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1.1Zentrale Konzilsaussagen

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Bei der Untersuchung der Rezeption des II. Vatikanischen Konzils durch den Aktionskreis Halle findet eine thematische Einschränkung der zu analysierenden Konzilsaussagen statt. Aus der immensen Themenvielfalt des Konzils werden im Folgenden vier Komplexe herausgefiltert und der anschließenden Rezeptionsanalyse als Reflexionshintergrund zugrunde gelegt. Lumen gentium und Gaudium et spes bilden die beiden inhaltlichen Pole - ad intra und ad extra - des Konzils. Ausgangspunkt für die Untersuchung ist das konziliare Kirchenverständnis als Volk-Gottes sowie die erneuerte kirchliche Ortsbestimmung in der Welt von heute. Beide Konstitutionen stellen sich als bedingende „Leuchtfeuer“769 für die kirchliche Positionierung in der Welt von heute dar.770 Aus der Betrachtung beider Dokumente ergeben sich die Aussagen zum Laienapostolat im Dekret Apostolicam actuositatem konsequent.771 Das Ökumenismusdekret Unitatis redintegratio liest sich zudem in zentralen Passagen wie „ein Präludium des Themenkatalogs von Gaudium et spes“772 und ist insofern eine ökumenische Entfaltung der kirchlichen Ortsbestimmung in der Welt von heute.773 Die thematische Auswahl legitimiert sich zunächst durch einen operationalisierbaren Umfang von Konzilsaussagen. Zugleich wird diese Orientierung durch die Struktur und das Wirken des Aktionskreises begründet. Von dieser Auswahl ausgehend soll im Gang der Untersuchung analysiert und kommentiert werden, wie der Aktionskreis Halle Aussagen des Konzils rezipiert, interpretiert und selbstständig umgesetzt hat.

Die Konstitution Lumen gentium (LG) ist in einen vielschichtigen historischen und theologischen Kontext gestellt.774 Seit der gregorianischen Reform, vor allem jedoch seit der Reformationszeit trug die katholische Ekklesiologie zunehmend juridische Züge. Infolgedessen kam es zu einem Paradigmenwechsel, der sukzessive die Potestas des geweihten Priestertums betonte und die Wirklichkeit der Kirche, als vom Geist versammelte Gemeinschaft, als έκκλησία zurückdrängte. Peter Hünermann betont, dass sich diese Entwicklung durch die ab dem Spätmittelalter zu beobachtende vermehrte Verwendung eines univoken Kirchenbegriffs noch verschärfte. Je mehr der analoge und damit weite Kirchenbegriff, wie er bei den Kirchenvätern und noch bei Thomas von Aquin zu beobachten ist, in den Hintergrund trat, umso mehr verengte sich die Ekklesiologie auf die konkrete juridisch-organische Gestalt von Kirche unter der monarchischen Leitung des Papstes. Die geschichtlich-eschatologische Dimension und die vielfältigen Gestalten von Kirche kamen so kaum mehr in den Blick.775 Da innerhalb der katholischen Ekklesiologie zudem das Schema der Monarchie dominierte, nahmen ebenso „die dynamische Einheit der Kirche aus und in Kirchen“776 sowie synodale und kollegiale Momente in der Wahrnehmung ab. Auf dem I. Vatikanischen Konzil verschärfte sich diese Entwicklung nochmals. Die vorzeitige Sistierung des Konzils führte zu einer einseitig akzentuierten Konzilsaussage zum Papsttum hinsichtlich des Jurisdiktionsprimats und der Unfehlbarkeit, nicht aber zu einer Einbettung dieser Aussagen in eine Ekklesiologie insgesamt.777 Erst nach dem 1. Weltkrieg begannen vor allem deutsch- und französischsprachige Theologen auf eine patristische und quellenorientierte Neuausrichtung der katholischen Ekklesiologie hinzuwirken.778 In der Kirchenkonstitution entfaltete sich dieser Ansatz schließlich in einer Communio-Ekklesiologie. Ausdrücklich hatten die Konzilsväter in den Beratungen der zweiten Sitzungsperiode darauf gedrungen, dass, „bevor von der Hierarchie gesprochen werde[n], vom Volk Gottes im Ganzen“779 auszugehen sei. Paradigmatisch für die erneuerte Ekklesiologie ist daher die Reihefolge der Darlegung in der Kirchenkonstitution: Auf die Grundlegung der Kirche als Mysterium im ersten Kapitel folgt die Bestimmung der Kirche als Volk Gottes und erst danach wird die hierarchische Verfassung der Kirche thematisiert, woran sich im vierten Kapitel Ausführungen zu den Laien anschließen.780 In der Communio-Ekklesiologie des Konzils wurde die „biblische, patristische und hochscholastische Lehre“781 vom „gemeinsamen Priestertum“ (LG 10) wieder neu herausgestellt. Alle Christen nehmen durch die Taufe „als Glieder des einen Volkes Gottes und des einen Leibes Christi teil am Priester-, Propheten- und Königsamt Jesu Christi.“782 Walter Kasper betont, dass mit diesem Kirchenbild die „traditionelle Rede von zwei voneinander abgegrenzten Ständen, den Klerikern und dem sogenannten ‚gewöhnlichen‘, ‚einfachen‘ Volk (plebs), das in Sache der Kirche nicht zuständig und nicht fachkundig ist, obsolet geworden“783 ist. Die fundamentale Einheit aller Getauften darf allerdings nicht im Sinne einer unterschiedslosen Gleichheit aufgefasst werden, welche den Ämtern und Charismen, wie sie im Neuen Testament bezeugt sind, widersprechen würde; vielmehr geht sie allen weiteren Unterscheidungen voraus. Von der Volk-Gottes-Ekklesiologie und dem gemeinsamen Priestertum der Gläubigen ausgehend hat das Konzil schließlich das Amtsverständnis neu akzentuiert. Das kirchliche Amt wird von den Konzilsvätern als Dienstamt im und am Volk Gottes definiert (LG 18-29). Vom Ziel der Kirche her, „Zeichen und Werkzeug für die innigste Vereinigung mit Gott wie für die Einheit der ganzen Menschheit“ (LG 1) zu sein, bestimmt das Konzil die Aufgabe des kirchlichen Amtes nunmehr als Dienstleistung.784 Während die Sendung der Laien dem Ziel und Zweck der Kirche zuzuordnen ist, gehören die Ämter der Kirche „zur Ordnung der Mittel.“785 Das kirchliche Weiheamt soll daher sendungstheologisch als Dienstamt „der Verwirklichung des Ziels und des Zwecks der Kirche dienen.“786 Dabei wird der innerste Lebensvollzug der Kirche als pilgerndes Volk Gottes unter den Anspruch der Geschwisterlichkeit ihrer Glieder gestellt.787

