Читать книгу Liebesheilung: 7 Arztromane großer Autoren - A. F. Morland - Страница 16

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Er vermied es, ins Wohnzimmer zu gehen. Er gewann den Eindruck, dass es ihr unangenehm war, wenn er dort das ganze Diazeug auf dem Tisch sah.

Nach dem Abendessen jedoch war es nicht länger zu umgehen. Walter pflegte sich die Tagesschau und das Wetter anzusehen. Manchmal ließ er den Kasten auch bis zum bitteren Ende flimmern. Das war dann das Zeichen dafür, dass ihm an einer Unterhaltung nicht viel gelegen war. Das wiederum bedeutete, dass er irgendwelche Probleme hatte – berufliche Dinge, über die er noch nicht sprechen wollte.

Tina feilschte wie jeden Abend um eine Süßigkeit, einen Betthupfer. Und wie jeden Abend reduzierte sie ihren Wunsch auf einen Kaugummi, als die Eltern nicht bereit waren, in längere Verhandlungen einzutreten.

„Nichts zu machen. Vor dem Schlafengehen gibt’s nichts Süßes, auch keinen Kaugummi“, entschied Walter. „Jetzt ist Abmarsch.“ Und eingedenk des Tricks mit der unters Wasser gehaltenen Zahnbürste, hinter den er erst kürzlich gekommen war, fügte er hinzu: „Die Zähne putzen, und das gründlich. Ich kann feststellen, wenn du mogelst. Füße waschen und so weiter. Und das Licht aus.“

„Weiß ich ja!“, maulte Tina aufbegehrend und machte bei Vater und Mutter ihre Gute-Nacht-Runde.

Walter zog ins Wohnzimmer um. In der Tür blieb er stehen: „Das ist dumm! Sie hat doch morgen Schule.“

„Sie geht zu Gönneweins, das habe ich schon geregelt.“

„Das war ihr Vorschlag, oder? Weil sie einen Hund haben.“

„Vielleicht sollten wir uns auch einen anschaffen.“

„Das muss doch wohl nicht sofort sein? Ich habe nichts gegen Hunde, aber ich sehe sie lieber bei anderen. Kann ich dir in der Küche helfen?“

„Ist schon alles eingeräumt.“ Eva Maria schaltete den Spüler an und kam durchs Esszimmer.

Walter stand vor dem Wohnzimmertisch und blickte auf ihre Nachmittagsbeschäftigung. „Die ganzen Dias! Wo waren sie denn?“

„Im oberen Fach links. Bist du enttäuscht?“

„Warum sollte ich das sein?“

„Weil du sie rahmen wolltest.“

„Drei Winter lang und bin nie dazu gekommen. Finde ich prima, dass du dich darüber hergemacht hast. Was ist denn so alles drauf?“ Sie besaßen Bildstreifen, sogenannte Vier-Jahreszeiten-Filme, die ein ganzes Jahr in der Kamera hatten ausharren müssen, bis alle 36 Aufnahmen heruntergeknipst waren. Wenn diese Filme vom Entwickeln zurückkamen, sorgten sie meist für ziemliche Überraschungen, in jedem Fall aber für Rätselraten. Sie überlegten lange hin und her, wo diese und jene Aufnahme zustande gekommen war.

„Fast nur Urlaubsbilder“, sagte Eva-Maria zögernd.

„Die schau ich mir an.“ Er schob sich den Sessel zurecht und ließ die Rähmchen durch den Diabetrachter rutschen. Tina am Strand, im Schlauchboot, beim Muschelsammeln, Eva-Maria dabei, beim Minigolfspiel, vor der Hähnchenbraterei, beim Bummel durch Venedig, wo sich Touristen und Einheimische auf die Füße traten, auf der Fähre von Punta Sabbioni mit zerzaustem Haar, er während der Reifenpanne auf der Autostrada mit Schmutzflecken im Gesicht und auf dem Hemd, wie er versucht, den vollbepackten Wagen mit dem Wagenheber hochzuwinden. Sie alle drei gemeinsam beim Eisessen; ein Campingnachbar hatte sich erboten, die Kamera zweimal zu betätigen.

