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Der Gaukler

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Surrio bewegte sich mit einer Eleganz und Selbstsicherheit, die nur wenigen Männern am Hofe zu eigen war. Die meisten bildeten sich nur ein, sie hätten diese Eigenschaften. Bei Surrio waren sie Teil seiner Position … und seiner Tarnung. Er konnte es sich leisten, mit stolz geschwellter Brust aufzutreten und mehr als launige Bemerkungen über alles und jeden von sich zu geben. Selbst der König musste sich das gefallen lassen. Da traf es sich gut, dass König Rhazor zwei Seelen in sich vereinte: eine gesellige, mitunter joviale … und eine stahlharte, gnadenlos konsequente Seite. Außerdem betrachtete er seinen neuen Gaukler schlichtweg nicht als vollwertigen Mann, sondern als Laune der Natur. Der komplette Hofstaat, sowie die gesamte Bevölkerung des Reiches Quorr beging diesen Fehler. Den sie noch nicht mal als solchen erkannten. Und das war Surrio nur mehr als recht.

Sollen sie von mir denken, was sie wollen, dachte der Zwerg, marschierte mitten durch die Pracht-Allee des königlichen Parks und ignorierte die für ihn riesigen Gespanne und die lauten Beschimpfungen ihrer Kutscher.

Der Grund dafür, dass er nicht gleich am ersten Tag auf Der Festen Insel von den Krallenfüßen der plumpen Ponatos in den Boden gestampft worden war, lag schlichtweg daran, dass Surrio Fähigkeiten besaß, von denen hoffentlich niemand im Königreich etwas ahnte. Offiziell zählte er zur kleinen Gruppe der Zwerge, einem Überbleibsel einer Epoche, die von beinahe allen Völkern auf Driftworld noch heute als Das Zeitalter der Götter, also der Epoche Vor Dem Fall, bezeichnet wurde.

Dabei wissen sie nicht einmal, was durch Den Fall alles verloren gegangen ist, dachte Surrio und blickte äußerlich unbewegt, aber mit innerer Verachtung auf die Menschen um ihn herum. Sie halten sich für ein großes Volk. Nur weil sie seit einigen hundert Jahren Insel um Insel an sich ketten. Sie setzen Landgewinn gleich mit Machtgewinn. Sein hübsches Gesicht überflog ein Hauch von Ärger. Und damit haben sie auf den ersten Blick sogar recht. Mehr Land gebiert mehr Ertrag an Mensch, Tier und Ressourcen. Doch groß macht es diese Nation nicht wirklich. Die Quorr glauben, dass sie der ganzen Welt ihren Stempel aufdrücken müssen und schon würden sich die alten Zeiten von ganz allein wieder einstellen. Welche Narren! Sein Ärger verflog so rasch wie er aufgeflammt war, wie immer, wenn er an diesen Punkt seiner Überlegungen kam. Sie halten mich für einen Narren. Sie haben schon vor Urzeiten vergessen, wer wir wirklich sind und was unsere edelste Aufgabe war. Sie wissen nichts mehr von unseren Fähigkeiten.

Dass Surrio sich – zumindest in zwei von drei Punkten  täuschte, konnte er nicht ahnen. Stattdessen lächelte er sogar und ließ es zu, dass sein Mund sich leicht öffnete und seine makellosen Zähne ansatzweise durchschimmern ließ. Die Kutscher beeilten sich augenblicklich, ihre Gespanne aus dem Weg zu dirigieren. Selbst die Ponatos – in freier Natur nicht ganz ungefährliche, gezähmt jedoch eher stumpfsinnige Kreaturen – bemühten sich, aus der Nähe der kleinen Gestalt zu gelangen.

