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Die erste bedeutende Publikation

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Anfang März 1914 reichte Schrödinger bei den Annalen der Physik, dem wichtigsten deutschen Physikjournal, eine rein theoretische Arbeit ein: „Zur Dynamik elastisch gekoppelter Punktsysteme“. Die Arbeit ist als seine bedeutendste Vorkriegspublikation anzusehen. Besonders bemerkenswert ist hier, dass er auf eines der beständigen Themen Ludwig Boltzmanns – seinen intellektuellen Großvater – zurückgreift, der unabdingbaren Notwendigkeit atomistischer Modelle in der physikalischen Theorie. Vieles in der theoretischen Physik wird in Form von Differenzialgleichungen ausgedrückt, die die Trajektorien von Größen wie Temperatur, elektrischer Feldstärke und Konzentration in Zeit und Raum beschreiben. Diese Gleichungen sind völlig allgemeingültig. Um sie auf bestimmte Systeme anwenden zu können, müssen sie – unter der Berücksichtigung definierter Anfangs- (zum Zeitpunkt 0) oder Randbedingungen (Werte der betrachteten Größen an den Systemgrenzen) – integriert werden. Differenzialgleichungen versuchen, das makroskopische Verhalten eines Systems zu beschreiben, ohne Bezugnahme auf die zugrunde liegende atomare Struktur. Man kann sich zum Beispiel eine idealisierte Saite mit einer bestimmten Elastizität und Masse je Längeneinheit vorstellen und berechnen, wie sie schwingt, wenn sie einer Anfangsstörung ausgesetzt wird. Anhänger eines strengen Phänomenalismus wie Ernst Mach behaupteten, dass solch eine Differenzialgleichung lediglich die Welt der direkten Erfahrung in mathematischer Form wiedergebe. Im Gegensatz hierzu argumentierte Boltzmann, dass ein Kontinuum in der Physik nicht etwas wirklich Kontinuierliches darstelle. Es handele sich vielmehr um eine endliche Anzahl von Elementen, wobei es möglich sei, deren Anzahl so weit zu erhöhen, bis eine weitere Erhöhung keine Effekte mehr zeige. Somit könne man sich nicht von der Atomistik lösen, indem man Differenzialgleichungen betrachtet.

Als ein begeisterter Verehrer von Boltzmanns Arbeiten wird sich Schrödinger obiger Bemerkungen des Lehrmeisters durchaus bewusst gewesen sein, als er mit seinen eigenen Beiträgen zu dem Thema begann:

„Es ist oft behauptet worden und gehört sozusagen zu dem Glaubensbekenntnis des Atomistikers, daß alle partiellen Differentialgleichungen der mathematischen Physik, …, im streng mathematischen Sinne unrichtig sind. Denn das mathematische Symbol des Differentialquotienten schreibt den Grenzübergang zu beliebig kleinen räumlichen Variationen vor, während wir doch überzeugt sind, daß wir bei der Bildung solcher ‚physikalischer‘ Differentialquotienten bei ‚physikalisch unendlich kleinen‘ Räumen Halt machen müssen, d.h. bei solchen, die noch immer sehr viele Moleküle enthalten; würden wir den Grenzprozeß weiter treiben, so würden die betreffenden Quotienten, die bis dahin wirklich einer bestimmten Grenze immer näher und näher zu rücken und sie schon praktisch erreicht zu haben schienen, wieder sehr stark zu variieren beginnen, um sich erst viel später eventuell wirklich einem echten Grenzwert zu nähern.“

Demnach ist das in den Differenzialgleichungen betrachtete Limit nur ein „Pseudo-Limit“, es ist nicht derselbe Grenzwert, wie er in der reinen Mathematik aufgefasst wird.

Die Atomistik hat die Aufgabe, jene Bedingungen zu finden und anzugeben, unter welchen eine Differenzialgleichung, die von der Annahme eines Kontinuums ausgeht, aufgrund der wahren atomaren Struktur der Materie tatsächlich zu falschen Ergebnissen führt. Schrödinger untersuchte ein Modell, das kurz zuvor von Max Born und Theodore Karman auf die spezifische Wärme von Festkörpern angewandt worden war: eine unendliche lineare Anordnung von Massepunkten, im Gleichgewicht getrennt durch gleiche Abstände. Demnach unterliegt jeder Massepunkt einer elastischen Rückstellkraft, sobald er aus seiner Gleichgewichtslage ausgelenkt wird. Schrödinger leitete in der Folge eine Gleichung für die resultierenden Bewegungen der Massepunkte her.

„Als einfachstes Beispiel für die zum Teil überraschenden Folgerungen, welche diese Formel mit großer Leichtigkeit zu ziehen gestattet“, betrachtete er folgenden Fall. Zum Zeitpunkt t = 0 sollen sich alle Massepunkte in Ruheposition befinden, bis auf einen, der willkürlich bewegt wird. Anschließend beginnen sich alle Massepunkte zu bewegen, aber ihre Bewegung ist nicht annährend die eines gespannten Seils, wie sie von der partiellen Differenzialgleichung beschrieben wird. Dann stellt er die Frage: „Welchen Charakter muß das System der Anfangswerte haben, damit die Bewegung unseres Punktgebildes wirklich eine gewisse Ähnlichkeit mit der Bewegung eines kontinuierlichen elastischen Mediums aufweist?“ Schrödinger zeigt, dass man die Differenzialgleichungen auf solch atomistische Modelle anwenden kann, wenn man nicht die Variablen selbst betrachtet, sondern Mittelwerte der Variablen über Bereiche, die viele Atome beinhalten. Zum Beispiel können langsame akustische Wellen betrachtet werden, ohne auf die Effekte infolge der schnellen thermischen Bewegungen der individuellen Atome einzugehen.

Dieser Artikel ist zweifelsfrei der interessanteste unter all denen, die Schrödinger vor seiner Einberufung zum Militärdienst 1914 geschrieben hatte. Mit der durchdringenden Analyse eines Systems, das auf einem Atommodell basiert, führte er eines der grundlegenden Probleme von „Großvater Boltzmann“ fort und baute sich eine Brücke in Richtung seiner späteren revolutionären Anwendungen der Differenzialgleichungen der Wellenbewegung in seiner Wellenmechanik. Auch begegnen wir in dieser Publikation erstmalig dem authentischen Stil Schrödingers mit seinem weltgewandten Selbstvertrauen und seiner Fähigkeit, die vorliegenden Probleme in Beziehung zu tieferen philosophischen Fragestellungen der theoretischen Physik zu setzen.

Erwin Schrödinger

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