Walter schob eines der durchgerutschten Dias noch einmal in den Betrachter. Es zeigte seine Frau beim Ausbreiten der Badelaken am Strand und kauernd Tina, die gerade die Badetasche mit Sand füllt.

Er schmunzelte, die Szene damals war ihm wieder gegenwärtig. Bloß hatte er sie da nicht besonders lustig gefunden. Die Cremedose und die Plastikflaschen mit der Sonnenschutzmilch waren vom fleißigen Gebrauch schon ziemlich klebrig gewesen; der Sand hatte überall gehaftet und eine ziemliche Schweinerei gemacht.

Eva-Maria blickte ihm über die Schulter. „Besonders vorteilhaft sehe ich aber nicht aus. Da waren schon zwei Wochen Urlaub um.“

Er lächelte vor sich hin. Sie meinte die zwei oder drei überflüssigen Pfunde auf Bauch und Hüften, die sie scherzhaft auch schon „ihre Rettungsringe“ genannt hatte.

Welche Frau war nicht irgendwo ein klein wenig eitel, und welche huldigte nicht der Ansicht, für einen Zweiteiler hätte sie eigentlich noch nicht die richtige Figur?

Mit Aufmerksamkeit registrierte er, dass sich Eva-Maria mit ihrem Aussehen von vor drei Jahren auseinandersetzte. Auch sie war nicht frei von Eitelkeit.

„Mir gefällt’s“, brummte er gutgelaunt.

„Dieser alberne Bikini. Den hast du gekauft.“

„Du hast dich nicht getraut, in das Geschäft zu gehen. Ich schon. Er gefiel mir in der Auslage, und er gefällt mir mit Inhalt immer noch.“

Er spürte, dass sie sich von der Sessellehne abstützte. Sie ging zum Sofa, streifte die Schuhe ab, zog die Beine an und kuschelte sich in die Ecke. „Wie lange noch?“

Die besondere Betonung überhörte er nicht. „Mach dir doch keine Gedanken. Du gefällst mir immer. Da fällt mir ein, dass wir für dieses Jahr noch nicht fest gebucht haben. Die Vormerkung müsste im Schreibtisch liegen.“

„Überstürze nichts.“ Sie drehte nervös ihren Ehering. „Ich fühle, dass ich nicht mehr in Urlaub fahre.“

Sie kam einfach nicht von ihrer fixen Vorstellung weg! Das schmerzte ihn.

„So ein Unsinn!“, erwiderte er grober, als es seine Absicht war. „Natürlich fahren wir. Alle zusammen. An die Adria, wie wir es schon im vorigen Jahr besprochen haben.“

Sie waren schon Italien-Fans gewesen, als sie erst verlobt waren. Sie machten die Hochzeitsreise nach Riccione. Auch später kamen sie alle zwei, drei Jahre wieder. Das nette Familienhotel in der Viale Goldoni hatte es ihnen angetan.

Dazwischen waren sie auch in anderen Urlaubsländern gewesen. Bis sie dann das Haus kauften. Da war es erst mal aus mit dem Urlaub. Dann kam das Kind, das sie sich so sehnlich gewünscht hatten.

Als Tina vier war, wurde Italien wieder ihr Urlaubsland und die Adria ihre bevorzugte Gegend. Weil der Strand flach war. Ideal für Kinder. Und ein guter Ausgangsort für Ausflüge ins Hinterland nach Urbino, San Marino, Ravenna, ins Po und Etschdelta, nach dem zauberhaften, von Touristen nur wenig belästigten Chioggia, einst Konkurrentin von Venedig, bis es von der mächtigen Seerepublik abgehängt und kaltgestellt wurde, Venedig selbst, das nahe Jugoslawien mit dem Gestüt von Lipizza und der gewaltigen Höhle von Postojna, Triest und das Zauberschloss Miramar.

