Читать книгу Liebesheilung: 7 Arztromane großer Autoren - A. F. Morland - Страница 10

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Der Teufel steckt im Detail!, pflegte Dr. Winter zu sagen.

Dieser Morgen trug dazu bei, diese Theorie zu erhärten.

Um sieben Uhr gab es eine Notaufnahme, Beckenringbruch im neunten Monat. Die Frau hieß Anne Hauk, war 24, erstgebärend, das Kind befand sich in Steißlage. Der Unfall hatte sich vor vierzehn Stunden ereignet. Ein Sturz von der Leiter beim Fensterputzen.

Schwester Luise, die Hebamme, wunderte sich schon längst nicht mehr darüber, wozu Frauen im neunten Monat in frommer Einfalt fähig waren.

Die Patientin litt Höllenschmerzen. Die ganze Nacht hatte sie sich mit dem Beckenringbruch zu Hause herumgequält, bis dann gegen sechs in der Frühe die Eröffnungswehen einsetzten.

Jetzt lag sie auf der Tabula, und die Ärzte sollten das Bestmögliche aus der Sache machen.

Schmerzlindernde Injektionen schlugen nicht an, die Folge einer vorausgegangenen Cortisonbehandlung.

Dr. Winter ließ einen Lachgasrausch geben und holte unter Assistenz von Dr. Inge Simon-Stoll einen kleinen Erdenbürger unter Anwendung des Barachtgriffes. In neuer persönlicher Bestzeit, wie ihm Schwester Luise unter Vorzeigen der Stoppuhr versicherte. Dabei hatte der Kopf des Kindes eineinhalb Minuten im kleinen Becken verweilt und die Nabelschnur abgeklemmt, was zum abrupten Abbruch der Sauerstoffversorgung führte.

Der neue Erdenbürger war ziemlich blau angelaufen, maß 48 Zentimeter und wog nur 1900 Gramm, aber sein Stimmchen quäkte herzerfrischend in den Kreißsaal.

„Ein Prachtbursche ist er ja noch nicht, aber was nicht ist, kann werden. Erst mal ab dafür in die Bratröhre!“, sagte Schwester Luise in ihrer aufmunternd resoluten Art und legte den kleinen Hauk in den Inkubator.

Dr. Hermann Mittler versorgte die Nachgeburt und überließ die Patientin sodann dem Oberarzt der Chirurgie, Dr. Albert Rose, den man zugezogen hatte, damit er sogleich den Beckenringbruch einrichten konnte. Ein Transport der Frau auf die Chirurgische war nicht für zweckmäßig erachtet worden.

Die OP-Schwester Manka wollte eben im Ärztezimmer nebenan dem Team von Dr. Winter einen steifen Kaffee aufschütten, als die Aufnahme einen weiteren Notfall avisierte.

„Ein Luftunfall im achten Monat. Missglückte Notlandung einer Reisemaschine“, informierte Dr. Winter seine Mannschaft.

Rose wurde mit seiner Patientin in den Wachraum verbannt und die Tabula für die Notlandungspatientin hergerichtet.

Zwei Pfleger brachten schon den Wagen aus der Schleuse.

Die Frau war schlimm zugerichtet. Der Notarzt vom Rettungswagen hatte seine Diagnose mitgegeben. Fraktur des Nasenbeins, des Schlüsselbeins, diverse Rippenfrakturen, Gefäßquetschungen an bei den Oberschenkeln, Thoraxprellungen, innere Verletzungen.

Es mutete fast wie ein Wunder an, dass die Frau die missglückte Notlandung mit nur einer Schnittverletzung entlang des Haaransatzes überstanden hatte.

Die Assistenzärztin Dr. Simon-Stoll horchte die Herztöne des Kindes ab, während Dr. Winter aufmerksam den hohen Leib der Frau betrachtete.

Aus dem Begleitpapier ging hervor, dass starke schmerzlindernde Mittel gegeben waren. Dennoch bäumte sich die Patientin plötzlich auf und schrie.