In ihnen schlummert noch immer das kollektive Gedächtnis, freute sich der Zwerg und genoss den Effekt auf die zahlreichen Menschen im Park, die mit unverhohlener Neugier seinen Weg verfolgten. Die Ponatos erinnern sich …

Surrio schloss seinen Mund und wandelte sein leicht drohendes Lächeln in ein munteres, zu Scherzen aufgelegtes Gesicht, das jeden unbefangenen Menschen sofort für ihn einnahm. Mit dieser Maske erklomm er die Stufen des westlichen Eingangs des Schlosses, das König Rhazor, Herr über alle Quorr und seine vielen Vasallen, von seinem Vater übernommen hatte. Scheinbar ohne die Wachen auch nur zu bemerken, stieg Surrio Stufe um Stufe hinauf und war sich bewusst, dass sich viele wohl wundern mochten, dass er die für ihn fast kniehohen Stufen so leicht nehmen konnte.

»Hier unten bin ich, edle Wächter«, rief er spöttisch mit seiner klaren Stimme, als er die beiden Knochenkrieger passierte, die ihn natürlich gesehen hatten. »Passt auf, dass Ihr mich nicht zertretet.«

»Wir werden doch nicht des Königs neuestes Spielzeug platt machen«, grinste der eine und behielt seine lässige Haltung bei. Schließlich war weder der König noch der Kommandant der Wachgarde weit und breit zu sehen.

»Außerdem würden wir uns des einzigen Mannes berauben, der sich damit abgibt, uns Soldaten den Feierabend erträglicher zu gestalten«, warf der zweite Gardist ein. Trotz seiner offensichtlichen Freude darüber, konnte er es nicht unterlassen, dem Wort Mann einen Klang zu verleihen, der mehr als deutlich ausdrückte, dass er diese Bezeichnung für das Wesen vor sich nicht wirklich ernst meinte.

Surrio reichte mit seinem Kopf gerade über die Gürtel der beiden Männer und lachte zurück. »Auch mir macht es Spaß, Euch das Geld aus den Taschen zu ziehen. Ihr seid wahre Stümper beim Inselspiel.«

Alle drei lachten und beschlossen jeder für sich, es dem anderen beim nächsten Spiel heimzuzahlen. Aus unterschiedlichen Gründen.

Das Inselspiel wurde immer mit vier Teilnehmern gespielt. Es ging darum, so wenige Inselsymbole als möglich zu würfeln. Der erste Spieler hatte dabei die Wahl, aus einem Beutel mit sieben Würfeln eine den anderen Spielern unbekannte Anzahl zu entnehmen und in seiner Hand zunächst zu verbergen. Natürlich konnte der zweite Spieler feststellen, wie viele Würfel im Beutel verblieben waren und sich somit leicht ausrechnen, wie viele der erste entnommen hatte. Nun stand es diesem zweiten Spieler frei, einen oder gar keinen Würfel zu entnehmen. Tat er Letzteres, wurde er automatisch zum stillen Partner des ersten und partizipierte an dessen Erfolg oder Misserfolg. Das Hauptziel war, mit einem einzigen Wurf auch nur ein Inselsymbol zu erlangen. Was die politischen Absichten der Quorr seit Jahrhunderten widerspiegeln sollte. Ein  möglichst großer  Kontinent mit einem dominierenden Königs- besser noch: Kaiserhaus.

Jeder siebenseitige Würfel trug je ein Insel- und ein Drakensymbol. Die restlichen Flächen zeigten Symbole für Algen, Strömungen, Unwetter, Wasserläufer und Docks, welche somit für Reichtum, Vorwärtskommen, Gefahr, Tod und Pause standen.

Die übrigen Spieler repräsentierten natürlich die anderen Völker und Nationen, die den Erfolg ihrer Gegenspieler zu verhindern suchten. Je mehr Würfel der erste Spieler im Beutel hinterließ und somit seine Chancen auf einen sofortigen Sieg erhöhte, desto größer war die Gefahr, dass einer seiner Gegner den alles vernichtenden Draken würfelte. Aus diesem Dilemma ergab sich die Spannung des Spieles. Man konnte auch nicht sicher sein, ob der erste Spieler alle oder nur einen Teil seiner Würfel warf, was den Unterschied zwischen verringertem Risiko, aber geringerem Gewinn und hohem Risiko mit maximalem Gewinn darstellte.