„Wenigstens zehn Filme nehme ich mit“, sagte Walter entschlossen. „Und die bleiben nicht wieder ein paar Jahre liegen.“ Er blickte zu ihr hin. „Gleich morgen mache ich die Buchung fest, wenn wir zurück sind. Willst du die Dias auch mal ...?“

Er schob ihr den Betrachter hin, ganz vorsichtig, damit die weißglühenden Drähte der Birne nicht rissen oder zusammenschlugen.

„Ich hab’ sie alle gesehen“, wehrte sie ab.

Was sie damit meinte, entdeckte er, als er die Dias in Kassetten stecken wollte. Eva-Maria hatte alle Dias durchlaufen lassen, aber die Kassetten dann falsch eingeordnet.

Er erklärte es sich nicht bloß mit einer nostalgischen Anwandlung. Sie hatte sich ihre Ehejahre bildhaft vorgeführt. Szenen, Schnappschüsse, sicher nicht typisch für ihre Ehe, schon eher unbedeutend, aber Erinnerungen an gemeinsame Erlebnisse und Begebenheiten.

Nun verstand er noch viel mehr, warum sie derart niedergeschlagen war, geradezu deprimiert. Erst diese verrückte Selbstdiagnose aufgrund eines klugen Buches, und dann noch die Dias, die ihr Leben Revue passieren ließen.

„War das nötig?“, fragte er besorgt. „Du machst dir das Herz doch nur schwer.“

Sie knüllte einen Kissenzipfel zwischen den fast weißen Fingern zusammen. „Ich wollte noch einmal eine Reise mit dir und Tina machen – eine einzige große Reise. Sie war wunderschön.“

Er widersprach ihr nicht. In ihrer jetzigen Verfassung regte sie jede Entgegnung auf und bestätigte sie womöglich in ihrer vorgefassten Meinung.

Ich wünschte, wir hätten schon morgen Abend, und sie weiß, dass sie sich völlig grundlos Sorgen und kummervolle Gedanken gemacht hat, sagte sich Walter.

Er räumte die Dias und nicht benötigten Rähmchen in den Schrank, sortierte die Filmabschnitte in die Bildtaschen und wollte sie zum Abfalleimer in der Küche tragen – da passierte das Malheur!

Er übersah das Kabel des noch eingeschalteten Diabetrachters. Das Gerät wurde mit einem heftigen Ruck über den Tisch gerissen, blieb auf der Platte stehen, aber mit einem dumpfen Knallgeräusch gab die Birne ihren Geist auf.

„Vierzig Stunden hat sie bestimmt auf dem Buckel“, sagte er etwas ärgerlich und erschrocken. „Eine neue war über kurz oder lang fällig.“

Da erst sah er die weit aufgerissenen Augen von Eva-Maria. Böses schwante ihm.

„So verlöscht mein Leben wohl auch bald!“, stieß sie schließlich hervor.

„So ein Unsinn! Bloß weil die dumme Birne drauf geht! Morgen kaufe ich eine neue und dreh sie rein – fertig ist die Laube. Du kannst doch ein Leben nicht mit einer Birne vergleichen!“

„Doch, denn beide verlöschen einmal, Walter.“ Sie beobachtete ihn, wie er den Betrachter öffnete, mit dem Taschentuch den heißen Birnensockel umwickelte und die geschwärzte Birne herausdrehte. „Du kannst die Birne ersetzen. Dann ist es eine neue, nicht mehr die alte. So wirst du mich sicher auch ersetzen.“

„Auf welche absurden Ideen kommst du denn noch?“ Er war derart verblüfft, dass er die eingewickelte Birne festhielt, bis er durch das Taschentuch die Hitze unangenehm zu spüren bekam. „Mist!“ Hastig brachte er sie in die Küche und legte sie auf die Arbeitsplatte.

