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Claudia Meeles betrat in schwarzen Kordhosen und cremefarbenem Pullover die große Wohnküche.

„Guten Morgen, Großmutter.“ Sie küsste die Sechzigjährige auf die faltige Wange.

„Guten Morgen, mein Kind.“ Barbara Brauneder schlug sechs Eier in die Pfanne, die auf dem Herd stand und in der sie zuvor den Frühstücksspeck angebraten hatte. Ein Geruch, der Claudias Appetit anregte, erfüllte die Küche.

„Ist Großvater schon auf?“, fragte das Mädchen.

„Er sitzt im Wohnzimmer und liest die Morgenzeitung.“

„Na, so was. Und ich dachte, ich wäre heute früher dran als er.“

Barbara Brauneder wischte die Hände an ihrer Kleiderschürze ab.

„Hast du gut geschlafen?“

„Nein.“

Frau Brauneder sah ihre Enkelin forschend an.

„Du siehst auch nicht besonders gut aus.“

„Ich fühle mich ein bisschen matt“, gab Claudia zu, „aber das vergeht bestimmt, sobald ich deinen guten, starken Kaffee getrunken habe.“

Barbara Brauneder drittelte die große Ham-and-eggs-Ration in der Pfanne und schob die Portionen mit einer Gabel auf die bereitgestellten Teller. Sie sah sich ihre Enkeltochter etwas genauer an.

„Kindchen, deine Augen glänzen“, stellte sie besorgt fest. „Du hast doch nicht etwa Fieber?“

„Glaube ich nicht. Höchstens ein bisschen erhöhte Temperatur.“

„Vielleicht brütest du irgendeine Krankheit aus.“

„Ach, nein, bestimmt nicht“, versicherte Claudia noch.

Sobald das Frühstück auf dem Tisch stand, zog Frau Brauneder ihre Kleiderschürze aus, hängte sie an einen Haken, der an der Küchentür befestigt war, und rief ihren Mann. Ludwig Brauneder erschien ohne Zeitung. Claudia begrüßte auch ihn mit einem Kuss auf die Wange.

Sie setzten sich, und Barbara Brauneder sagte zu ihrem Mann: „Claudia gefällt mir heute Morgen nicht, Ludwig.“

„So?“ Er musterte seine Enkeltochter. „Ich finde sie so hübsch wie immer.“

„Sie hat mit Sicherheit Fieber.“

„Fieber?“ Ludwig Brauneder musterte Claudia noch einmal.

„Doch nicht richtiges Fieber“, sagte das Mädchen.

„Sie sollte heute besser nicht arbeiten“ , erklärte Barbara Brauneder.

„Aber Großmutter ...“, protestierte Claudia.

„Wenn du meinst“, sagte der weißhaarige Mann zu seiner Frau. Die Kompetenzen waren im Hause Brauneder klar getrennt. Er war für alle finanziellen und geschäftlichen Belange zuständig und sie für ein behagliches Heim und das leibliche Wohl aller Familienmitglieder.

„Ich bin nicht so krank, dass ich nicht arbeiten könnte“, versuchte Claudia ihren Großeltern klarzumachen, aber sie kam damit nicht durch. Nach dem Frühstück musste sie sich den Fiebermesser unter den Arm klemmen.

„Aber nicht mogeln“, sagte Barbara Brauneder mit erhobenem Zeigefinger. Zehn Minuten später las sie von der Skala ab: „Siebenunddreißig acht. Na, bitte! Marsch, ins Bett mit dir!“

„Großvater ...“, sagte Claudia flehend.

Doch sie bekam keine Unterstützung von ihm.

„Du tust, was deine Großmutter dir sagt.“

„Aber im Büro liegt ein Haufen Arbeit. Den bewältigt Frau Wagner nicht allein.“

„Peter Werding wird sie unterstützen.“

„Aber der ist doch erst seit einer Woche in der Firma.“

„Er ist sehr tüchtig.“

„Das bestreite ich ja nicht, aber ...“

„Wenn es irgendwelche Probleme gibt, kann er ja mich fragen. Und sollte ich ihm wider Erwarten auch nicht helfen können, rufen wir dich an, okay?“ Ludwig Brauneder legte die Hand sanft auf die Wange seiner Enkelin. „So, und nun zurück mit dir ins Körbchen.“

Widerstrebend gehorchte Claudia. Sie kehrte in ihr Schlafzimmer zurück, zog sich aus und legte sich ins Bett, während ihr Großvater das Haus ohne sie verließ.

Eine bleierne Müdigkeit überkam sie. Die Augen fielen ihr zu, und wenig später schlief sie tief. Dass ihre Großmutter zweimal nach ihr sah, merkte sie nicht.

