Читать книгу Liebesheilung: 7 Arztromane großer Autoren - A. F. Morland - Страница 15

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Die Verkäuferin im Blumengeschäft stellte einen Strauß nach seinen Anweisungen zusammen – Levkojen, gelbe und blaue Iris, dazu ein paar Halme Ziergras.

„Zwanzig Mark?“, fragte sie unsicher.

„Der Preis ist unwesentlich.“

Sie steckte noch ein paar Blumen hinzu und verschwand nach hinten, um das Gebinde einzukordeln.

Sie werden ihr gefallen, überlegte Walter Becker. Ein eigenwilliger Strauß trifft immer ihren Geschmack.

Rosen, wie sie ihm die Verkäuferin erst offeriert hatte, waren entweder eine Weltanschauung oder Ausdruck schlechten Gewissens. Und Nelken waren eine Verlegenheitslösung. Wem gar nichts einfiel, der nahm Nelken.

Eva-Maria verabscheute Einfallslosigkeit.

Die Verkäuferin brachte den Strauß in Cellophan gehüllt, er bezahlte und verstaute die Blumen sorgfältig auf der Rückbank.

Während er den Wagen durch den Feierabendverkehr über die Zoobrücke lenkte, überlegte er, wie er ihr auf unverfängliche Art beibrachte, dass er sie morgen nach Bonn in die Klinik fuhr.

Am besten war, er erzählte ihr die Wahrheit. Die halbe Wahrheit! Den Ärger mit dem engstirnigen Querulanten Kentenich und seine Absicht, durch sein Fernbleiben morgen einen Krach zu provozieren.

Diese Lösung fand er geschickt. Eva-Maria nahm immer regen Anteil an seinem Berufsleben; sie würde sich über die neue Situation Gedanken machen und war von ihrem Problem abgelenkt.

Das war genau das, was Hermann als wünschenswert empfohlen hatte. Weg von den trüben Gedanken, Aufmunterung, Ablenkung mit allen Mitteln, damit sie sich nicht noch mehr in ihre Idee verrannte und am Ende Gemütszustände bekam!

Der allabendliche unvermeidliche Stau an der Autobahnabfahrt nervte ihn nach langer Zeit mal wieder.

Es zog ihn nach Hause. Nicht, damit Eva-Maria die kleine Familie vollzählig um sich versammelt sah, sondern weil er das Bedürfnis hatte, bei ihr zu sein, ihre Nähe zu spüren.

Und auch, um ihren Kummer mitzutragen, wenn sie von sich aus darauf zu sprechen kam. Sie sollte wissen, dass sie immer auf ihn zählen konnte, dass er zu ihr hielt.

Es war auch eine kleine Wiedergutmachung für die ungezählten Male, in denen sie ihm beigestanden hatte, wenn er schwerwiegende Entscheidungen zu treffen hatte und nachts stundenlang wach lag.

Sie war ihm nicht bloß Frau, eine gute Frau, sie war noch mehr Freund und Kamerad.

Die roten Ampelphasen kamen ihm doppelt so lang vor wie sonst, die Fahrer vor ihm besonders saumselig, trottelig und verschlafen. Er hupte aufgebracht den Vordermann an und wurde sich bewusst, dass er auf diese Weise den seelischen Druck nicht los wurde, sich im Gegenteil in einen aggressiven Zustand versetzte und bestimmt nicht die Hilfe für Eva-Maria war, wie sie Hermann vorschwebte.

Ganz ruhig, sagte er sich. Ich komme wie immer nach Hause, nicht schneller, nicht langsamer.

Dennoch kam es ihm wie eine kleine Ewigkeit vor, bis er sich durch die Stadt gekämpft hatte und in seine Straße einbog.

Zum wiederholten Mal fragte er sich, warum Eva nicht ans Telefon gegangen war. Aus Furcht, sie würde sich verraten?

Zumindest war sie jetzt da, das Küchenfenster war gekippt. Wenn sie das Haus verließ, schloss sie zuvor sorgfältig die Fenster.

Vor der Garage lag Tinas Fahrrad und blockierte die Einfahrt.

Er räumte das Hindernis beiseite und ließ das Tor hochschwingen.

Das dumpfe Rollen war immer im Haus zu hören und für Tina und Eva-Maria das Signal für sein Kommen. Er setzte den Wagen hinein und fand, dass die Garage mal wieder dringend aufgeräumt gehörte.