Eva-Maria befand sich in einer leicht gereizten Stimmung, als er zurückkam. „Was ist daran absurd? Ein Leben verlöscht – wie diese Birne, und wird durch ein anderes ersetzt.“

„Spekuliere nicht darauf, dass ich falsche Rücksicht nehme und dir zustimme. So ein – ein Blödsinn, entschuldige, aber was anderes fällt mir dazu nicht ein! Du übertriffst ja noch den Kentenich. Welche Beziehung besteht zwischen einem Leben und einer Birne, einem Wesen aus Fleisch und Blut und einer Sache, einem Nutzgegenstand?“

„Du siehst es zu nüchtern. Für mich ist es ein Zeichen.“

„Schönes Zeichen!“, brach es aus ihm heraus. „Mit anderen Worten ist dir also jemand aufs Kabel getreten?“

Ihre Augen füllten sich mit Tränen. „Du – du ziehst das so ins Banale! Du verstehst mich überhaupt nicht!“

Er setzte sich zu ihr und strich ihr mit einer liebevollen Geste eine Haarsträhne aus dem Gesicht.

„Mehr, als du glaubst. Ich merke, dass du Angst hast, aber ich muss dir widersprechen, wenn du Stuss redest. Die alte Birne, die hat gar nichts zu bedeuten. Wenn wir in allem ein besonderes Zeichen sehen wollten, was uns jeden Tag begegnet, dann wär’s schlecht um uns bestellt. Ein Rückfall in die Zeit des finstersten Geister und Dämonenglaubens. Kopf hoch, Schatz, die Aufklärung hat längst stattgefunden! Du, im Keller haben wir noch einen guten Wein. Mir ist danach zumute. Soll ich ihn aufmachen? Ich spül’ den Ärger mit Kentenich runter und du deine Furcht.“

Sie fasste seine Hand und hielt sie mit fast schmerzhaftem Druck fest. „Keinen Wein. Aber einen Spaziergang würde ich machen.“ Es war fast eine bange Frage.

„Fabelhafter Einfall. Lassen wir den Wein bis morgen Abend eben in Ruhe.“ Er half ihr hoch.

Die Tür zur Terrasse stand einen Spalt auf. Milde Abendluft wehte herein, vermischt mit dem Geruch frisch gemähten Grases vom Rasen des Nachbarn.

„Und deine Nachrichten?“, fragte Eva-Maria plötzlich.

„Die Welt geht nicht unter, wenn ich sie nicht sehe“, sagte er belustigt. „Und Kentenichs Wut auf mich werden sie nicht bringen.“

Er holte ihr die Jacke und sich einen Pullover und ging nach oben, um Tina zu unterrichten, dass sie noch für zehn Minuten aus dem Haus gingen.

Das Licht brannte natürlich, aber die Kleine stellte sich schlafend.

„Hier wird nicht geschummelt!“, sagte er mit gespieltem Ernst. „Mami und ich machen noch einen Spaziergang, und du schläfst jetzt.“

„Ich hab’ aber Angst!“ Blitzschnell setzte sie sich auf.

„Stimmt gar nicht, du hast gelesen. Das Buch schaut unterm Kissen vor. Also gut, fünf Minuten noch, aber dann wird das Licht ausgemacht.“

„Die Mami fährt morgen weg. Nimmt sie mich mit?“

„Du gehst zur Schule und danach zum Hund von Gönneweins, basta.“

„Mami hat gepetzt.“

„Hat sie nicht. Ich kenne Gönneweins, ich kenne den Hund, und vor allem kenne ich dich, Tochter. So, und jetzt bist du brav und machst keinen Ärger.“ Er gab ihr einen Kuss und ging hinunter, bevor sie eine endlose Debatte anzetteln konnte.

Als sie das Haus abgeschlossen und noch nicht einmal die Grundstücksecke erreicht hatten, erklang aus Tinas Zimmer herausfordernd das papierene Quäken des geblasenen Kammes.

„Hoffentlich ist das Cellophan bald alle“, meinte er seufzend.

„Deine Tochter“, erklärte Eva-Maria.

„Bin ich tatsächlich so anstrengend?“

„Manchmal schon.“ Sie hakte sich bei ihm ein, und langsam wanderten sie die Straße entlang, bis die Häuser endeten und unbebautes Feld begann.

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