Um elf Uhr erwachte sie mit einem furchtbar schlechten Gewissen. Liebe Güte, sie lag hier auf der faulen Haut, obwohl ihr gar nichts fehlte. Sie legte die Hand auf ihren Kopf. Kein Fieber. Keine erhöhte Temperatur. Sie war nicht müde, nicht abgeschlagen, fühlte sich gut.

Nun aber raus mit dir!, befahl sie sich im Geist, stand auf und ging ins Bad. Nach einer erfrischenden Dusche zog sie an, was sie heute schon mal getragen hatte, und ging nach unten.

Großmutter war nicht im Haus, aber sie hörte ihre Stimme, und als sie ans Fenster trat, sah sie sie am Zaun stehen und mit der Nachbarin reden.

Anfang des Monats hatte Jennifer Mahlek, die Nachbarin, zwei Wochen in der Paracelsus-Klinik gelegen. Seither war sie voll des Lobes für Dr. Härtling und seine Kollegen. Ein Krankenhaus wie dieses gab es ihrer Meinung nach kein zweites Mal in Deutschland, in Europa, auf der ganzen Welt. Sie schwelgte immer in Superlativen, egal, wobei.

Als sie Claudia am Fenster stehen sah, winkte sie ihr. Claudia winkte zurück und verließ ihren „Beobachtungsposten“. Wenig später kam ihre Großmutter ins Haus. Obwohl Claudia jetzt frisch und munter aussah, bestand Barbara Brauneder auf einer neuerlichen Temperaturmessung. Mit einer Anzeige von sechsunddreißig fünf war sie dann zufrieden.

„Hat Großvater angerufen?“, fragte Claudia.

„Nein.“ Barbara Brauneder lächelte. „Du siehst, es geht im Büro auch ohne dich. Frau Mahlek meint, du solltest dich mal in der Paracelsus-Klinik ansehen lassen.“

Claudia stellte innerlich die Haare auf. Es interessierte sie nicht die Bohne, was Frau Mahlek meinte.

„Wozu denn? Mir fehlt doch nichts.“

„Du hattest heute Morgen Fieber.“

„Meine Temperatur war leicht erhöht.“

„Und du siehst seit einiger Zeit ein wenig blass aus.“

„Ich war zu wenig in der Sonne“, verteidigte sich Claudia. „Aber es ist heutzutage - wegen des immer größer werdenden Ozonlochs - ohnedies nicht mehr ratsam, sich den gefährlichen UV-Strahlen auszusetzen.“

„Frau Mahlek würde kein anderes Krankenhaus mehr aufsuchen. Für sie ist die Paracelsus-Klinik einsame Spitze.“

Claudia lachte. „Ich wette, das hat sie Dr. Härtling und seinen Kollegen mindestens dreimal am Tag gesagt. Sie ist ein Plappermaul. Deshalb war es auch nicht richtig, ihr von meiner ‘schweren Erkrankung’ zu erzählen, die mich den ganzen Vormittag ans Bett gefesselt hat, weil es nämlich spätestens morgen die ganze Straße weiß.“

Barbara Brauneder wechselte das Thema.

„Hast du Hunger? In einer halben Stunde können wir essen.“

„Ich kauf’ mir unterwegs einen Hamburger.“

„Unterwegs?“

„Ich fahre in die Firma. Ich sehe absolut keinen Grund, auch den Nachmittag zu schwänzen.“

Frau Brauneder schüttelte verständnislos den Kopf.

„Ich begreife nicht, was euch jungen Leuten so sehr an diesen Hamburgern schmeckt.“

„Fast Food ist sehr stark im Kommen.“

„Das ist der Niedergang der traditionellen Esskultur“, klagte Claudias Großmutter. „Die Menschen stopfen nur noch so rasch und so viel wie möglich von irgendwelchem minderwertigem Zeug in sich hinein, bloß, um im Eilzugstempo satt zu werden. Man nimmt sich für eine kultivierte Nahrungsaufnahme keine Zeit mehr. Man isst nicht, man schlingt. Vorbei ist’s mit dem gemütlichen Genießen. Und die Speisen werden auch nicht mehr mit Liebe zubereitet. Das muss alles Ruckzuck gehen, muss in wenigen Sekunden fertig sein. Früher hieß es, der Mensch genießt seine Mahlzeit auf acht Ebenen ...“

„Das tut er noch immer“, behauptete Claudia. „Vielleicht nicht mehr so oft wie früher, aber er tut es noch - in einem tollen Restaurant oder zu Hause im Kreise lieber Freunde, deren Gaumen er mit exzellenten Speisen und delikaten Soßen verwöhnt, für deren Zubereitung er sich sehr viel Zeit genommen hat.“ Sie nahm die Hände ihrer Großmutter. „Die heutige Zeit ist nicht so schlecht, wie du sie machst. Mag sein, dass früher vieles anders war. Aber es war bestimmt nicht alles besser.“ Sie schüttelte die Hände der Sechzigjährigen. „Darf ich jetzt gehen?“

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