Schwester Luise trat heran, beobachtete, schüttelte den Kopf und sagte: „Zum Röntgen reicht’s nicht mehr. Die Schockwehen setzen ein.“

„Kaiserschnitt!“, entschied Dr. Winter nach kurzem Überlegen. „Bereiten Sie einen zweiten Inkubator vor.“

Die Assistenzärztin richtete sich auf. „Verletzungen des Fötus nicht feststellbar. Wir sollten aber den Kollegen Rose zuziehen, gell.“

Schwester Manka eilte schon, um den Chirurgen aus dem Wachraum zu holen.

Die Patientin wurde auf die Tabula umgebettet.

„Ich nehme besser gleich ein Abonnement!“, ließ sich Dr. Rose vernehmen. Er wusch sich ein zweites mal an diesem Morgen steril und wartete darauf, dass die Gynäkologen ihm das Feld überließen.

Dr. Winter setzte den Schnitt sehr tief an. Die diagnostizierten inneren Verletzungen versetzten ihn in Unruhe. Gewiss hatte er schon ohne Röntgenbefund weit schwierigere Eingriffe vorgenommen, aber da war das Risiko bedeutend geringe gewesen.

Er klemmte etwas zu spät ab. Schwester Manka wischte ihm die feinen roten Spritzer von der Stirn.

Als er die Irritation in ihren Augen über der grünen Maske erkannte, konzentrierte er sich und arbeitete sicher und schnell.

„Wieder ein Junge. Wo bleibt die Gleichberechtigung?“ Schwester Luise nahm das abgenabelte Kind in Empfang und half beim Absaugen der Atemwege.

Dr. Winter holte die Nachgeburt und nähte, während Dr. Simon-Stoll dem kleinen Bürger den ersten Schrei zu entlocken suchte, damit Blut in die Lungen strömte.

Eisiger Schreck erfasste sie. Das Kind zeigte keine Reaktion.

Ein zweiter, ein dritter Klatsch – nichts.

„Sauerstoff!“, sagte die Hebamme und bewahrte unerschütterliche Ruhe. Sie zog das Pharyngoskop heran, und die Ärztin bog das winzige runzlige Gesicht nach hinten, führte behutsam den Tubus in die winzige Luftröhre und gab eine geringe Dosis.

„Und jetzt probieren wir es noch mal!“, sagte die Hebamme eifrig. „Heben Sie den Bengel hoch. Der wird uns doch keine Scherereien machen wollen? Das mögen wir aber gar nicht.“

Aus dem Hintergrund meldete sich Dr. Schimanskis Stimme. Er war der Anästhesist. „Puls wird dünn. Druck schwächer.“

„Adrenalin!“ Monoton klang Dr. Winters Stimme.

Lieber Himmel, lass ihn seinen ersten Schrei tun, dachte Dr. Simon-Stoll. Der Mutter geht es schlecht, lass wenigstens du uns nicht im Stich!

Sie klatschte weiter.

Und endlich, endlich bequemte sich der kleine Mann, ein dünnes Krähen von sich zu geben.

Sie lächelte glücklich unter der Maske und übergab ihn der Hebamme, die trocken meinte: „So ist das nun mal, die Männer nerven uns vom ersten Tag an.“

Der Kleine wurde weiter betreut.

„Sickerblutung, Herr Winter!“, sagte gerade Dr. Mittler an der Tabula. Er assistierte. Eine Gefäßnaht schloss nicht.

Dr. Winter setzte zwei Tupfer, dann behob er den Schaden. Die Frau war jung, aber sie hatte Adern wie morsche Wasserleitungen.

„Druck fünfzig!“ Dr. Schimanski tauchte hinter seiner Abdeckung auf, als wollte er seinen Worten größeren Nachdruck verleihen.

„Dann tun Sie etwas dagegen!“, schnaubte Dr. Winter. Die Gefäßnaht hielt immer noch nicht. Wieder sickerte Blut durch.

„Diathermie!“

Es zischte. Dann roch es ein wenig nach verbranntem Fleisch. Dr. Winter entfernte das zerfranste Stückchen Vene und begann von neuem.