Den zweiten Pol des Konzils stellt die Pastoralkonstitution Gaudium et spes (GS) dar.788 Auch diese Konzilsaussage griff auf vielfältige und keinesfalls einheitliche theologische Vorläuferdiskurse sowie gesellschaftliche Fragestellungen im 19. und 20. Jahrhundert zurück.789 Die Auseinandersetzungen der Kirche mit Modernismus, Antimodernismus und Liberalismus hatten sie „aus dem Takt der Zeit geraten“790 lassen. Es ist Papst Johannes XXIII. zu verdanken, dass zur Lösung dieser Frontstellung zwischen Kirche und moderner Welt ein pastorales Konzil einberufen wurde, das sich schließlich im letzten Dokument mit der Kirche in der Welt von heute befasst. Über mehrere Etappen und Phasen der kritischen Auseinandersetzung hinweg, musste sich der anfangs als Schema XIII und später als Schema XVII bezeichnete Text, der nicht auf vorbereitete Entwürfe zurückging, sondern im Konzil selbst entstand, zu einem tragfähigen Konsenswerk entwickeln. Dass die Pastoralkonstitution der letzte verabschiedete Text des Konzils ist, steht nicht unwesentlich mit dem Ringen um die inhaltlichen und methodischen Positionen in Zusammenhang. Die Konstitution gliedert sich zweifach: in einem ersten Teil entwickelt das Konzil die Lehre über „die Kirche und die Berufung der Menschen“ (GS 11-45). Im pastoralen zweiten Abschnitt fokussieren die Konzilsväter konkreter auf „einige drängendere Probleme“ (GS 46-93) „des heutigen Lebens und der menschlichen Gesellschaft.“791 Hierzu zählen unter anderem: Ehe und Familie, Krieg und Frieden, Glaube und technischer und kultureller Fortschritt, Menschenwürde und Menschenrechte. Beide Teile bilden eine ineinander verschränkte Einheit. Ihnen sind das vielzitierte Vorwort (GS 1-3) und eine einführende Darlegung über „die Situation des Menschen in der heutigen Welt“ (GS 4-10) vorangestellt, in denen die „Zeichen der Zeit“ als dogmatisch relevante Größe präsentiert werden. Bereits der Titel einer “constitutio pastoralis“ verdeutlicht, dass es sich um ein neues dogmatisches Genus handelt, das durch eine inhaltliche Ellipse mit zwei Brennpunkten gekennzeichnet ist: „Ihre Glaubensaussagen werden im Kontrast zwischen speziellen humanen Problemen gesellschaftlichen Lebens und generellen christlichen Wahrheiten gewonnen. Sie ist zeitabhängig und steht zugleich in der Differenz zur geschichtlichen Situation.“792 Die Konzilsväter und Kommissionen rangen gerade um eine Balance zwischen der bleibenden Innensicht des Glaubens und den sich verändernden „Zeichen der Zeit“ (GS 4). Hans Joachim Sander weist in seinem Kommentar ausdrücklich darauf hin, dass GS nicht weniger von der Kirche erwartet, als die Bereitschaft zu einem theologischen Ortswechsel, der sich in der Zeit immer wieder neu zu vollziehen habe: Die Kirche sollte „sich in den Zeichen der Zeit und damit unter den Menschen, oder genauer: in Liebe und Achtung der Menschen und deshalb mitten in ihren Nöten und Erwartungen positionieren.“793 Gerade im Übertritt der Kirche aus einer in sich ruhenden „societas perfecta“, hin zu einer „Kirche in der Welt von heute“, liegt das Potential der topologischen Neuorientierung. Der kirchliche Dialog mit der Welt wird so zum entscheidenden Kennzeichen von GS. Die stärkere Wahrnehmung zeitbedingter Relativitäten und deren kritische Rezeption hinsichtlich der Artikulation der Glaubenstradition lässt die in GS 1 beschriebene tiefe Solidarität der „Jünger Christi“ mit den „Menschen dieser Zeit, gerade den Armen und Bedrängten aller Art“, deutlich hervortreten. Die Darstellung des bleibenden Innens des Glaubens müsse sich auf die Vorläufigkeit der Zeit einlassen, ohne dabei dem Zeitgeist zu erliegen. Im Vergleich zur bisherigen Tradition, die bemüht war, das Dogma „von der Geschichte rein zu halten“794, erscheinen Geschichte und Dogma nun nicht mehr als Antagonisten, sondern als „Innen wie Außen in einer Ortsbestimmung des Glaubens.“795 Möglich wurde diese Position nicht zuletzt durch die in GS 36 formulierte Anerkennung der „richtigen Autonomie der irdischen Dinge“ sowie durch die Methodik „Sehen-Urteilen-Handeln“, wie sie sich in der Erarbeitung und Struktur von GS entwickelt und durchgesetzt hatte.796 Dieser Dreischritt stellt den methodologischen Rahmen dar, mit dem das Konzil die prinzipiellen Aussagen mit den zeitbedingten Beobachtungen verschränkt und so die „Zeichen der Zeit“ als dogmatische Größe anerkennt.797 Angesichts der vormaligen Frontstellung zwischen Katholizismus und der modernen Welt und dem Anspruch der Konstitution, die gesamte Welt, die Lebenswirklichkeiten aller Menschen im Blick zu haben (GS 2) und mit der „ganzen Menschheitsfamilie“ in einen Dialog zu treten, ein geradezu epochaler Ansatz, der immer wieder neu vergegenwärtigt sein will.798