Was die Soldaten nicht wussten und auch sonst niemand auf Der Festen Insel, war, dass Surrio ein Empath war. Das verschaffte ihm einen immensen Vorteil bei der Entscheidung, wie viel oder ob er überhaupt Geld bei einer Runde setzen sollte.

Surrio hatte in der kurzen Zeit, die er am Hofe König Rhazors weilte, schon ein hübsches Sümmchen erspielt. Es half ihm, sich die Schneider leisten zu können, die es verstanden, seinen sehr kleinen aber wohlproportionierten Körper in ebenso ansehnliche Kleider zu hüllen. Natürlich gab es in seiner Größe sonst nur Kindersachen auf den Basaren oder in den Schneidereien zu erstehen. Trotz seiner offiziellen Funktion als Hofnarr hatte Surrio aber kein Interesse daran, wie ein Idiot durch Quorr zu laufen.

Hier heißt alles Quorr, dachte er abfällig. Die Feste Insel, diese Stadt und das Volk. Sehr einfallslos und beispielhaft für die schlichte Natur dieser Menschen. Dabei lächelte er einigen Damen zu, die sich wohl zu fragen schienen, welche Ausmaße seine Männlichkeit haben mochte. Ihre unverhohlenen Blicke in seinen Schritt und ihre errötenden Wangen, als er ihnen eindeutig anzüglich zublinzelte, waren unschwer anders zu interpretieren. Ich hoffe, diese Holden stöhnen das Wort nicht auch noch, wenn sie Sex haben.

Dann konzentrierte er sein strahlendes Lachen auf die Frau, die ihm von Anfang an aufgefallen war. Sie war eine der Hofdamen der Königin, eine gewisse Aurelia. Ihre roten Wangen leuchteten am stärksten, was nicht unbedingt auf ein entsprechendes Maß an Scham hindeuten musste. Eher vielleicht auf ein echtes Interesse an ihm. Leider war er zu weit von ihr entfernt, um ihre Gefühle lesen zu können. Irgendetwas an ihr sagte ihm dennoch, dass es lohnenswert wäre, sich näher mit ihr zu befassen.

Warum nicht sie?, dachte Surrio und warf ihr einen Kussmund zu, was bei ihren Freundinnen zu Gekicher und Getuschel führte. Näher als über diese Hofdame werde ich nicht an die Königin herankommen. Und die wird sicher vieles von dem wissen, was mir ihr Mann niemals verraten wird.

Surrio warf noch einmal einen Blick zu den Frauen, fing ein fast unmerkliches aber völlig unerotisches Nicken von Aurelia auf und musste dann die Tür zum Vorraum des Thronsaales passieren.

König Rhazor verzog seinen Mund in einer Mischung aus Arroganz und Neugier, als Surrio den großen Prunkraum betrat. Was aber nur wenigen auffiel, da er sein Gesicht gerade hinter einem riesigen Weinglas verbarg, in dem der ausgesprochen wohlschmeckende Rote von der Südküste Quorrs schwappte. Etliche Hofschranzen wandten sich dem Ankömmling zu, der mit festen Schritten auf den Thron zuhielt und dabei neckische Worte und lustige Bewegungen mit den Händen nach beiden Seiten des Saales verteilte. Surrio tat dies nicht nur zur Unterhaltung der Anwesenden, sondern auch, um zu erfahren, wer die Einstellung des Königs zu Zwergen teilte und wer eine andere Haltung vertrat.

Er hatte die Strecke etwa zu einem Drittel bewältigt, als ihm in der Menge ein Gesicht auffiel, das sich zwar im Hintergrund hielt, ihn dennoch fixierte, wie eine Schlange eine Maus. Zwei eisgraue Augen verfolgten jede seiner Bewegungen, blieben aber sonst völlig ausdruckslos. Surrio hätte sich gerne dem Mann genähert, um dessen Emotionen aufnehmen zu können, kam aber zu dem vorläufigen Schluss, dass dieser sich scheinbar so gut in der Gewalt hatte, dass er dessen Gefühle auch dann nicht würde lesen können, stünde er ihm direkt gegenüber. In Surrio keimte eine Ahnung, dass er diesem Mann besser nicht zu nahe kommen sollte.