Er zwang sich zur Ruhe, sagte sich, dass er ungezählte Male Blutgefäße genäht hatte und es entgegen allen Schwierigkeiten letztlich doch geklappt hatte.

Auch bei morschen Adern.

Er sah die verkrampften Finger von Dr. Mittler, der mit den Instrumenten das Operationsfeld freihielt. Wenn er nur keinen Spasmus bekommt, dachte Dr. Winter besorgt. Noch fünf Minuten, dann habe ich es!

Endlich hielt die Naht, und er konnte sich an das Zusammenfügen der Bauchdecke machen. Eine Klemme klirrte laut, scharf und schrill auf den Instrumententisch.

In der Runde gab es betretene Blicke. Unnötiger Lärm war verpönt. Schwester Manka, die Koreanerin, murmelte eine Entschuldigung und überflog die zurück erhaltenen Instrumente.

Eine reine Routinemaßnahme, die nichtsdestoweniger von eminenter Wichtigkeit war. Eine vergessene Klemme bedeutete unweigerlich Scherereien.

Schwester Manka zählte mit asiatischer Pedanterie auch die Tupfer nach.

Es war nichts vergessen.

Sie nickte, als sie Dr. Winters Augen auf sich ruhen spürte.

Aufatmend trat der Oberarzt der gynäkologischen Abteilung zurück und machte eine einladende Geste zu seinem Freund Rose. „Bitte näherzutreten, Kollege. Nun kann sich die Chirurgie bewähren.“

Dr. Albert Rose hatte mit wachsender Besorgnis die Skalen anzeigen beobachtet. Der Zustand der Patientin war besorgniserregend, der operative geburtshilfliche Eingriff hatte sie weiter geschwächt.

Außerdem bewegte sie sich und stöhnte leise.

„Die Narkose vertiefen!“

Schimanski tauchte hinter der Abdeckung auf und funkelte den Chirurgen zornig an. „Ich bin dafür verantwortlich, das Leben der Patientin zu erhalten, nicht dafür, die Anatomie mit einem Neuzugang zu versorgen!“

Sekundenlang maßen sie sich, dann murmelte Dr. Rose: „Entschuldigen Sie, Herr Kollege! Halten Sie sie so ruhig, wie es eben geht.“ Seine Stirn krauste sich. „Ohne Röntgenbefund ist es Wahnsinn.“

Der desolate Zustand der Blutgefäße ließ jeden weiteren Eingriff zum Glücksspiel werden.

„Liegend Röntgenuntersuchung!“, brummte er.

Dr. Mittler und der OP-Techniker Zenker rollten das Gerät herbei. Rose injizierte ein Kontrastmittel in den Blutkreislauf. Auf den Platten konnte er dann sehen, wo das Blut aus den Gefäßen austrat und sich ins umliegende Gewebe oder in Körperräume ergoss.

Die Laufschwester und Manka stellten die Abschirmwände auf. Röntgenuntersuchungen waren hier nicht geschätzt, aber gelegentlich unumgänglich. Dr. Rose ließ sich den bleigepanzerten Lederschurz umlegen und klappte die absorbierende Schutzplatte unter die Tabula.

Manka schob die erste Kassette ein.

Auf einen Wink von Dr. Winter zog sich alles zurück, was nicht unbedingt im Raum benötigt wurde.

Rose führte das Gerät an den Handgriffen und steuerte es langsam über den Körper der Frau, den man von den bedeckenden Operationstüchern befreit hatte.

„Blutdruck nähert sich fünfzig!“, meldete Schimanski. „Wir müssen etwas unternehmen, sonst bricht der Kreislauf zusammen.“

„Halten Sie mit allem, was Sie können!“ Rose hob den Blick nicht. Er starrte auf den kleinen Monitor, der ihm die Schwachstellen der Blutgefäße zeigte.

Er betätigte den Auslöser für die erste Plattenbelichtung. Knallend schlug die Kassette gegen den Rahmen. Und noch einmal.

Wie befürchtet, hatten sich in den Oberschenkeln große Ödeme gebildet, erkennbar als dunkle, nicht genau abgegrenzte Schatten.

