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1.3Partielle Nichtrezeption von Konzilsaussagen

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Die Rezeption des Konzils und ihre Erforschung haben bislang verschiedene Phasen durchlaufen.861 An eine erste Rezeptionsphase des „Aufbruchs und des Überschwangs“862 trat ab 1968, spätestens aber seit 1973 die Zeit der „enttäuschten Hoffnung“863 und der Resignation. Zu jener Zeit war unklar, welchen Weg die nachkonziliare Kirche einschlagen würde und ob er nicht (wieder) ins Ghetto führen würde.864 Die postkonziliaren Synoden konnten bei ihrem Versuch, das Konzil durch die Ortskirchen zu rezipieren, zwar eine beachtliche Breitenwirkung entfalten, diese jedoch nicht langfristig konsolidieren.865 Die außerordentliche Bischofssynode zum 20jährigen Konzilsjubiläum 1985 schien als Beginn einer dritten Phase dazu beigetragen zu haben, dass sich die Kirche neu auf das Konzil orientiert und besinnt.866 Die Kölner Erklärung867 von 1989 und die Veröffentlichung eines Memorandums von Theologen und Theologinnen im Jahr 2011868 scheinen deutliche Anzeichen zu sein, dass auch diese Phase erodiert. Ob sich anlässlich der großen Konzilsjubiläen 2012 und 2015 eine neue Phase der schöpferischen Relecture des Konzils anschließt, bleibt abzuwarten.

Eine umfassende Analyse der ostdeutschen Konzilsbeteiligung und der anschließenden Konzilsrezeption in der katholischen Kirche in der DDR steht bislang noch aus, wenngleich erste wichtige Zugänge eröffnet sind.869 Im Gegensatz zu anderen Ostblockstaaten konnten die ostdeutschen Bischöfe mit ihren periti privati relativ ungehindert zum Konzil reisen und von dort berichten.870 Bereits 1967/1968 wurde eine vollständige Textedition des Konzils in der DDR publiziert.871 In der Folgezeit wurden Priester- und Diözesanräte etabliert und bis 1975 hatte man mit unterschiedlichem Erfolg zwei Synoden auf dem Gebiet der DDR abgehalten, die sich der Umsetzung der konziliaren Aussagen verschrieben hatten.872 Im Hinblick auf überprüfbare Ergebnisse zur Umsetzung des Konzils in der DDR wird, wie in Westdeutschland auch, bislang fast ausschließlich auf die Liturgiereform verwiesen.873 Während Rolf Schumacher noch 1998 davon sprach, dass es durch die Dresdner Pastoralsynode eine „überzeugende Rezeption von ‚Gaudium et spes‘ unter den gegebenen Bedingungen der DDR“874 gegeben habe, darf es inzwischen als Forschungskonsens angesehen werden, dass zumindest bis Anfang der 80er Jahre „wesentliche Inhalte der Pastoralkonstitution ‚Gaudium et spes‘ […] ausgeblendet“875 blieben.876 Die Beschreibung dieser Entwicklung als „partielle Nichtrezeption“877 von Konzilsaussagen hat sich als heuristisch angemessen herausgestellt, da nicht das Konzil insgesamt abgelehnt wurde. Allerdings ist festzuhalten, dass die Frage nach der Rezeption des Konzils bislang weitgehend isoliert auf die Rezeption der Pastoralkonstitution verengt wurde. Weder die Kontextualität von Gaudium et spes zur Kirchenkonstitution und zum Dekret über das Laienapostolat wurden dabei gebührend beachtet, noch wurden weitere Konzilsaussagen einer kritischen Rezeptionsanalyse unterzogen.878