Für uns Zwerge ist es wichtig zu erkennen, wer uns gewogen ist und wer nicht, dachte er und ging äußerlich unbeeindruckt weiter. Schließlich hielt er die vorgeschriebenen zwölf Schritte vor dem Thron an und verneigte sich mit übertriebener Geste. Dass er dabei aufgrund seiner geringen Körpergröße und entsprechend kurzer Schrittlänge näher an den König herankam, als normal gewachsene Menschen, fiel nicht einmal den Wachen auf. Surrio schon. Gut zu wissen.

»König Rhazor, hier bin ich und erwarte Eure Wünsche.«

Der König nippte noch einmal von seinem Glas, senkte es, behielt es aber in der Hand. »Wie werden die schon lauten, Zwerg? Amüsiere mich! Aber ich warne dich. Wir hatten hier schon mal einen von deiner Art … und der war gar nicht lustig. Ich erinnere mich, dass mein Vater ihn in einen Pferch voller Ponatos werfen ließ. Und sich daran ergötzte, wie er zwischen den trampelnden Füßen der Viecher herumrannte. Solange, bis ihn eines der Biester endlich erwischte und in den Boden stampfte.« Er setzte das Glas auf einem Tablett ab, das ihm ein Lakai entgegenhielt, dann beugte er sich nach vorn und grinste breit. »Ich glaube, es war die einzige Gelegenheit, bei der ich meinen Vater lachen sah.«

Surrio kannte die Geschichte und auch den Namen das alten, längst verstorbenen Königs: Ulkor, der Freudlose. Nichtsdestotrotz hatte Ulkor Die Feste Insel deutlich mehr vergrößert als sein Sohn Rhazor es bis jetzt vermocht hatte. Der Zwerg ging nicht auf die Bemerkung Rhazors ein, sondern erhob sich wieder und setzte erneut ein strahlendes Lächeln auf. »Nun, ich werde Euch nicht mit dummen Witzen langweilen, König Rhazor. Ich glaube, es hebt Eure Laune weitaus mehr, wenn ich Euch verkünden darf, dass die kleine aber feine Insel des Halldir-Clans sich Quorr nähert.«

»Das wissen wir längst, Zwerg«, rief Rhazor. »Die Strömung treibt die Insel Halldir seit mehreren Monaten auf uns zu. Und wir wissen auch, dass sich die Bewohner allesamt auf das Meer geflüchtet haben. Sie haben das Angebot, meine Vasallen zu werden, abgelehnt.« Der König war nicht allein deswegen verstimmt, weil ihm dadurch weitere Arbeitskräfte entgingen, sondern auch deswegen, weil die Halldir-Männer – selbst die Frauen – begnadete Schmiede waren.

Surrios Lächeln wurde um eine Spur breiter. Innerlich bedauerte er aber, was er nun mitteilen würde. »Der Halldir-Clan konnte aber nicht alles Hab und Gut mit auf das Meer nehmen. Dazu hatte er zu wenige und zu kleine Schiffe. Sie mussten einen ansehnlichen Teil unverarbeiteter Erze zurücklassen. Die nun in Eure eigenen Erzschmelzen gelangen können … König Rhazor.«

Der Gaukler war fasziniert von dem Schauspiel, das sich ihm und allen anderen im Saal nun bot. Das Gesicht des Königs erstarrte für die Dauer von mehreren Herzschlägen zu einer Maske. Dann wandelten sich die harten Züge wie von Zauberhand in ein Antlitz mit weichen Konturen. Mund und Wangen sogar zu einem sympathischen Lächeln, das jeden, der Rhazor nicht auch anders kannte, hätte denken lassen können, der König wäre die Freundlichkeit in Person. Der Wandel erfolgte so rasch, dass Surrio für einen Wimpernschlag der Gedanke durch den Kopf schoss, Rhazor könne Zwergenblut in sich tragen.