Die Kassette knallte wieder.

„Wechsel, bitte!“

Zenker brachte die nächste Kassette, tauschte sie aus und trat hinter die Schirmwand zurück.

Dr. Rose steuerte das Gerät nach oben.

Die Frakturen waren klar erkennbar.

„Blutdruck vierzig!“, warnte Schimanski. „Ich gebe Sauerstoff. Sollen wir eine Transfusion anschließen?“

„Warten Sie noch!“ Hastig steuerte Rose das Gerät zur linken Thoraxseite.

Unter den zertrümmerten Rippenbögen legte das injizierte Kontrastmittel dunkle Schatten um die Milz.

Er führte das Gerät näher heran und biss sich unter der Maske auf die Unterlippe.

Die glatte, stark bindegewebige Muskulatur der Einkapseln war zerrissen, die enorm blutreiche Pulpa an drei Stellen ausgetreten. Die Milztrabekel waren abgequetscht, als hätte die Patientin mit einem schmalen stumpfen Gegenstand einen heftigen Schlag durch die Rippen auf die Milz erhalten.

Nun ja, nach einem Flugunfall nahm das nicht wunder.

Die Kassette knallte wieder gegen den Rahmen, bis die Plattensektionen belichtet waren.

„Aus!“ Rose schaltete das Gerät ab und ließ es zurückrollen, indem er ihm einen sanften Stoß versetzte. Zenker schoss hinter der Schirmwand hervor und fing das rollende Röntgengerät ab.

„Das sieht nicht besonders erhebend aus“, meinte Dr. Winter, der einige Blicke auf den Monitor riskiert hatte.

„Zweiseitige Milzruptur!“ Rose trat zurück und ließ den Körper bedecken. „Balkenarterien und Venen sind weitgehend durchtrennt. Ich überlege, ob eine totale Exstirpation sinnvoll ist.“ Seine Augen blickten düster.

Die Milz ist das größte in den Blutkreislauf eingeschaltete lymphatische Organ und wird auch als die Vorkammer der Leber bezeichnet. Sie fängt Blutverunreinigungen auf und hat weitere lebenswichtige Funktionen.

Eine totale Entfernung bringt für den betreffenden Patienten ganz erhebliche Probleme, einhergehend mit verminderter Lebenserwartung. Außerdem ist er fortan medikamentenabhängig.

Und eine Garantie ist das noch lange nicht.

Die Laufschwester schaffte die Kassetten zur Entwicklung.

Schimanski stellte die Sauerstoffzufuhr ab. „Blutdruck bei sechzig!“, signalisierte er stabilisiertes Befinden der Patientin.

„Na also!“, meinte Rose. Er blickte sich um. „Dann wollen wir die Transfusion anschließen und die Umquartierung vorbereiten.“

Rose ging zum Telefon und gab Anweisungen für die Verlegung der Frau in den OP der Chirurgischen.

Schwester Manka bedeckte die Kaiserschnittnaht mit einem feuchten Tuch, derweil Dr. Mittler und Dr. Simon-Stoll die Transfusion legten.

Die Frau wurde umgebettet und unter ein steriles Plastikzelt gelegt; der Transport fand über nicht keimfreie Flure statt. Eine Infektion hätte entsetzliche Folgen zeitigen können.

Dr. Winters Team atmete auf, als die Pfleger die Roll-trage in die Schleuse schoben und hinter ihnen die Tür zu glitt. Rose folgte ihnen mit flatterndem Kittel und bat von der Tür aus eindringlich, ihm den Geburtsbericht raschestens nach unten zu schicken.

Die Hebamme blickte ihm nach. „Unmögliches wird bei uns sofort erledigt. Wunder dauern etwas länger. Auf Wunsch wird auch gehext. Ich fürchtete schon, dass die Chirurgie hier eine Filiale eröffnet. Wo ist denn der anständige Kaffee, der uns vor einer Stunde in Aussicht gestellt wurde?“ Sie rieb sich die Hände und sammelte die Datenkarten des kleinen achtmonatigen Hauk und des Flugunfalles zusammen, damit Dr. Winter seine Unterschrift drauf setzte.