Später, nahm er sich vor. Am Wochenende vielleicht. Oder am darauffolgenden.

Seine beiden Damen standen in der Haustür, als er herauskam und etwas linkisch den Strauß hielt.

Blitzte nicht Argwohn in Eva-Marias Augen auf? War da nicht Misstrauen und Unsicherheit in ihren Blicken?

Meine Schuld!, schoss es ihm durch den Kopf. Wann habe ich ihr auch in den letzten Jahren ohne besonderen Anlass Blumen mitgebracht? Doch nie oder fast nie! Ich kann’s an einer Hand abzählen. Zum Geburtstag ja. Den Hochzeitstag hätte ich vergessen, wenn mich die treue Olga nicht daran erinnert hätte!

Er verspürte fast so etwas wie ein schlechtes Gewissen und lächelte angestrengt.

Klein Tina machte kugelrunde Augen und starrte fasziniert auf den Strauß unter dem Cellophanpapier.

„Ist das eine hübsche Schleife“, beurteilte sie. „Darf ich die haben?“

Die Verkäuferin hatte das Papier oben mit einer rosa Zierkordel zugebunden und die Enden kunstvoll wie Kringellocken gedreht.

Er war fast etwas gekränkt, dass die alberne Schleife mehr Anklang fand als der Strauß. Aber dann lachte er. Gar zu begehrlich blickten Tinas Augen.

Außerdem konnten Kinder so gut wie alles gebrauchen. Es lag dann zwar hinterher irgendwo herum und wurde vielleicht noch ein oder zweimal zum Spielen hervorgekramt, wichtig war aber im ersten Augenblick das Gefühl, es zu besitzen, zu haben.

„Blumen? Für mich?“, fragte Eva-Maria zögernd, während sie den Strauß entgegennahm.

Sekundenlang war nur das Knistern des Cellophans zu hören.

Er sah ihr an, wie angestrengt sie überlegte, ob sie nicht einen wichtigen Familientag reinweg vergessen hatte. Schlagartig kehrte der Argwohn in ihre Augen zurück.

Sie denkt nach, ob ich etwas weiß, etwas ahne!

„Natürlich für dich, mein Schatz!“ Er lachte so unbekümmert, wie er konnte, und küsste sie. Es war ihm herzlich gleichgültig, dass der Nachbar herüberblickte, der gerade seinen Rasenmäher in den Vorgarten schob.

„Tag, Walter!“ Er merkte, dass sie sich seiner zärtlichen Begrüßung entzog. „Ich weiß wirklich nicht ...“

„Kannst du auch nicht wissen“, sagte er schnell. „Ich bin in guter Stimmung, und ich hoffe, dass ich deinen Geschmack getroffen habe.“

Sie suchte in seinem Gesicht nach irgendwelchen Anzeichen, die ihr den Grund für die Blumen und seine Fröhlichkeit verrieten.

„Er ist wunderschön, doch, Walter. Herzlichen Dank! Dann hat es heute also keinen Ärger für dich gegeben?“

„Massenhaft, aber der Kentenich ärgert sich noch viel mehr, und das freut mich.“ Während sie hineingingen, hob er den Aktenkoffer: „Kommt mir vor, als sei er einen Zentner leichter. Olga durfte seinen Einsparungsplan in den Papierkorb werfen.“

„Das gibt Ärger. Kentenich ist nachtragend.“

„Natürlich. Hoffentlich platzt er. Wenn er noch ein Jahr in der Firma regiert, sind wir auf den Hund gekommen. Begreift einfach gewisse Entwicklungen nicht. Hat keine Ahnung, welchen Trend der Markt vorzeichnet. Na ja, entweder schießt er sich selber ab oder er hat die Firma auf dem Gewissen. Ich hoffe, der erste Fall tritt ein.“

Er stellte den schwarzen Koffer an die Seite, hängte die Jacke an die Garderobe und band die Krawatte ab.

Im Spiegel sah er ihr Gesicht mit dem zweifelnden Ausdruck.