Bezogen auf die vier zu analysierenden Themenkomplexe lassen sich verschiedene Konfliktfelder und -potentiale ausmachen, die ihre Rezeption erschwerten. Für die Hermeneutik der Konzilsrezeption in der DDR ist es unerlässlich, neben den innerkirchlichen und theologischen Diskussionen auch das gesellschaftlich-politische Umfeld eines atheistischen Regimes zu beachten.879 Wenngleich die Situation der katholischen Kirche in der DDR im Vergleich zu anderen Ostblockstaaten als freier und unabhängiger beschrieben werden kann, so ist sie dennoch nicht mit der Freiheit in demokratischen Rechtsstaaten zu vergleichen. In der Ursachenbeschreibung der „partiellen Nichtrezeption“ wird bislang auf die dominierende Haltung eines Mannes rekurriert. In der als „Ära Bengsch“ bezeichneten Amtszeit des Berliner Erzbischofs Alfred Kardinal Bengsch880 von 1961 bis 1979 formte und leitete er die katholische Kirche in der DDR und die Konferenz ihrer Ordinarien unter den Prämissen von unbedingter Einheit und Geschlossenheit.881 Der von Kardinal Bengsch aus pastoralen Motiven heraus etablierte kirchenpolitische modus vivendi mit dem SED-Staat, der seelsorgliche Freiräume wirkungsvoll dadurch zu sichern vermochte, dass sich die Kirche im Rahmen einer „politischen Abstinenz“ von der Kommentierung der gesellschaftlichen Entwicklung in der DDR weitestgehend dispensierte, konsolidierte den Status quo, die Trennung zwischen Staat und Kirche zu beiderseitigem Vorteil. Das Modell einer regulierten Gesprächsführung zwischen Kirche und Staat, das Gesprächskontakte nur auf Priester beschränkt wissen wollte, hatte vor allem unter den Bischöfen Wilhelm Weskamm und Julius Döpfner eine bistumsweite und immer neu erklärte Verbindlichkeit erreicht.882 Mit dem von der Pastoralkonstitution empfohlenen Dialog und Weltdienst der Christen schien dieses an den kirchenpolitischen Realitäten eines totalitären Staates abgelesene Modell allerdings kaum kompatibel zu sein. Als entscheidender Grund, weshalb es bis in die achtziger Jahre hinein zu einem „Ausfall der Rezeption von Gaudium et spes“883 gekommen ist, wird die Verknüpfung aus Alfred Bengsch’ dominierender theologischer Prägekraft mit seiner Stellung als Vorsitzendem der Berliner Ordinarien- und späteren Bischofskonferenz (BOK/BBK) und seinem Widerstand gegen das vormalige Schema XIII des Konzils angenommen.884 Unter Rückgriff auf seine eigenen Aussagen885 werden dabei sowohl theologische Motive als auch kirchenpolitische Erwägungen angeführt, weshalb es ihm unter den Bedingungen der DDR inopportun erschien, die Umsetzung und Interpretation von Gaudium et spes zu fördern.886 Theologische Defizite des Textes hinsichtlich einer unterrepräsentierten Kreuzestheologie, aber mehr noch die Sorge vor einer Instrumentalisierung der Konzilstexte für propagandistische Zwecke und damit verbunden einer Aufweichung der kirchlichen Einheit und Geschlossenheit - was für Bengsch gleichbedeutend mit der Gefährdung von Seelsorge verknüpft war - dürften für die verordnete Nichtrezeption letztendlich ausschlaggebend gewesen sein. Mit dieser Einstellung eng verbunden waren Vorstellungen zur Rezeption des Konzils. Kardinal Bengsch erschien es mehrfach geboten, mahnend darauf hinzuweisen, dass allein dem kirchlichen Lehramt die „legitime Interpretation der Konzilsdekrete“887 zustehe. Der bischöflicherseits befürchtete Missbrauch der Konzilstexte ließ die BOK gegenüber einer forcierten Konzilsrezeption zögerlicher werden.888 Zugleich sah er 1966 im innerkirchlichen Umgang mit den Konzilstexten die Tendenz zur „Missachtung der kirchlichen Lehrautorität“889: „Konzilsbeschlüsse werden weithin nur als Diskussionsgrundlage und nicht als zum Gehorsam verpflichtende Lehräußerungen angesehen. In diesem Mangel an Einsicht in das Wesen des kirchlichen Lehramts sei die häufig zu beobachtende Verbreitung privater theologischer Auffassungen begründet.“890 In diesen Äußerungen drückt sich ein Rezeptionsverständnis aus, das eine eigenständige Aneignung und Interpretation von Geist und Buchstabe des Konzils durch das Volk Gottes aus theologischen sowie kirchenpolitischen Motiven heraus nicht unterstützte. Es waren aber vor allem katholische Studentengemeinden und Akademiker in der DDR, die im Konzil den Impuls für eine neue Standortbestimmung der Kirche zur sozialistischen Gesellschaft sahen.891 Gerade sie forderten unter den Schlagwörtern „Dialog“ und „Engagement“ eine kritische Auseinandersetzung der Kirche mit dem Sozialismus und der DDR-Gesellschaft.892 Aus Angst vor staatlichen Differenzierungsversuchen und Instrumentalisierungen ging die BOK auf Distanz zu den zugleich politisch vereinnahmten Begriffen.893 Die Frage, welche Formen der „Weltdienst der Christen“894, so der bischöflich gebrauchte Terminus, in der DDR annehmen dürfte, ließ nicht selten erhebliche Kontroversen mit bischöflichen Positionen zu Tage treten.895 Während die Bischöfe vor allem bei der jüngeren Generation das Bestreben feststellten, dass „die Tendenz zum Engagement im gesellschaftlichen und politischen Leben der DDR stärker geworden ist“896, stand für den Berliner Kardinal hingegen eindeutig fest: „Das primäre Ziel postkonziliarer Arbeit muss die gläubige Selbstbesinnung sein.“897 Der drohende Verlust der bis dahin aufrechterhaltenen kirchlichen Einheit schien aufgrund der postkonziliaren Impulse latent. Ob die katholischen Christen in der DDR die „Zeichen der Zeit“ (GS 4) wahrnehmen und im Licht des Evangeliums für die Menschen deuten sollten, blieb angesichts einer deutlichen Zurückhaltung einiger ostdeutscher Bischöfe gegenüber dem „Dialog mit der Welt“898 mehr als unklar.899 Gleichwohl darf durchaus ein etwas heterogeneres Meinungsbild innerhalb der Berliner Ordinarienkonferenz unterstellt werden - wie Hirtenbriefe aus den Schweriner und Erfurter Jurisdiktionsgebieten aus den Jahren während und besonders nach dem Konzil nahelegen900 - als es die einstimmigen Beschlüsse der Ordinarienkonferenz vermuten lassen.