Schwester Manka, der gute Geist der Gynäkologie, hatte irgendwie das Kunststück fertiggebracht, zwischendurch die Kaffeemaschine von nebenan in Gang zu setzen.

Das Team strömte hinüber.

Mit Verspätung traf Dr. Schimanski ein. „Ein ausgepumpter Narkotiseur bittet um eine Tasse Kaffee.“ Er setzte sich zwanglos in die Runde. „Ein Transfusionsbesteck ist abgängig. Kollege Rose plündert uns systematisch aus.“

„Wir werden über den Verlust hinwegkommen“, erklärte Dr. Winter ernsthaft.

Dr. Mittler steckte sich eine Zigarette an. Er inhalierte tief den Rauch und sah sich von der hübschen Kollegin Simon-Stoll aufmerksam und spöttisch zugleich beobachtet. „Gell, Ihretwegen würde ich sogar in die Orthopädie überwechseln.“

Man spitzte die Ohren, Dr. Winter blickte verwundert von den Karten auf. Veränderungsabsichten hatte die Kollegin bislang nie geäußert.

„Wie das?“, fragte Dr. Mittler begriffsstutzig.

Inge Simon-Stoll schnupperte mit angewidertem Gesichtsausdruck hinter einer Rauchwolke her. „Bei dem Kraut und Ihrem Zigarettenkonsum müssen Sie längst ein Raucherbein haben, und das würde ich Ihnen halt gern amputieren.“

Unterdrücktes Gelächter kam auf.

Dr. Mittler schaute phlegmatisch, nahm genüsslich einen Zug und entgegnete in abgeklärtem Ton: „Für so vergnügungssüchtig halte ich Sie gar nicht. Und wem ich mein Raucherbein vermache, ist noch längst nicht entschieden.“

Ein Anruf wurde ins Ärztezimmer gelegt. Die Hebamme saß dem Apparat zunächst und nahm ab. Sie wollten den Hörer Dr. Winter reichen, doch der winkte ab. Also nahm sie das Gespräch entgegen.

„So?“, machte sie plötzlich mit aggressiver Stimme. „Na, dann schicken Sie den Zausel mal herauf!“ Energisch knallte sie den Hörer auf.

Auf die fragenden Blicke rundum gab sie zur Antwort: „Der Ehemann des Beckenringbruchs ist da. Statt Blumen bringt der Mensch einen gediegenen Affen mit.“ Sie kippte hastig ihren Kaffee und rauschte hinaus.

Über den Leitersturz hatte sie in aller Herrgottsfrühe schon grimmige Bemerkungen gemacht. Der Ehemann, der seine Frau im neunten Monat noch auf die Leiter gelassen hatte, war dabei nicht gut weggekommen.

Wahrscheinlich schleppte sie den frischgebackenen Vater unverzüglich vor das Schaufenster des Säuglingszimmers, und dann ging es über den armen Hauk her, bis er nicht mehr wusste, ob er Männlein oder Weiblein war. Schwester Luise galt in diesen Dingen als Kapazität.

Der Pieper in Dr. Mittlers Tasche meldete sich.

Er griff zum Hörer und wählte die Zentrale an.

„Ein Anruf von außerhalb, Herr Doktor. Moment bitte, ich verbinde!“

„Wer ist dran ...?“ Zwecklos, die Zentrale war bereits aus der Leitung.

„Doktor Mittler!“, meldete er sich reserviert. Dann: „Du, Evi?“

Die Kollegenköpfe reckten hoch.

Recht verblüfft starrte Dr. Mittler den Hörer an.

Im Hintergrund ulkte Dr. Simon-Stoll: „Der Schwerenöter in Aktion! Ein unverhoffter Genuss!“

Ringsum grinsende Zustimmung. Einschließlich Schwester Manka. Sogar Dr. Winter zeigte ein Lächeln.

Erbost winkte Dr. Mittler ab und gebot Ruhe. Er drückte den Hörer ans Ohr.

„Hermann?“, vergewisserte sich die Anruferin. Ihre Stimme klang klein und verzagt und schutzbedürftig.