Ausgehend von LG und GS hat das Konzil schließlich auch Wesen und Sendung der Laien neu akzentuiert und in den Gesamtzusammenhang der katholischen Ekklesiologie eingeordnet. Es ist Forschungskonsens, dass es mit Blick auf die breite vorkonziliare Entwicklung in den verschiedensten innerkirchlichen Bewegungen „abwegig [ist, SH], so zu tun, als ob die Würde und Bedeutung der Laien erst durch das Konzil neu entdeckt worden wäre.“799 Wie bereits die wegweisende Studie von Yves Congar deutlich gemacht hatte, gingen den Konzilsaussagen verschiedene Entwicklungen innerhalb der Kirche und Theologie voraus, auf denen das Konzil schließlich aufbauen konnte.800 Das II. Vatikanum griff in der Bestimmung von Wesen und Sendung der Christgläubigen vor allem auf die Aussagen zum „gemeinsamen Priestertum“ (LG 10) zurück. Die Christgläubigen, die noch im CIC von 1917 negativ als Nichtkleriker definiert wurden und nach der Enzyklika von Papst Pius XII. Mystici corporis von 1943 keinen Anteil am dreifachen Amt Christi hatten, wurden nun als Mitglieder des Volkes Gottes konsequent als handelnde Subjekte in der Kirche anerkannt.801 Im Dekret Apostolicam actuositatem (AA) entfalten die Konzilsväter den damit verbundenen Gedanken des Laienapostolates näher.802 Die Sendung der Laien wird genetisch aus der Sendung der ganzen Kirche803 und durch die volle Teilhabe am priesterlichen, königlichen und prophetischen Amt Christi abgeleitet (AA 3). Die sakramentale Begründung ihrer Sendung erlaubte es dem Konzil, „die Laien nicht länger als Beauftragte, als verlängerten Arm der Hierarchie“804 betrachten zu müssen, wie dies noch in der von Italien ausgehenden „Katholischen Aktion“805 präsent war. Ausdrücklich wird darauf hingewiesen, dass das Laienapostolat nicht nur auf die „Welt“806 gerichtet ist. Das Konzil formuliert das Recht und die Pflicht aller Gläubigen, sowohl in der Kirche als auch in der Welt mitzuwirken und Verantwortung zu übernehmen.807 Es benennt „vielfältige Felder“ (AA 9-14) und „Arten des Apostolates“ (AA 15-22), ohne daraus allerdings explizite Vollmachten abzuleiten.808 Auch wenn die „Katholische Aktion“ durch das Konzil ausdrücklich empfohlen wurde (AA 20), drückt sich in AA 19,4 ein Novum aus: „Unter Wahrung der gebührenden Beziehung zur kirchlichen Autorität haben die Laien das Recht, Vereinigungen zu gründen und zu leiten, sowie gegründeten beizutreten.“ Obgleich von warnenden und einschränkenden Aussagen flankiert (AA 24), drückt sich hier erstmals explizit das freie Vereinigungsrecht in der Kirche aus, das 1983 in das CIC aufgenommen wurde.809