Aber das ist ganz sicher nicht der Fall.

»Hah!«, stieß Rhazor aus. Und noch einmal: »Hah! Das wussten meine Kundschafter nicht, Herr Zwerg.«

Aha, plötzlich Herr Zwerg.

»Und woher weißt du das? Wieso bist du im Besitz dieser zugegeben wundervollen Information und mein Kundschafterdienst nicht?«

Surrio zuckte mit den Achseln und bewegte seine Hände so in Richtung eines Mannes mit betont unauffälliger Kleidung, als würde er einen Fisch entschuppen. Die Geste galt auf Driftworld allgemein als harmlose Verhöhnung. »Ich kann nichts dafür, dass Eure Leute schlampig arbeiten, König Rhazor. Ich entdeckte die menschenleere Insel auf meinem Weg zu Euch.«

»Und dein Schiff, wahrscheinlich eher ein Boot, war nicht groß genug, um das Erz aufzunehmen. Vermute ich hier richtig, Herr Zwerg?«

Surrio verbeugte sich tief, eher um seine Verstimmung ob dieser Tatsache zu verbergen, erhob sich aber gleich wieder, um dem König zu antworten. »Da liegt Ihr richtig, König Rhazor. Auch wir Zwerge schätzen Erz. Man kann daraus so viele herrliche Dinge herstellen.«

Rhazor war viel zu erfreut, um die mögliche Verwendung des Erzes in Zwergenhänden zu überdenken. »Ich werde daraus Schwerter und Äxte schmieden lassen.«

»Ganz wie Euch beliebt. Ihr seid der König.«

Rhazor sprang fast aus seinem Thron und etliche der Speichellecker im Saal zuckten zusammen. Seine Stimme klang schlagartig wie die eines Tieres, das seinen Atem bei einer Hatz in Panik ausstieß.

»Nehmt ein, nein, zwei große Frachtschiffe und lasst sie von zwei Kriegsschiffen begleiten. Und wehe, ich erfahre, dass irgendein dahergelaufener Algenmann mir mein Erz von der Halldir-Insel gestohlen hat. Bringt es mir … und zwar bevor ich mich wieder hinsetze!«, brüllte er und zeigte sein von einer Sekunde zur anderen erhitztes Gesicht. Dass er nicht wirklich an ein adäquates Tempo dachte, machte keinen Unterschied. Ein ganzer Trupp Männer stob aus dem Saal, auch der Mann mit den eisgrauen Augen. Nur Augenblicke später erschallten Signalhörner aus Richtung des engen Binnenhafens, der die Stadt und die Festung Quorr versorgte und auf dessen Stadtmauern viele Katapulte die Hafeneinfahrt und die Stadt selbst beschützten.

Als endlich der vorgeschriebene Glockenton des Hafengeläutes das Auslaufen einiger stets startbereiter Schiffe verkündete, war Rhazor wieder ganz der joviale Herrscher. »Nun … Surrio, so heißt Ihr doch, nicht wahr? Es scheint so, als würdet Ihr mich deutlich mehr amüsieren als all Eure Vorgänger.«

Dass König Rhazor ihn nun siezte, fiel nicht wenigen der Hofschranzen im Saal auf. Auch Surrio überhörte die neue Anrede nicht. Daher verbeugte er sich tief. »Es wird mir eine Ehre sein, König Rhazor«, log er. »Ich hoffe, Euch auch in Zukunft mit ähnlichen Dingen erfreuen zu können.«

Was er in Wahrheit hoffte, war, dass der Halldir-Clan der Knechtschaft oder dem Tod entgehen würde. Die Insel und alles auf ihr war ohnehin für sie verloren. Weiterhin hoffte Surrio, dass die Knochenkrieger sich damit begnügen würden, die mobilen Schätze der Insel zu bergen und die beiden damit zu beladenden Quorr-Frachtschiffe zu beschützen. Er konnte nicht ahnen, dass König Rhazors Gier und schon vor Monaten erteilte Befehle Anderes bewirken würden.