„Ja, ich bin dran. Hallo, Evi! Das nenne ich eine angenehme Überraschung am Morgen. Lichtblicke sind rar. – Du sprichst so leise! Ist bei euch etwas passiert?“

Schweigen. Dann: „Ich … ich ... Hermann, ich bin so verzweifelt.“ Die Stimme wurde noch winziger und unscheinbarer. Er hörte, dass sie weinte. „Ich habe wahrscheinlich Krebs!“

„Du hast ...?“

Sagte er nicht gerade, dass Lichtblicke rar waren?

Ihr Schluchzen wurde stärker. „Nun mal mit der Ruhe, Evi-Mädchen! Was heißt wahrscheinlich? Kennst du die Diagnose?“

Sie antwortete nicht. Aber sie war noch dran, er hörte es.

„Wer behandelt dich?“, forschte er behutsam.

Nach einer ganzen Weile erst sagte sie undeutlich: „Die Symptome deuten darauf hin. Ich habe im Buch nachgesehen ...“

Er spürte, in welch großer seelischer Bedrängnis sie sich befand. Zugleich erkannte er die Gefahr, dass sie sich in die Angst hineinsteigerte.

„Also Selbstdiagnose. Und eine vorläufige dazu“, unterbrach er sie höflich, aber bestimmt. „Ich schlage vor, du lässt sie durch eine endgültige ersetzen. Bist du nicht bei Schabitz...? Scharnitz, meinetwegen! Lass dir einen Termin geben, geh hin, und du wirst sehen, dass alles gar nicht so trübsinnig ausschaut, wie man auf den ersten Blick glaubt.“

„Ich bin so verzweifelt, Hermann! Was soll ich machen?“

„Nicht die Nerven verlieren! Das ist die erste Grundregel.“

„Ich will nicht zu Doktor Scharnitz!“

Es war wohl zwecklos, ihr in diesem Stadium zu widersprechen oder ihr die Notwendigkeit eines sehr kurzfristigen Facharztbesuches vorzuhalten. Hier musste er mit aller Behutsamkeit vorgehen. Eva-Maria war physisch robust, machte einen geradezu unverwüstlichen Eindruck. Psychisch jedoch war sie überaus sensibel.

„Das hast du dir sicher reiflich überlegt, nehme ich an. Zu einer fachlichen Diagnose rate ich aber dringend. Schon wegen der Klarheit. Und es würde dir auch die verständliche Angst nehmen. Überwinde dich, und du wirst sehen, es ist gar nicht so schlimm.“

Er unterbrach seinen Zuspruch und sah die Kollegen mit etwas bedrückter Miene das Ärztezimmer verlassen. Man war hier sehr familiär, aber man beachtete die Form und wahrte die Intimität. Besonders die eines inhaltsschweren Telefongesprächs, wie aus Mittlers Worten und seiner Mimik herauszulesen war.

Er war den Kollegen dankbar für diese Rücksichtnahme.

„Nimm dir ein Herz und suche einen Spezialisten auf“, fuhr er fort. „Was sind das überhaupt für Symptome?“

Seine ruhige bestimmte Art zeigte Wirkung. Eva-Maria schnaubte sich die Nase. Weinerlich klang die Stimme aber immer noch.

„Vor zwei Wochen fing’s mit Unwohlsein an. Dann kam ein zunehmender Druck hinzu und bald danach ein ständiges Völlegefühl. Und immer rasende Schmerzen bis ins Kreuz.“

So typisch, wie sie ihm das klarzumachen suchte, waren die Symptome nicht. Jedenfalls nicht auf ihren Verdacht zutreffend. Eher schon ...

„Was hältst du von einem Schwangerschaftstest, Mädchen?“, versuchte er zu scherzen.