„Hast du noch mal Schmerzen gehabt?“, fragte er. „Du warst bei Scharnitz, oder?“

„Ich geh’ doch nicht zu ihm. Wie kommst du bloß darauf?“

„Heute Morgen habe ich angerufen, du bist aber nicht an den Apparat gegangen. Da habe ich halt gedacht, dass ...“ Sein Blick fiel ins Wohnzimmer. Auf dem Tisch stand der Diabetrachter, eingerahmt von Schere, Bildtaschen, Diastreifen und Rähmchen.

„Das muss ich überhört haben. Vielleicht war ich in der Küche. Es tut mir leid, Walter. Es – es ist meine Schuld. Du hast gesagt, dass du anrufst, aber ich hab’s total vergessen.“

Sie schwindelte, er spürte es. Sie schwindelte rührend unbeholfen.

Wahrscheinlich hat sie davor die medizinischen Fachbücher aus dem Regal gewälzt, überlegte er, und dann im Zustand völliger Niedergeschlagenheit Hermann angerufen. Als ich es klingeln ließ, hat sie einfach nicht abgenommen. Aus Angst, ich könnte etwas merken, könnte ihrer Stimme anhören, dass einiges mehr als nur die Schmerzattacken ihr Kummer bereiten. Sie wusste ungefähr die Zeit, wann ich anrufen würde!

Sollte er nun einfach über die Sache hinweggehen?

Sie musste das als seltsam, geradezu unnatürlich empfinden, denn er machte sich immer große Sorgen, wenn in seiner kleinen Familie ein Krankheitsfall auftrat. Sie würde hellhörig werden, wenn er nicht fragte. Und misstrauisch war sie schon.

„Aber Hermann hast du doch angerufen?“

„Ja.“ Sie sagte es dünn, geradezu kläglich. Ihm entging nicht, dass ihr Tränen in die Augen schossen. Mit einer heftigen Bewegung wandte sie sich ab, als schäme sie sich vor ihm und vor Tina.

„Na, na, was ist denn?“ Ganz behutsam fasste er sie an den Schultern, drehte sie zu sich herum und nahm sie in die Arme. Er spürte, dass sie zitterte. „Was hat er gemeint?“

Der Blumenstrauß war im Wege, die Umhüllung knisterte.

„Och, immer schmust ihr“, maulte Tina. „Krieg’ ich jetzt die Schleife oder nicht?“

„Später, nicht vor dem Kind“, mahnte Eva-Maria ihren Mann leise. Sie nahm sich sehr zusammen.

Walter gab sie frei.

Sie holte eine Vase aus dem Wohnzimmerschrank und trug sie mit den Blumen in die Küche.

Ich denke nicht, dass ich mich verraten habe, überlegte er. Misstrauisch ist sie nicht mehr, aber in einer erbärmlichen Verfassung. Da hat Hermann nicht übertrieben!

Er ging ins kleine Esszimmer. Wie jeden Abend, wenn er von der Arbeit heimkam, hatten ihm seine Mädchen, wie er sie nannte, die Thermoskanne voll Kaffee bereitgestellt. Eva-Maria machte den Kaffee, Tina kümmerte sich ums Geschirr und trug immer Tasse, Untertasse und Löffel heran, alles schön einzeln. Die Zuckerdose nicht zu vergessen. Gelegentlich war dann auch eine dezente Zuckerspur zwischen Küche und Esszimmer gestreut.

Er hörte Tina in der Küche plappern. Sie konnte es kaum erwarten, die rosa Schleife zu bekommen. Das Cellophanpapier knisterte.

„Nicht wegwerfen!“, rief die Kleine ganz aufgebracht. „Das kann ich auch gebrauchen.“

„Bitte, Tina!“ Evas Stimme klang vorwurfsvoll. „Und nachher liegt es vor dem Haus. Ist das Fahrrad weggeräumt?“

„Hat der Papi schon gemacht.“ Kleine, eilige Schritte verließen die Küche, begleitet vom Knistern des Papiers. Freudestrahlend kam sie ins Wohnzimmer, hielt sich eitel die rosa Zierkordel aufs Haar und klemmte das Cellophan unterm Arm fest wie ein kostbares Beutestück, das sie nie mehr herzugeben bereit war.

„Gefällt’s dir?“, fragte sie und drehte sich einmal.