Etwa eine Stunde später sah Surrio die Hofdame der Königin allein auf einer Schaukel sitzen. Weder die Königin, noch die beiden anderen Damen, die sie zuvor begleitet hatten, waren zu sehen. Nur ein Wachsoldat, angetan in die übliche Knochenrüstung, befand sich in ihrer Nähe. Beide wandten Surrio den Rücken zu. Der Zwerg schlich zwar nicht, trotzdem waren seine Schritte auf dem weichen Gras kaum zu hören. Selbst das Rauschen des Windes in den Bäumen erzeugte mehr Geräusch, als die leichten Tritte seiner lederbeschuhten Füße. Surrio war noch zehn Schritte von ihr entfernt, als sie mit der Schaukelei innehielt und sich ihm zuwandte.

»Ihr seid recht unauffällig, Herr Surrio, zumindest wenn man Euch nicht sieht. Fast hätte ich Euch nicht gehört; die Gelenke der Schaukel quietschen ein wenig.«

»Das habe ich nicht gehört, Dame Aurelia. Ihr habt ein ausgezeichnetes Gehör.« Dann blickte er sich um, als würde er jemanden suchen. »Ihr seid nicht bei der Königin?«

»Auch Hofdamen dürfen ab und an ihre Aufgaben an andere abgeben. Die Königin ist in dieser Beziehung ein wenig großzügiger als ihr Gatte.«

Surrio nickte. »Ich habe davon gehört. Beide schätzen es nicht, beim Liebesspiel beobachtet zu werden.« Dabei blieb sein Tonfall wertungsfrei.

»Ach, das habt Ihr gehört? Erstaunlich, in der kurzen Zeit, die Ihr erst hier auf Quorr verbringt. Ihr scheint ein guter Beobachter zu sein, Herr Surrio.«

»Ich gebe mir Mühe. Aber bitte: Nennt mich nur Surrio; dieses ständige Herr geht mir auf den Geist.«

Sie ließ sich von der Schaukel herab und ging zwei Schritte auf ihn zu. Der Wachsoldat hatte sich zu Beginn ihrer Unterhaltung zu ihnen umgedreht und wollte sich schon nähern, als Aurelia ihn mit einer Geste davon abhielt.

»Ihr scheint mir mehr zu sein als eine Hofdame, werte Aurelia. Wenn selbst die Wachen auf einen Fingerzeig von Euch hören …«

»Das liegt daran, dass dieser Mann dort mir zu Diensten verpflichtet ist, und nicht dem Königshaus … Surrio.«

»Und warum erzählt Ihr mir das? Es ist an diesem Hof doch eher so, dass man selbst die kleinste Information für sich zurückbehält oder in bare Münze verwandelt sehen möchte.« Der kleine Mann blieb stehen, als Aurelia sich direkt vor ihm ins Gras setzte, nach einem Kamm griff, den sie irgendwo in ihren Kleidern verborgen gehabt hatte und ihr Haar zu bürsten begann.

Ist das Neckerei oder ein Schauspiel für weitere Zuschauer?, dachte der Gaukler und ließ sich auf die Knie herab. Dabei fiel sein Blick wie zufällig auf ihren Ausschnitt. Meinetwegen, dann spiele ich mal mit.

»Ich möchte das Unausweichliche nur abkürzen. Und es eben stattfinden lassen, wenn mir Ort und Zeit genehm sind«, fuhr sie fort und lächelte dabei, als würden seine unübersehbaren Blicke ihr schmeicheln.

»Das Unausweichliche? Was meint Ihr damit?« Surrio blieb fast die Luft weg, als Aurelia ihren Kamm fallen ließ und mit einer schnellen Geste in seinen Schritt griff. »Was erlaubt …«, setzte er an, doch dann überschwemmte ihn ein wahrer Wasserfall an Gefühlen. Uralte Empfindungen fluteten sein Gehirn und seinen Körper. Längst vergessene Eindrücke tauchten aus den Tiefen seiner Erinnerung auf und offenbarten, womit er nicht gerechnet hätte. Zumindest nicht in Quorr.