Auch das vom Konzil erneuerte Kirchenbild schien mit der kirchenpolitischen Linie Bengschs nur bedingt harmonisierbar zu sein.901 Die Brüderlichkeit des pilgernden Gottesvolkes sowie die Beteiligung von Laien an innerkirchlichen Diskussions- und Entscheidungsprozessen als Ausdruck des gemeinsamen Priestertums - wie im Anschluss an Lumen gentium ausdrücklich im Schema I der umstrittenen Meißner Synode von Wolfgang Trilling entscheidend formuliert - stießen bei Kardinal Bengsch auf deutliche theologische und kirchenpolitische Vorbehalte.902 Die Frage, ob eine theologisch begründete Abkehr von der auf Gehorsam ausgerichteten strengen hierarchischen Ekklesiologie der vorkonziliaren Epoche, welche die Laien als pastoral zu betreuende Objekte, nicht aber als selbstständige Subjekte betrachtete, eine existentielle Gefährdung für die kirchenpolitisch notwendige Abwehr staatlicher „Zersetzungsversuche“ bedeuten würde, wurde kirchenintern nicht selten positiv beantwortet.903 Dass die Mitwirkung von Priestern und Laien in Diskussions- und Entscheidungsprozessen der Ordinarienkonferenz daher wenig Aussicht auf Erfolg hatte, belegt das Schicksal der beiden 1968 errichteten Beratergremien der BOK. Das Provisorium ihrer Errichtung wurde nach einem dreijährigen bischöflich herbeigeführten Leerlauf nicht mehr verlängert.904

Die konziliaren Impulse zur Sendung der Laien in Kirche und Welt sahen sich ebenfalls kritischen Anfragen durch die ostdeutschen Bischöfe ausgesetzt. Nach der kriegsbedingten Eingliederung des kirchlichen Vereinswesens in den durch das Konkordat abgesicherten Schutzraum der Pfarrgemeinden seit 1936 hatte sich nach 1945 in der SBZ/DDR angesichts staatlicher Koalitionsverbote kein kirchliches Vereinswesen etablieren können. Fast alle Aktivitäten mussten sich, staatlich bedingt und kirchlich nicht anders favorisiert, unter dem Dach der Pfarrgemeinden und unter der Leitung der Priester vollziehen. Politische Rahmenbedingungen hatten insofern dazu beigetragen, dass sich traditionelle kirchliche Modelle, in diesem Fall Varianten der „Katholischen Aktion“, stärker hatten durchsetzen können. Die konziliare Stärkung des Laienapostolates war vor allem im Erzbischöflichen Kommissariat Magdeburg, dem östlichen Teil des Erzbistums Paderborn, eine Bestätigung der pastoral weitblickenden Aktivitäten des früheren Magdeburger Seelsorgeamtsleiters und späteren Erfurter Bischofs Hugo Aufderbeck905.906 Er hatte bereits vor dem Konzil damit begonnen, die Laien stärker in den Gemeinden einzubinden und ihren Status als pastoral zu versorgende Objekte zu überwinden. Alfred Bengsch sah hingegen in den Konzilsaussagen zum „Weltauftrag der mündigen Laien“907 vorwiegend Missbrauchspotentiale. Vor allem die „kollaborierenden christlichen Gruppen“908, so die unmissverständlich militante Diktion des Kardinals, würden sich in ihren Bemühungen bestätigt sehen und eine Distanz zwischen den Aussagen des Konzils und der Päpste auf der einen und den politisch abstinenten ostdeutschen Bischöfen auf der anderen Seite herausstellen. Diese Vorgänge waren nach Meinung Bengschs dazu geeignet, den bisher verfolgten kirchenpolitischen Kurs der Bischöfe zu delegitimieren und so die Einheit der Kirche unter der Leitung der Bischöfe ernsthaft zu gefährden.909

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