„Gefällt mir sehr gut. Aber gar nicht gefällt mir, dass fast jeden Abend das Fahrrad vor der Garage liegt, mein Kleines. Stell es auf den Ständer oder schiebe es ans Haus, sonst müssen wir es mal für ein paar Tage wegschließen. Das möchtest du doch sicher nicht, oder?“ Prüfend blickte sie ihn an. „Du hast mir ja auch nicht die Hand gegeben!“ Sie zog eine Schnute.

„Dann holen wir das aber ganz schnell nach. Und du wirfst das Fahrrad nicht mehr hin.“ Er machte einen großen Schritt auf sie zu und fing sie blitzschnell ein.

Sie quiekte, während er ihr einen herzhaften Kuss auf die Backe drückte.

Als er sie losließ, sagte sie voll kindlicher Entrüstung: „Mann, jetzt hast du das ganze Papier verkrumpelt!“

„Dann streifen wir’s halt wieder glatt.“ Er hockte sich auf den Boden und strich das Cellophan aus. Kritisch schaute sie ihm zu.

Als er ihr es hinhielt, meinte sie: „Vorher war’s aber viel schöner.“

Mit Schleife und Papier sauste sie hinaus und trampelte die Treppe zum Kinderzimmer hoch.

Walter seufzte verhalten. Acht war sie und hatte das Temperament von zwei zehnjährigen Jungen. Manchmal veranstaltete sie einen ziemlichen Umtrieb. Wenn ihm der Kragen platzen wollte, dann sagte er sich immer, dass mit sechzehn wahrscheinlich ganz andere Umtriebe folgten, denen er als besorgter Vater wohl nicht mehr so ruhig zusah. Tja, und irgendwann ging sie sicher aus dem Haus. Es war ja modern, dass sich die Mädchen ein eigenes Zimmer nahmen, kaum dass sie richtig trocken hinter den Ohren waren.

Na ja, räumte er ein, immer ist übertrieben. Manchmal platzt mir halt doch der Kragen!

Er hörte Eva-Maria die Blumenstängel nachschneiden, der Wasserhahn lief.

Schließlich brachte sie die Vase herein und setzte sie auf den Tisch.

„Es sind wirklich schöne Blumen, Walter.“ Sie ordnete zwei Stängel anders und setzte sich.

„Freut mich, dass du Spaß daran hast. – Was sagt Hermann?“ Er goss sich Kaffee aus und löffelte drei Portionen Zucker hinein. „Tina ist oben, du kannst reden.“

Sie blickte durch ihn hindurch wie durch Glas. „Walter, ich muss dir etwas sagen – was Schlimmes. Ich … Sie bewegte nervös die Finger, suchte nach Worten.

„Ja? Sag es.“ Er hörte zu rühren auf.

„Ich … ich glaube, ich habe Krebs!“ Ihre Augen waren groß und weit, ihre Stimme ganz leise und voller Not und Verzweiflung.

In die Stille tickte die Wanduhr.

„Krebs? Sagt das Hermann? Ist er verrückt?“, brauste er etwas auf.

Hermann hatte ihn vorgewarnt. Dennoch traf es ihn wie ein Schlag so, wie sie es sagte. Sie war felsenfest überzeugt.

„Das ist doch ganz ausgeschlossen“, fuhr er ruhiger fort. „Wie solltest du ...?“ Er schüttelte den Kopf.

„Ich bin mir ziemlich sicher – doch, Walter!“ Ihre Stimme war ohne Kraft.

„Wieso bist du dir sicher? Wer hat dich untersucht?“

„Niemand, aber die Diagnose – ich hab’s in einem Buch gefunden.“

„Buch, Buch!“, sagte er geringschätzig. „Papier ist geduldig. Und überhaupt, wo ist eine fix und fertige Diagnose gedruckt?“

„Die Symptome sind eindeutig.“ Ihre Stimme war kaum zu verstehen.

Eva-Maria saß zusammengesunken auf dem Stuhl. Wie ein Häufchen Elend! Hilfsbedürftig, wie Walter sie nie zuvor sah.