»Ihr seid eine Zauberin.«

»Und Ihr seid ein Iruti, mein Herr!«, entgegnete sie und zog scheinbar feixend ihre Hand zurück. Als er nichts entgegnete, spielte sie mit den Rändern ihres Ausschnittes und auch Surrio fiel automatisch – und wie er sich selbst gestehen musste: angenehm berührt – in das Rollenspiel ein.

»So erkennen wir also einander wieder. Zwei Vertreter alter Völker … und Feinde.« In Surrio erlosch der kleine Funke, der ihn für einige Augenblicke erfüllt hatte. Selbst wenn sie ihre beiden Körpergrößen ignoriert hätten, wäre eine Verbindung unmöglich gewesen. Erst recht zwischen einer Zauberin und einem Zwerg.

»Unsere Vorfahren mögen Feinde gewesen sein … Zwerg«, sagte sie zu seiner Überraschung und erhob sich zu voller Größe vor ihm. »Aber das muss nicht heißen, dass wir beide … und andere unserer Art, wieder mit Waffen aufeinander losstürmen müssen. Es sind andere Zeiten angebrochen. Und jedes unserer Völker hat weniger Mitglieder als auf zehn Schiffe passen würden. Und: Es gibt keine Draken mehr.«

Surrio enthielt sich einer direkten Antwort und versuchte, das Gesicht aufzusetzen, das er beim Inselspiel seinen Gegnern zeigte. »Das erklärt noch nicht, warum Ihr Euch mir offenbart habt.«

»Ist das nicht offensichtlich?«

»Wenn wir keine Feinde mehr sind, was sind wir dann?«

»Verbündete gegen das Böse. Gegen Quorr.«

»Eure Ahnen sahen in uns Iruti das Böse.«

»Nicht in Euch selbst. Nur das, was Ihr befehligt habt. Und ich sagte ja schon: Es gibt keine Draken mehr.«

»Vielleicht sind wir Iruti auch ohne Draken böse.«

»Ihr habt Euch geändert«, sagte Aurelia überzeugt und bot ihm die Hand. »So wie wir uns geändert haben.«

Surrio nahm sie und ließ sich in den Stand helfen. »Ich glaube nicht, dass sich das Erste Volk geändert hat«, antwortete er überraschend hart und ließ dabei seinen Blick dennoch bewundernd über ihren Körper gleiten. »Ich glaube vielmehr, dass ihr eine höllische Angst davor habt auszusterben und in Vergessenheit zu geraten.«

»Wie ihr Iruti«, betonte sie so laut, dass Surrio befürchtete, der Knochenkrieger würde zu ihnen treten und fragen, warum sie sich so ereiferten.

»Trotzdem seid Ihr hier auf Quorr«, beharrte Aurelia. Sie beugte ihren Kopf herunter und tat so, als wolle sie ihm einen Kuss anbieten. Ihre Stimme dagegen klang plötzlich knallhart, fast eisig »Unser gemeinsamer Gegner heißt König Rhazor. Die Quorr sind nicht das, was diese Welt verdient hat.«

»Dem stimme ich zu, Zauberin Aurelia.«

»Dann schlage ich ein Bündnis vor, Surrio. Beweisen wir der Welt und anderen Vertretern unserer beider Völker, dass wir zur Vernunft gekommen sind …«

»… nach Tausenden von Jahren und angesichts unseres drohenden Untergangs …«

Sie wischte mit einer Hand heftig durch die Luft, wohl um der Wache vorzuspielen, sie beide würden von anfänglicher Anziehung zu plötzlicher Ablehnung wechseln, bestätigte aber seinen Einwand durch ein kurzes Nicken.

