Читать книгу Sammelband 7 Schicksalsromane: Von ihren Tränen wusste niemand und andere Romane - A. F. Morland - Страница 8
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Die große Wohnung befand sich in Schwabing, in der Leopoldstraße. Sechs Zimmer, alle mit zwei Personen belegt. Nur Walter Schmidt wohnte zur Zeit allein.
Bis vor Kurzem hatte Olivia mit ihm Zimmer und Bett geteilt. Olivia Hammersfeldt, eine hysterische, überspannte Ziege. Nicht auszuhalten war sie manchmal gewesen!
Walter Schmidt war froh, dass es vorbei war. Olivia trug mit Sicherheit ein gerüttelt Maß Schuld daran, dass er ein Magengeschwür bekommen hatte.
Glück für sie, dass sie freiwillig gegangen war, sonst hätte er sie nämlich eigenhändig hinausgeworfen. Sie hatte sich eingebildet, Tänzerin zu sein, dabei war ihr Herumgehopse, das sie für einen Ausdruck höchster Kunst gehalten hatte, nur lächerlich und peinlich gewesen.
Alle in der Wohngemeinschaft hatten sich – mehr oder weniger offen – gewundert, dass Olivia ein Engagement bekommen hatte. Als Tänzerin! Um die Welt der Musen musste es schlecht bestellt sein, wenn man auf „Künstler“ wie Olivia Hammersfeldt, die nur unwesentlich gelenkiger war als ein Spazierstock, zurückgreifen musste.
Auf Tournee war sie gegangen, und man war in der Wohngemeinschaft der einhelligen Meinung, dass Olivia mit dem Tourneeleiter geschlafen haben musste, um von ihm berücksichtigt zu werden. Denn das konnte sie. Das musste ihr Walter Schmidt ohne Wenn und Aber zugestehen.
Als Schmidt die Wohnung, betrat, sprang ihn eine brütende Stille an. Niemand war da. Alle waren weg, waren lange vor ihm zur Arbeit gegangen.
Er war diese Leere gewöhnt, denn er war der einzige, der nicht zur Arbeit ging. Wenn er arbeitete, dann tat er es hier, in seinem Zimmer.
Er ging in die Gemeinschaftsküche und nahm eine Flasche Weißbier aus dem Kühlschrank. Das Geld dafür warf er in einen offenen Schuhkarton, der daneben stand.
So wurde es hier gehandhabt. Es lagen bereits einige Münzen und Banknoten im Karton. Niemandem wäre es eingefallen, sein Bier nicht zu bezahlen. So unterschiedlich die Leute auch waren, die in dieser Wohnung lebten, man konnte einander vertrauen, und das war eminent wichtig. Man konnte getrost seine Geldbörse irgendwo liegen lassen, tagelang – niemand hätte sich daran heimlich bedient.
Walter Schmidt ging mit der Bierflasche in sein spartanisch eingerichtetes Zimmer. Ein Schrank, ein Bett, ein Tisch, ein Stuhl, das war alles. Mehr brauchte er nicht. Alles andere war Luxus, und den konnte er sich bei den Einkünften, die noch magerer waren als er, nicht leisten. Er zündete sich gedankenverloren eine Zigarette an und setzte die Flasche an die gespitzten Lippen. Aber schon der erste Schluck bekam ihm nicht.
„Verdammt!“, entfuhr es ihm mit schmerzverzerrtem Gesicht. Hart stellte er die Bierflasche auf den Tisch. Wütend stieß er die Zigarette in den Aschenbecher. „Verdammt!“
Er setzte sich aufs breite Bett und massierte stöhnend seinen Magen. Wie konnte er nur so blöd sein? Wurde er denn nie gescheiter?
Draußen fiel die Eingangstür krachend ins Schloss. Walter Schmidt hörte Schritte. Er kannte dieses Stampfen. So ging nur einer: Felix Lehmann, der lange Blonde mit den unwahrscheinlichen X-Beinen. Er war Pizzabäcker in einem schmuddeligen Schwabinger Lokal.
Walter Schmidt stand auf und ging zur Tür. Die Schmerzen hatten nachgelassen. Er öffnete die Tür. Felix Lehmann fuhr erschrocken herum.
„Ach, du bist es“, stieß er heiser hervor und entspannte sich.
Walter Schmidt grinste. „Was dachtest du denn? Der Geist von ’ner vermoderten Ahnfrau?“
Felix Lehmann zuckte die Schultern. „Na ja, ich nahm an, die Wohnung wäre leer, und ich war in Gedanken.“
„Wieso bist du hier und nicht in der Pizzeria? Hat dich dein Chef hinaus geschmissen? Ist er endlich dahintergekommen, dass du es bist, der alle seine Gäste vergiftet?“
„Blödmann. Meine Pizza kann jeder gefahrlos essen.“
„Mir wurde schon mal schlecht davon“, behauptete Walter Schmidt.
„Ist ja gar nicht wahr. Du hattest zu viele Schnäpse getrunken. Die sind dir nicht bekommen.“ Felix eilte in sein Zimmer. Die Tür ließ er auf. „Einer der Gäste möchte die Fotos vom Tegernsee sehen.“
Walter staunte. „Und die zeigst du ihm?“
„Warum denn nicht? Es sind herrliche Aufnahmen. Die brauche ich nicht zu verstecken.“
„Auf der Hälfte davon ist deine Freundin Julia doch splitterfasernackt“, wandte Walter ein.
„Die sortiere ich natürlich aus.“ Felix verließ mit den herzeigbaren Bildern das Zimmer. Er stutzte. „Sag mal, wolltest du nicht heute zum Arzt gehen?“
„Da war ich schon.“
„Und was sagt der Doktor?“, erkundigte sich Felix.
„Ich muss ins Krankenhaus“, brummte Walter.
„Wirklich? Operieren?“
Walter hob die schmalen Schultern. „Das steht noch nicht fest.“
„Ich drück’ dir die Daumen, dass du nicht unters Messer musst. Julia und ich kommen dich selbstverständlich besuchen, und alle anderen Mitglieder unserer Wohngemeinschaft auch. Wir sind ja so etwas wie eine große Familie.“
Walter grinste wieder. „Ja, eine große, glückliche Familie sind wir.“
„Ich muss gehen.“
„Ciao. Lass keine Pizza anbrennen.“
„Wir sehen uns heute Abend“, sagte Felix.
„Ja, zum letzten Mal bis auf Weiteres, denn ab morgen residiere ich in der Seeberg-Klinik.“