommunikation ermöglichen, Vertrauen schaffen und Mut machen.“481 Markant hält der Kreis dazu fest: „Der AKH ist keine Lebensgemeinschaft, aber mehr als eine Arbeitsgemeinschaft, die im Unverbindlichen bleibt.“482 Eine interne Mitgliederbefragung im Jahr 1977 ergab zudem, dass die Mitarbeiter den Aktionskreis „vorwiegend als Ort der Begegnung bzw. sachbezogene Gruppe“483 sahen und sich selbst in der Rolle innerkirchlicher Aktivisten wahrnahmen. Der gezielte „Tabubruch“ war nach Aussage dieser Umfrage im Selbstverständnis der Gruppe tief verwurzelt.484 Wohl unter dem Einfluss der ökumenischen Friedensbewegung weitete sich in den 80er Jahren das Selbstverständnis der Gruppe nochmals. Der AKH wollte nun „keine fest umschriebene Gruppe“ sein, sondern als „Ort der Bruderschaft, der Einübung von Gemeinschaft und Spiritualität; Ort der Ökumene, also als Teil der christlichen Kirche über alle Konfessionsgrenzen hinaus; Ort des Lernens, der Einübung in Friedensdienst, in Solidarität mit den Völkern der Dritten Welt, in ökologisches Bewusstsein, in tranzendierendes Denken.“485 Von diesem vor allem ökumenisch und gesellschaftspolitisch motivierten Selbstverständnis ließ sich die Gruppe bis zum Ende der DDR in ihren Aktionen und Erklärungen leiten.486

Die postkonziliare Reform der Kirche, verstanden als die pastorale Anpassung von kirchlichen Strukturen und Ausdrucksformen des Glaubens an die konkreten „Anforderungen unserer Zeit“487, war das eigentliche Ziel des AKH.488 Eine in staatlichen Quellen verzeichnete Metapher formuliert dies prägnant: Ziel des Hallenser Aktionskreises ist es, das vom „Papst und vom Konzil in die Welt hinein geöffnete Fenster“ offen zu halten.489 Die Arbeit des AKH könne deshalb als „der Versuch einer Übersetzungsarbeit katholischen Denkens und Lebens heute und für heute“490 gesehen werden. Von diesem Ziel leitete man verschiedene Ansprüche ab.

Bereits die Grundsatzerklärung von 1970 proklamierte die „Demokratisierung und Humanisierung der Kirche sowie die Interpretation des Glaubens“491 als zentrale Forderungen des AKH. Es ist bezeichnend, dass alle drei Forderungen wortwörtliche Zitate der Dokumentation über die westdeutschen Priestergruppen sind.492 Verschiedene Aspekte, vor allem aber die zu befürchtenden strafrechtlichen Konsequenzen des DDR-Staates bei einer derart offensichtlichen Verbindung zu bundesdeutschen Gruppen, ließen den AKH von einer ausdrücklichen Kennzeichnung dieser Passagen als Zitate Abstand nehmen.493 Die Übernahme der bundesdeutschen Schlagworttrias unterstrich sehr deutlich die Identifikation mit den dort getroffenen Aussagen und Forderungen. Auch in der DDR müsse die Kirche demnach „eine Gemeinschaft freier Menschen werden, die die gemeinsamen Angelegenheiten sachlich, öffentlich und verantwortlich miteinander entscheiden.“494 Kirche demokratisch umgestalten hieße, sie auf die „Grundlage gemeinsamer Verantwortung“495 zu stellen und jeden Christen einzuladen, sich in die Entscheidungsprozesse in Gemeinde, Diözese und Gesamtkirche einzubringen.496 Sowohl die SOG-Gruppen als auch der AKH sprachen von einer „theologisch legitimen Demokratisierung“ und einer analogen Verwendung des politisch konnotierten Begriffs im kirchlichen Bereich.497 Darunter verstanden sie die öffentliche Bewusstseins- und Meinungsbildung in der Kirche, Freiheit der Meinungsäußerung, ungehinderten Informationsfluss, Durchsichtigkeit der Verwaltungsvorgänge sowie Mitwirkung und Kontrolle bei Entscheidungen der Kirchenleitung.498 Dass diese Forderungen nach einer größeren Mitverantwortung offensichtliche Parallelen zu Formulierungen der umstrittenen Meißner Synode in der DDR aufwiesen, dürfte die bischöfliche Skepsis gegenüber dem sich konstituierenden AKH kaum verringert haben.499 Mit dem Schlagwort „Humanisierung“500 sollte die Forderung nach einem menschlicheren Umgang in der Kirche ausgedrückt werden.501 Die Kirche müsse „eine Gruppe in der Gesellschaft sein, in der man einander achtet und als Menschen ernst nimmt.“502 Der AKH vertrat keinen politisch motivierten oder säkular verstandenen Humanismus.503 Humanisierung wurde als genuin christliche Forderung betrachtet, zu der der Glaube an die Inkarnation Gottes in Jesus Christus aufrufe. Aufgrund seiner Vieldeutigkeit hatte dieser Begriff „schillernde Faszination und ... werbende Kraft“504 und wirkte daher identitätsstiftend.505 Schließlich forderte der Aktionskreis drittens die Interpretation des Glaubens506 als jenen Prozess, bei dem sich die Kirche darum bemühen müsse, „die Sache Jesu zu verstehen und verständlich zu machen.“507 Auch diese Forderung übernahm der AKH von westdeutschen Gruppen.508 Aus der Grundsatzerklärung geht allerdings nicht hervor, was man unter der Interpretation des Glaubens und der Sache Jesu konkret verstand, sodass es nicht leichtfiel, diese Formel adäquat zu dechiffrieren.509 Aus dem weiteren Wirken des Aktionskreises könnte geschlossen werden, dass man unter einer Interpretation des Glaubens eine Kontextualisierung bzw. Inkulturation des Glaubens in die DDR-Wirklichkeit verstand.