Er rückte den Stuhl herum und fasste behutsam nach ihren Händen. „Jetzt vergessen wir mal Symptome und Buch und Hermann, und du erzählst mir alles, ja? Wo gibt’s denn das, dass man ohne Untersuchung sagt, man glaubt, Krebs zu haben. Du bist kein Arzt.“

„Aber Hermann.“

„Der hat dich nicht untersucht, und am Telefon weißt du, ich halte ihn für einen sehr gewissenhaften Medizinmann, der seinen Beruf ernst nimmt und vor allem liebt. Er stellt doch keine telefonische Diagnose.“

Ihr abwesender Blick kehrte zu ihm zurück. „Es ist doch alles so eindeutig.“

„In der Medizin ist gar nichts eindeutig, so lange jedenfalls nicht, bis man umständliche Untersuchungen gemacht hat und das Ergebnis in der Hand hält. Das hat Hermann immer gesagt, wenn wir mal auf das Thema Krankheiten und Krankenhaus zu sprechen kamen, erinnere dich bitte. Wie kommst du nur auf eine derart absurde Idee?“

Ihre Hände zuckten. Er fasste sie fester und barg sie in den seinen wie kleine verschüchterte Vögel.

„Du bist ein sehr kritisches Mädchen, und das mag ich doch so an dir. Meinst du nicht, dass du sagen wir mal falsche Schlüsse gezogen hast? Schau, wir sind beide keine Mediziner, wir können so etwas gar nicht wissen, dazu fehlen uns alle Voraussetzungen. Du bist krank, du hast etwas, ich hab’s heute Morgen gesehen, und es wäre besser gewesen, wenn du mir gleich etwas gesagt hättest, statt dich damit herumzuquälen, aber da redet man doch nicht gleich von na ja. Du hast jetzt Angst, ich seh’ dir’s an, aber stimmst du mir nicht zu?“

Ihr Blick tat ihm weh.

„Du siehst das zu einfach, du hast meine Schmerzen nicht.“

„Ich mach’ dir doch keine Vorwürfe, mein Schatz. Du gehst zu einer Untersuchung, und dann siehst du, dass deine Angst unbegründet ist, abgemacht?“

„Morgen.“

Himmel, er musste sich immer noch verstellen! Er fühlte sich unwohl und hielt sein Verhalten für unfair. Aber er hatte es Hermann Mittler versprochen, Ahnungslosigkeit und Unbefangenheit zu zeigen. Eine sehr anstrengende Therapie, wahrhaftig!

„Was ist morgen?“

„Hermann hat mir einen Termin besorgt. Um elf muss ich in Bonn sein.“

Sein Herz klopfte zum Zerspringen. Wurde er rot, schwitzte er? Jetzt musste sie doch etwas merken!

Er zwang sich zu einem unbekümmerten Lächeln, gerade so viel, dass sie es nicht als kränkend oder verständnislos auffassen konnte. „Da fahre ich dich rüber. Ist doch seltsam ...!“

„Du kannst jetzt nicht aus der Firma weg. Was ist seltsam?“

„Und ob ich kann, mein Schatz! Ich habe der guten Olga heute nämlich eröffnet, dass ich morgen durch Abwesenheit glänze. Der Kentenich hat heute nicht die Zustimmung der Abteilungen zu seinem Einsparungsplan gekriegt. Jetzt will er uns morgen wieder sehen; er meint, er könnte uns unsere Einwilligung abpressen. Als er den Termin für morgen festsetzte, hatte ich eine verrückte Idee. Ich geh’ nicht hin, ich geh’ erst gar nicht in die Firma. Das gibt einen Krach, wie wir ihn in zehn Jahren nicht hatten, und am aufgewirbelten Staub verschluckt er sich hoffentlich.“

„Walter, das kannst du nicht machen!“, sagte sie besorgt, fast eine Spur entsetzt. „Das lässt sich die Chefetage nicht gefallen.“

„Genau das habe ich mir auch überlegt. Entweder schlafen sie dann dort weiter, und dann ist es ziemlich egal, ob sie mich rauswerfen oder ob ich den siegreichen Untergang noch mitmachen darf. Oder sie fragen sich, was mich in Teufels Namen gebissen hat. Ich baue darauf, dass es ein ziemliches Getuschel gibt. Notfalls marschiere ich rauf und legte meine Pläne und Absichten in Kurzform dar.“

„Bitte, tu’s nicht, Walter!“

„Doch. Ich bin da anderer Meinung. Erinnerst du dich an den Film, den wir mal gesehen haben? Das ist schon eine Ewigkeit her, mir fällt auch der Titel nicht ein. Aber die Kernszene habe ich im Gedächtnis. Und an die dachte ich, als ich mir das Geschwafel heute anhören musste.“

„Eine Szene aus einem Film?“, meinte sie. Es hörte sich an, als würde sie fragen, ob er noch bei Sinnen war.