Seine Worte bewirkten Verblüffung, er hörte es an Evis stoßweise Atem. „Ganz ausgeschlossen, Hermann. Ich weiß noch sehr gut, wie es bei Tina war. Jetzt ist es völlig anders. Vorgestern hatte ich dann auch den irrsinnigen Stechschmerz im Unterleib. Die Anfälle kommen immer kürzer, vergangene Nacht zweimal. Vorhin auch wieder. Ich habe es vor Walter bisher verheimlicht, aber vorhin ging es nicht mehr.“

Dr. Mittler nagte an der Unterlippe. Der Stechschmerz fügte sich nicht ins Bild einer beginnenden Schwangerschaft. Er war schon wieder mehr ein Indiz für eine Ovarialkomplikation.

Eva-Maria war eine überaus vernünftige Frau, Übertreibungen irgendwelcher Art lagen ihr nicht.

„Das hört sich nicht gerade berückend an, ist andererseits aber noch lange kein Grund, auf der Stelle den Kopf zu verlieren. Wann warst du bei der letzten Vorsorgeuntersuchung?“

„Zwei Jahre nach Tinas Geburt.“

Er holte tief Atem, und er wünschte, dass sie es hörte und den darin enthaltenen Vorwurf. „Vor sechs Jahren also. Ziemlich unvernünftig, nur hilft uns das im Augenblick nicht weiter. Was hat dich auf den Gedanken gebracht, du könntest Krebs haben? Darauf bist du doch nicht einfach so gekommen.“

„Der blutige Ausfluss.“ Er merkte, dass sie sich genierte.

Fieberhaft überlegte er. Sie war sechsunddreißig, zwei Jahre älter als er. Für die Wechseljahre eigentlich viel zu jung. Zu Beginn des Klimakteriums traten gelegentlich unregelmäßige Blutungen auf.

„Seit wann beobachtest du das?“

„Seit der Stechschmerz auftritt – nein, schon zwei Tage eher. Das sind doch typische Anzeichen, nicht wahr? Du brauchst nichts zu beschönigen.“

„Anzeichen wofür, bitte?“

„Ovarialkarzinom!“

Sie warf es ihm an den Kopf wie ein letztinstanzliches Urteil, dem jede Revisionmöglichkeit versagt ist.

Er schluckte. „Was glaubst du, wie schwierig es selbst für einen Fachmann ist, eine solche Diagnose zu stellen ohne feingewebliche Untersuchung. Ich widerspreche dir darum ganz energisch. Nicht nur als Freund, sondern vor allem als Arzt. Und ich rate dir dringend zu einem Besuch beim Frauenarzt. Rede mit Walter, er wird deine Situation verstehen.“

„Ich bin mir nicht so sicher.“

„Seit wann habt ihr Geheimnisse voreinander? Du bildest dir da etwas ein. Und schlag dir den Gedanken an die Richtigkeit deiner Diagnose aus dem Kopf. Geh zum Arzt. Je eher dein Verdacht ausgeräumt ist, desto besser für dich.“

„Ich dachte, ich könnte zu euch kommen. Du hast mal von deinem Chef erzählt, und eine Bekannte war vor einem halben Jahr bei ihm in Behandlung.“

„Winter?“

„Ja. Ich will nicht zu Scharnitz. Und dann das Gerede, du kennst doch die Leute.“

„Wenn es um meine Gesundheit geht, wäre mir das herzlich gleichgültig. Ich werde mich bei Winter für einen Termin verwenden. Mir wäre aber wohler, du würdest dich mit Walter besprechen.“

„Er ruft nachher an. Er weiß, dass ich mit dir spreche, ich sagte es ihm. Um elf geht er in eine Konferenz von unbestimmter Dauer, und er will zuvor hören, was du mir rätst.“

„Spricht doch sehr für sein Verständnis. Ich höre nach, wie es mit einem Termin steht. Kann ich dich zu Hause erreichen?“

„Den ganzen Tag, Hermann.“

„Dann würde ich sagen, bis gleich. Dank dir für den Anruf, Evi. Und lass den Kopf nicht hängen. Wir biegen das schon irgendwie hin.“ Er bemühte sich, seine Stimme heiter klingen zu lassen.

„Ich weiß nicht!“, hauchte sie. „Tschüs!“

Sie legte auf.

Liebesheilung: 7 Arztromane großer Autoren

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