Читать книгу Sammelband 7 Schicksalsromane: Von ihren Tränen wusste niemand und andere Romane - A. F. Morland - Страница 7

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„Icke, Sie werden immer hübscher, wie machen Sie das bloß?“, fragte Dr. Sven Kayser gut gelaunt, als seine tüchtige Sprechstundenhilfe Gudrun Giesecke aus Berlin, man hörte es noch immer ganz deutlich, obwohl sie seit einer Ewigkeit in München lebte, zur Tür hereinkam.

Vierundsechzig war sie, aber so robust wie eine Dreißigjährige und angenehm zuverlässig. Dr. Kayser wollte gar nicht daran denken, was sein würde, wenn die Perle von der Spree eines Tages zu ihm sagte: „Herr Doktor, ick höre uff.“

Jetzt sah sie ihn mit einem langen, prüfenden Blick an. „Woher die jute Laune, Chef?“

,,Es ist ein wunderschöner Tag, ich bin mit dem richtigen Fuß zuerst aufgestanden“, und habe eine wundervolle Nacht mit Solveig Abel hinter mir, fügte er in Gedanken hinzu, „da kommt die jute Laune ganz von selbst.“

„Und deshalb machen Se mia jleich ’nen Heiratsantrag?“

„Moment, Icke, wir wollen die Kirche doch schön im Dorf lassen, ja? Ich habe lediglich gesagt ...“

„Tut mir leid, wenn ick Se falsch vastanden habe, Chef“, schmunzelte die füllige Sprechstundenhilfe schelmisch.

„Augenblick mal, wer nimmt hier eigentlich wen auf den Arm?“

Schwester Gudrun ging nicht darauf ein. „Wenn Se seelisch so toll in Form sind, sind Se heute bestimmt ooch außerjewöhnlich belastbar“, meinte sie. „Det trifft sich ausjesprochen jut, denn ick habe det Wartezimmer voller Patienten.“

Sven Kayser rieb sich die Hände und sagte: „Nun, dann wollen wir uns gleich tüchtig in die Riemen legen, nicht wahr?“

So begann an diesem herrlichen Maitag die Vormittagssprechstunde des Grünwalder Arztes. Die erste Patientin hatte – sie schämte sich deswegen unsinnigerweise – Hämorrhoiden. Es war bei Berta Fallenberg, so hieß die Frau, eine Berufskrankheit. Sie war Sekretärin in einem Münchner Brauereibetrieb und saß von morgens bis abends am Schreibtisch.

„Dieses ewige Sitzen bringt mich noch um“, klagte Frau Fallenberg, die für ihre Größe viel zu schwer war.

Sven Kayser konnte ihr die Empfehlung, abzunehmen, nicht ersparen.

Berta Fallenberg seufzte gequält. „Was glauben Sie, wie oft ich in den vierzig Jahren, die ich auf der Welt bin, schon abgenommen habe, Herr Doktor. Ich nehme ab und zu und ab und zu ... Ich übertreibe bestimmt nicht, wenn ich behaupte, dass ich insgesamt schon an die fünfhundert Kilo abgenommen und leider auch wieder zugenommen habe. Die Versuchungen im Büro sind einfach zu groß. Mal hat die Kollegin Geburtstag, mal hat der Kollege etwas zu feiern. Kunden überhäufen mich mit köstlichen Pralinen, und ich kann so schrecklich schwer widerstehen. Wenn der Geist auch willig ist, das Fleisch ist furchtbar schwach, und wenn ich mich hinterher auf die Waage stelle, würde ich mich am liebsten ohrfeigen.“

Sven Kayser untersuchte die Patientin kurz, dann durfte sie sich wieder anziehen. Wichtig war für Frau Fallenberg eine dauerhafte Stuhlhygiene, deshalb empfahl Dr. Kayser der Patientin, morgens und abends eine Tasse Abführtee zu trinken, damit stärkere Stauungszustände vermieden wurden. Außerdem riet Sven Kayser der Frau zu vegetarischer Rohkost.

„Eine Umstellung der Ernährung wird raschen Erfolg bringen“, sagte der Grünwalder Arzt. „Häufige, aber kleine Mahlzeiten“, fuhr er fort. „Verboten sind Salz und salzhaltige Speisen wie Käse, Wurst und Fischkonserven, und natürlich sollten Sie auch keinen Alkohol trinken, Frau Fallenberg.“

„Tu ich sowieso nicht.“

„Dann ist es gut. Radfahren und Reiten ist verboten. Machen Sie jeden Tag einen Spaziergang von dreißig Minuten, und nehmen Sie hiervon dreimal täglich dreißig Tropfen.“ Dr. Kayser reichte der Patientin ein Rezept. „Ein Rosskastanienextrakt“, erklärte er dabei. „Hat sich seit Langem bewährt und ist garantiert unschädlich.“

„Deshalb komme ich so gern zu Ihnen“, sagte Berta Fallenberg lächelnd. „Sie pumpen Ihre Patienten nicht immer gleich mit Chemie voll.“

„Es wäre wenig sinnvoll, mit Kanonen auf Spatzen zu schießen.“

„Leider denken nicht alle Ärzte so“, sagte Berta Fallenberg und schob das Rezept in ihre Handtasche. Dann verabschiedete sie sich.