Er lachte. „Du guckst mich an wie einen Traumtänzer, wirklich! Zugegeben, Film das ist etwas hochgestochen, manchmal verkitscht und mit Schmalz dran. Aber irgendwo enthält so ein Streifen für ein paar Leute auch nützliche Hinweise, ein paar Körnchen Wahrheit oder sonst etwas. Für mich war’s diese verrückte, eigentlich sehr unrealistische Szene. Der englische Außenminister weilt zu einem Treffen mit westlichen und östlichen Kollegen in Genf, macht einen Vorschlag zur Beseitigung der weltweiten Spannungen und erntet schroffe Ablehnung. Man vertagt sich. Der gute Mann bummelt anderntags durch die Stadt, er hat Zeit, die nächste Sitzung ist auf fünf Uhr nachmittags angesetzt. Er hängt seine Leibwächter ab, klettert in ein Ruderboot und freundet sich mit dem Besitzer des Bootes an, einem Jungen, zehn oder zwölf oder vierzehn, ich weiß es nicht mehr. Man rudert auf den See, und durch ein kleines Malheur gehen die Ruder verloren. Der Außenminister lebt in tausend Nöten, der Sitzungsbeginn rückt näher, schließlich resigniert er. Es ist nicht mehr zu schaffen. Und warum soll er sich eilen? Sein Vorschlag ist ja schon abgelehnt. Die zwei Bootsinsassen fischen nach einiger Zeit die Ruder heraus und Pullen ans Ufer zurück, der Außenminister zockelt zurück zum Sitz der englischen Delegation. Dort erfährt er, dass sein Vorschlag angenommen wurde bei einer fehlenden Stimme, seiner eigenen nämlich. Was war passiert? Sein unfreiwilliges Fernbleiben von der Sitzung legte man als Verbitterung über die Ablehnung seines Vorschlages aus, man besann sich und fand, dass der Vorschlag so übel nicht war und Prestigedenken irgendwo enden muss. Ich bin nicht größenwahnsinnig und auch nicht der englische Außenminister, aber einen Versuch ist es wert, meinst du nicht?“

„Du hast vielleicht Einfälle! Jetzt, wo du’s sagst, erinnere ich mich an den Film. – Walter, das geht nicht, du kannst die Firma nicht vor den Kopf stoßen.“

„Den Kentenich soll es treffen und ein paar andere. Damit bin ich schon zufrieden. Was ist das denn?“ Er legte lauschend den Kopf etwas schief.

Aus dem Obergeschoss erklangen abscheuliche Geräusche. Mit Mühe war darin eine Melodie zu erkennen.

Schließlich ordneten sich die Misstöne, und dann war zweifelsfrei zu hören, dass Tina von dem Cellophanpapier etwas über einen Kamm gespannt hatte und auf dem Haarpflegeinstrument blies.

Walter lachte lausbübisch. „Stört es dich? Dann schicke ich sie in die übernächste Straße und schärfe ihr vorher ein, unter keinen Umständen zu verraten, wie sie heißt und wo sie wohnt.“ Er schloss die Tür. Der Lärm blieb draußen; zumindest störte das papierene Quäken nicht mehr. „Und da ich mir also für morgen Urlaub gegeben habe, kannst du über mich verfügen.“ Sein Gesicht wurde ernst, seine Augen warben um Vertrauen. „Ist doch ganz verständlich, dass du in Sorge bist und dir wegen dieser – dieser unwissenschaftlichen Diagnose schlimme Gedanken machst. Ich komme mit, um dich auf bessere Ideen zu bringen. Das wird mir schon gelingen.“

Sie war nicht davon überzeugt. Andererseits graute ihr vor der Fahrt, vor dem, was sie wohl zu hören bekam. Es war vielleicht doch gut, wenn Walter sie begleitete. Seine Nähe wirkte beruhigend, und seine Fürsorge tat ihr wohl.

Die Angst war immer noch da. Mit einem mal aber war sie nicht mehr so erdrückend gewaltig, so entsetzlich groß.

Liebesheilung: 7 Arztromane großer Autoren

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