Offenbar war die Situation des Katholizismus in Ost- und Westdeutschland zum damaligen Zeitpunkt derart kompatibel, dass es dem AKH legitim erschien, die bundesdeutsche Zeitdiagnostik auch für die ostdeutsche Wirklichkeit zu verwenden: „In dieser Situation kann uns niemand Mitverantwortung und Mitschuld abnehmen. Angesichts der Macht festgefahrener Strukturen und Apparate soll unsere Solidarisierung dem notwendigen Bewusstseins- und Strukturwechsel dienen.“510 Mit dem westdeutschen Text der AGP-Erklärung konstatierte der AKH, dass die Kirche trotz der konziliaren Aufbruchsbewegung das „bleibende, für die Zukunft aufschließende Wort schuldig“511 bleibe und sich nur „zögernd, ängstlich, einfallslos und misstrauisch“512 engagiere.513 Zahlreiche Neuansätze und zeitgemäße Gestaltungsformen einer christlichen Existenz würden als Gefahr für die Einheit der Kirche verdächtigt. „Offene Diskussionen [würden S.H.]... als Pressionsversuch, Eigenmächtigkeit und Ungehorsam diffamiert.“514 Darüber hinaus übernahm der AKH für seine Ausführungen das sendungstheologische Kirchenbild der AGP Grundsatzerklärung und betonte mit ihr: Aufgabe der Kirche ist es, „die Botschaft Jesu Christi von der kommenden Herrschaft Gottes so weiterzusagen, dass die Sache Jesu – Glaube, Hoffnung, Versöhnung, Befreiung und Friede – in unserer Welt wirksam wird.“515 Dies könne die Kirche aber nur, wenn sie sich entsprechend der „Anforderungen unserer Zeit“516 verändert. Die hier angedeutete Nähe zu den „Zeichen der Zeit“517 von Gaudium et spes dürfte nicht zufällig als Legitimationshorizont gewählt worden sein, entstammte jedoch ebenfalls der bundesdeutschen Textvorlage.518 Obgleich die Hallenser Grundsatzerklärung fast ausschließlich aus Fragmenten der westdeutschen Vorlagen besteht, fand zugleich ein auffallender Selektionsprozess statt. Im Gegensatz zum Originaltext der AGP wurde auf die Nennung verschiedener, vor allem politisch konnotierter Konfliktfelder verzichtet: Bevölkerungswachstum, verantworteter Einsatz technologischer Mittel, die internationale Rüstungsmaschinerie und der Einfluss von politischen Systemen auf den Frieden.519 Darüber hinaus machte sich der AKH nicht die Forderung zu eigen, die Kirche möge die Freiheitsrechte aufnehmen, die im staatlichen Bereich in den letzten zweihundert Jahren Einzug gehalten haben; im Bewusstsein des engen politischen Spielraums in der DDR erhoben sie auch nicht den Anspruch, dass die Kirche gegen totalitäre Systeme einschreiten müsse.520

Hinsichtlich des Selbstverständnisses, der Ziele und Forderungen des AKH zeichnet sich ein dreifacher Bezugsrahmen ab. Das II. Vatikanum fungierte als der entscheidende materielle Impulsgeber der Hallenser Basisgruppe. Forderungen nach einem deutlicher akzentuierten Weltdienst der Kirche, einer größeren Mitverantwortung von Priestern und Laien bei kirchlichen Personalentscheidungen und anderen zentralen Lebensvollzügen waren ebenso an die Aussagen und den Geist des Konzils rückgebunden wie die stärkere Wahrnehmung des gemeinschaftlichen Laienapostolates, das sich in der Gründung einer christlichen Vereinigung aus Priestern und Laien ausdrückte. Die bundesdeutsche Arbeitsgemeinschaft der Priester- und Solidaritätsgruppen stellte den formalen Rahmen eines innerkirchlichen Zusammenschlusses bereit, auf den der AKH selektiv zurückgriff. Den Konzilserklärungen und dem bundesdeutschen Vorbild folgend, emanzipierte sich der AKH vom Modell der „Katholischen Aktion“ und formierte sich praeter legem als kirchliche Vereinigung ohne klerikale Leitung. Grundlegend für alle Reformen und Initiativen war allerdings die besondere kirchliche Situation in einer sozialistischen Diktatur. Die Übernahme der drei Schlagwortforderungen durch den AKH stellte daher keine bloße Kopie westdeutscher Erklärungen dar. Es muss vielmehr als eigene Leistung gewürdigt werden, diese Forderungen angesichts der ostdeutschen Situation eines totalitären Staates artikuliert zu haben. Das Eintreten für innerkirchliche Reformen und ein größeres gesellschaftliches Engagement der Kirche verlangte in der DDR aufgrund der latenten staatlichen Vereinnahmungsund Differenzierungstendenzen eine hohe Sensibilität und eine im Vergleich zu den bundesdeutschen Gruppen stärker ausgeprägte Risikobereitschaft. Wie die Geschichte des AKH eindrücklich vor Augen stellt, konnte die programmatische Distanz zum kirchenpolitischen Kurs der ostdeutschen Bischöfe leicht existentielle Konsequenzen nach sich ziehen.

Der Aktionskreis Halle

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