Der nächste Patient war schlimmer dran: Ihm war ein Magengeschwür aufgebrochen. Er klagte über heftige Schmerzen im Oberbauch, und sein Stuhl war seit gestern schwarz. An Magengeschwüren erkranken vorwiegend Menschen mit schmächtigem Körperbau, sogenannte Leptosomen. Walter Schmidt war ein Paradebeispiel dafür.

Er war mittelgroß und so schmal wie ein Windhund. Dr. Kayser behandelte seit Wochen mit mäßigem Erfolg seinen chronischen Magenkatarrh.

Er hatte befürchtet, dass es zum Aufbruch des Geschwürs kommen würde, denn er wusste, dass der Patient weiter seine Ernährungsfehler machte und die empfohlene Diät nicht einhielt. Zudem war Walter Schmidt ein sehr starker Raucher und nicht fähig, seinen Nikotinkonsum – was sehr wichtig gewesen wäre – drastisch einzuschränken.

Und er trank weiter seine Schnäpse, als hätte es ihm Dr. Kayser niemals verboten. Es war nicht leicht, so einem unvernünftigen Patienten zu helfen.

Magengeschwür-Kranke befinden sich nahezu immer in einer unbefriedigenden Lebenssituation, welche ihrem Ehrgeiz nicht gerecht wird, sie sind „Vagotoniker“, das heißt, bei ihnen überwiegen Eingeweide erregende Reize.

Sven Kayser wusste von Walter Schmidt, dass er mal ein ziemlich erfolgreicher Grafiker in einer großen Werbeagentur gewesen war. Eines Tages hatte man ihm einen neuen Chef vor die Nase gesetzt, dem hatte diese Nase nicht gefallen, und so hatte es nur zwei Monate gedauert, bis man sich in beiderseitigem Einvernehmen getrennt hatte.

Seither arbeitete Walter Schmidt nur noch gelegentlich und lebte mit Gleichgesinnten immer in Geldschwierigkeiten – in einer Wohngemeinschaft.

„Tja, Herr Schmidt“, sagte Sven ernst. „Ich hab’ das kommen sehen.“

„Sieht nicht gut für mich aus, was?“ Der Patient fuhr sich mit den nikotinbraunen Fingern durch das dunkle Haar.

„Sie haben trotz meiner ausdrücklichen Verbote weiter gesündigt.“

„Ich bin ein Idiot. Ich weiß, Herr Doktor. Aber wer kann schon raus aus seiner Haut? Jeder ist, wie er ist.“

„An einem dermaßen unvernünftigen Menschen kann ich natürlich kein Wunder vollbringen.“

„Das ist mir klar“, erwiderte Walter Schmidt nüchtern. „Sagen Sie mir nur eines, Herr Doktor: Muss ich operiert werden?“

„Möglicherweise kommen Sie darum herum.“

Schmidt grinste. „Das höre ich nicht ungern. Wem macht es schon Spaß, sich den Bauch aufschneiden zu lassen, nicht wahr?’’

„Aber eine Einweisung in die Seeberg-Klinik kann ich Ihnen leider nicht ersparen“, sagte Sven Kayser.

„Einverstanden“, nickte Walter Schmidt. „Vielleicht kriegt man mich da mit Medikamenten und ’ner strengen Diät wieder hin. Ich schlucke alles, die größten Kapseln kriege ich runter wie nichts. Darin bin ich Weltmeister.“

„Magengeschwüre können immer wiederkommen, Herr Schmidt. Sie sollten Ihre Lebensgewohnheiten ändern, sollten wieder einer geregelten Arbeit nachgehen und sich bemühen, glücklich und zufrieden zu werden.“

„Ich bin glücklich und zufrieden“, behauptete der Patient.

„Wenn Sie das glauben, belügen Sie sich selbst, Herr Schmidt“, konterte Sven ungerührt. „Weniger Zigaretten, kein Alkohol ...“

„Ich werde darüber nachdenken, Herr Doktor.“

Sven Kayser griff nach einem Einweisungsformular und begann zu schreiben.

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