»Hört mir zu, Zwerg. Die Königin ist längst nicht so schlimm wie ihr Gatte, dennoch aber ein hochnäsiges und arrogantes Weibsstück … was sich zu Tode langweilt. Die ständigen Annektierungen anlandender Kleinstinseln öden sie an. Einzig die Nächte mit neuen Liebhabern aus der Schar Gefangener halten sie bei Laune. Vor einigen Zehnttagen hat aber König Rhazor einen Mann hinrichten lassen, der sich einer Nacht mit der Königin gerühmt hatte. Nicht weil der seine Frau bumste, sondern weil er es publik machte. Nun ist die Königin stinksauer auf Rhazor … und hat in einem unbedachten Moment mir gegenüber geprahlt, dass sie zu dem kleinen erlauchten Kreis zähle, die in das größte Geheimnis Quorrs eingeweiht seien. Leider hat sie sich auf die Zunge gebissen, als sie ihren Fehler bemerkte. Ich tat so, als hätte ich es überhört.«

»Was für ein Geheimnis? Dass Gefangene gefoltert und ermordet werden, egal ob sie vermeintliche Untreue oder andere Verbrechen gestehen oder nicht? Dass Quorr keine Monarchie ist, sondern ein Tyrannenstaat? Dass die Gelüste König Rhazors scheinbar nie zu stillen sein werden? Er seine Vorfahren in der Erweiterung Der Festen Insel übertreffen will?« Er schüttelte den Kopf. »Das alles sind längst keine Geheimnisse mehr.«

Jetzt erhob sich Aurelia wieder und sah mit gespielt ablehnendem Ausdruck auf den Iruti herunter. »Es soll an einer der zerklüfteten Küsten Der Festen Insel ein Tal geben, das für niemanden zugänglich ist. Weit davor sorgen Knochenkrieger und Absperrungen dafür, dass niemand auch nur in Hör- oder Sichtweite des Tals kommen könnte. Selbst die Namen der Wachen bleiben ungenannt. Und hinter den Schädelhelmen kann man keine Gesichter erkennen. Mein Versuch, einen der Krieger zu verführen und auszuhorchen, ist leider im Ansatz gescheitert.« Sie blickte auf ihn herab, hatte aber nun einen Hoffnungsschimmer in den Augen. »Vielleicht bedarf es hier der besonderen Fähigkeiten eines Iruti? Wenn Ihr Euch dorthin begebt, könntet Ihr der Aufmerksamkeit der Wachen wohl leicht entgehen … und es wäre ein erster Beweis, dass ihr euch wirklich geändert habt.«

»So wie ihr Zauberer? Was ist Euer Beweis für die Ernsthaftigkeit eines solchen Bündnisses?«

»Ich habe Euch nicht an Quorr oder seinen schlimmsten Vertreter, den Schäler, verraten, Gaukler. Und ich habe Euch gerade von diesem Geheimnis erzählt.«

Plötzlich bebte der Boden und beide hatten Mühe, auf den Beinen zu bleiben. Auch der Knochenkrieger hatte seine Arme ausgebreitet und versuchte, die Erschütterungen auszubalancieren. Aus der Ferne erreichten sie einige angsterfüllte Rufe und Dutzende Höflinge und Hofdamen rannten aus verschiedenen Gebäuden. Als der Untergrund sich aber wieder von einem Augenblick zum anderen beruhigte, verwandelten sich die Rufe rasch in erleichtertes Lachen.

»Eines von vielen Beben auf Der Festen Insel«, beschwichtigte Aurelia und musste über ihre eigenen Worte lächeln. »Sie nennen solche Ereignisse Der Rote atmet

»Der Rote, der einst auf die Welt stürzte? Die Quorr halten ihn wirklich für einen gefallenen Gott?« Surrio schüttelte den Kopf. »Es ist wirklich viel Wissen verlorengegangen seit Dem Fall.« Er sah die Zauberin zunächst nachdenklich, dann leicht spöttisch an. »Vielleicht war dies ja ein Wink der Götter …« Der Iruti wiegte den Kopf hin und her. »Na schön, Dame Aurelia: Versuchen wir es miteinander.«

Dann verbeugte er sich und ging davon.

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