Schließlich stellt die Ökumene den vierten Themenschwerpunkt für die Rezeptionsanalyse dar. Die offizielle katholische Auseinandersetzung mit der seit der Edinburgher Missionskonferenz von 1910 aufkommenden „ökumenischen Bewegung“ kannte verschiedene Stadien der Kontroverse, des Dialogs und des konstruktiven Beitrags.810 Das Zweite Vatikanische Konzil stellt für die ökumenischen Beziehungen im 20. Jahrhundert eine Zäsur dar, da es der bisherigen „Rückkehr-Ökumene“811 eine klare theologische Absage erteilte. In der Verhältnisbestimmung zu den von der katholischen Kirche getrennten Christen und Kirchen folgt das Konzil zudem einem Argumentationsweg, den das kirchliche Lehramt in dieser Klarheit bis dahin noch nicht beschritten hatte: Weil die Christen in den getrennten Gemeinschaften nicht für die Trennung verantwortlich sind, begegnen ihnen die Katholiken mit „geschwisterlicher Ehrfurcht und Liebe“ (UR3); durch Taufe und Glauben sind sie Mitchristen, wenngleich sie nicht in der vollkommenen Gemeinschaft mit der katholischen Kirche stehen; in diesen Gemeinschaften finden sich jedoch wesentliche Elemente des kirchlichen Lebens; deshalb sind sie für den Geist Christi „Mittel des Heils“ (UR 3); insofern können auch nicht-katholische Christen als Individuen und in ihren Glaubensgemeinschaften und Kirchen das Heil erlangen.812 Als Mittel und Wege zur „praktischen Verwirklichung des Ökumenismus“ nennt das Dekret den geistlichen Ökumenismus, den theologischen Dialog und die praktische Zusammenarbeit (UR 5-12). Diese drei Dimensionen avancierten in der postkonziliaren Zeit zum Maßstab für die bi- und multikonfessionellen Beziehungen der katholischen Kirche und empfehlen sich auch als Kriterien für die Beurteilung des interkonfessionellen Lernprozesses in der DDR. Unitatis redintegratio stellt keinen Schlussstrich unter die ökumenischen Beziehungen und das Streben nach einer Einheit von Glauben und Kirche dar, sondern verweist darauf, dass Ökumene ein fortdauernder geistlicher, theologischer und praktischer Auftrag der Kirche bleibt.813 Gerade die Entfaltung dieses Lernprozesses vollzog sich auf verschiedenen kirchlichen Ebenen und verweist auf ein notwendigerweise mehrdimensionales Rezeptionsgeschehen. Zur Einordnung dieser Prozesse bedarf es daher zunächst einer theologischen Profilierung des Rezeptionsbegriffs.

Der Aktionskreis Halle

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