Читать книгу Sieben Krimis auf einen Streich: Kriminalroman-Paket - A. F. Morland - Страница 24
Kapitel 9
ОглавлениеEtwas abrupt brachte Jutta ihren Escort zum Halten. Ihr Blick streifte den braunen Ford Granada, der vor der Garageneinfahrt stand, und blieb dann auf einem gedrungenen Mann haften, an dem ihr zuerst das schlecht sitzende Jackett auffiel. Der Mann lehnte am hinteren Kotflügel des Granada und sah ihr ruhig entgegen. Als sie ausstieg und ihre Einkäufe zusammensuchte, die sie wie üblich wahllos auf dem Rücksitz abgelegt hatte, hörte sie seine Schritte auf dem Pflaster des Gehwegs.
Sie hatte ihre Nervosität bekämpft und war immer wieder an den Schaufenstern der Geschäfte im Einkaufszentrum entlanggegangen, hatte Stoffe befühlt und Kleider draußen auf den Ständern betrachtet. Allein zu Hause, das wusste sie, wäre sie durchgedreht.
Aber jetzt war es soweit.
Die Schritte blieben hinter ihr stehen.
»Sind Sie Frau Ehser?«, fragte der Mann. Er hatte eine tiefe, volle Stimme.
Sie richtete sich auf und drehte sich um. Im Arm hielt sie eine Einkaufstasche. Das Papier war feucht von dem Salat, den sie oben auf die anderen Sachen gepackt hatte.
Der Mann war gedrungen und kaum größer als sie. Er stand leicht vornübergebeugt da und wippte auf den Fußballen, während er sie aus grauen Augen kühl musterte. Als er den Kopf etwas schräg legte, schimmerten die grauen Schläfen wie mit Silber bestäubt.
»Mein Name ist Voss, Kriminalpolizei«, sagte er.
»Kriminalpolizei? Ist etwas passiert?« Ihre Angst brauchte Jutta nicht zu heucheln. So vieles konnte geschehen, schiefgegangen sein.
»Machen Sie sich bitte keine Gedanken, Frau Ehser«, sagte Voss. »Darf ich Ihnen etwas abnehmen?« Er griff nach der durchweichten Tüte, die sie ihm verwirrt überließ.
»Voss, sagten Sie? Haben Sie auch einen Ausweis?«
»O ja, natürlich, verzeihen Sie. Als Frau eines Bankkaufmanns in leitender Position müssen Sie vorsichtig sein.« Umständlich, weil er die Tüte mit einer Hand halten musste, fischte er ein Etui aus seinem Jackett, das er ihr aufgeklappt hinhielt.
»Danke«, sagte sie. »Was ist geschehen?«
»Wollen wir nicht ins Haus gehen? Haben Sie keine Nachrichten gehört?« Sein Blick wanderte kurz über den Escort, der jedoch nicht mit einem Radio ausgestattet war.
Während Jutta vorausging, um die Haustür zu öffnen, trat Voss an den Granada. Jutta bemerkte erst jetzt den Mann am Steuer. Voss sagte etwas zum Fahrer und folgte ihr dann ins Haus. Er stellte die Tüte in der Küche ab und sah sich nach einem Lappen für seine feuchten Hände um. Jutta gab ihm ein Handtuch.
»Die Bank Ihres Mannes wurde überfallen«, sagte Voss. »Ihr Mann und sämtliche Angestellten befinden sich noch in der Gewalt der Täter.«
»O Gott«, sagte sie. »Ist ihm ... ist er . . .?«
»Wir wissen sehr wenig, Frau Ehser. Es sind Schüsse gefallen, aber uns ist nicht bekannt, ob jemand verletzt worden ist. Das ist der Grund, warum wir einer Teilforderung der Täter nachgeben wollen. Sie verlangen zwei Millionen Mark. Das Geld wurde bereits von der Hauptstelle der Spar- und Kreditbank bereitgestellt.«
Was musste sie jetzt sagen? Wie musste sie sich verhalten, um glaubwürdig die Frau zu spielen, die Angst um das Leben ihres Mannes hatte? Sie hatte sich so vieles zurechtgelegt. Es war aus ihrem Gedächtnis verschwunden. Sie konnte den Beamten nur anstarren.
Mach dir nicht zu viele Gedanken, hatte Probek gesagt, als sie mit ihm darüber sprach, wie sie sich verhalten sollte, wenn die Polizei zu ihr kam. Locker oder verkrampft, gefasst oder verzweifelt, es spielte keine große Rolle, weil selbst der erfahrenste Beamte nicht genug Vergleichsfälle kannte, um ihr Verhalten sicher beurteilen zu können. Ob es echt war oder nicht.
Jetzt wich sie den forschenden Augen des Kriminalbeamten aus, indem sie sich umdrehte.
»Kommen Sie bitte mit nach nebenan«, sagte sie.
»Steht dort das Telefon?«, erkundigte sich Voss.
»Ja, hier.« Im Wohnzimmer deutete Jutta auf den Apparat und dann auf einen Sessel. Voss nahm Platz.
»Lange kann ich mich hier nicht aufhalten, Frau Ehser«, sagte er. »Ich bin gekommen, um Sie mit einer Forderung der Geiselnehmer vertraut zu machen. Sie verlangen, dass Sie das erpresste Geld übernehmen und für sie in Sicherheit bringen.«
Das war Probeks Plan. Welche Rolle ihr in der Schlussphase zugedacht war, hatte er ihr erst vor knapp drei Wochen enthüllt. Mehrere Male waren sie zusammen die Strecke abgefahren, die sie, mit der Tasche voller Geld auf dem Nebensitz, nehmen sollte. Allerdings hatte er ihr da noch nicht verraten, wer die Tasche übernehmen würde. Und wo.
»Wo soll ich die Tasche hinbringen?«, hatte sie gefragt, während sie mit ihrem Escort durch den dichten Nachmittagsverkehr nach Leverkusen fuhren.
»Du fährst nur rum, genau die Tour, die wir heute gemacht haben«, hatte er geantwortet. »Unterwegs wird sie dir jemand abnehmen.«
»Wer?«, fragte sie.
»Es ist nicht gut, zuviel zu wissen«, hatte Probek geantwortet.
Dass sie es jetzt wusste, verdankte sie allerdings nicht Probek. Von Anfang an hatte sie das Gefühl gehabt, dass er sie nicht in jede Einzelheit seines Planes einweihte. Er gab immer gerade so viel preis, wie er musste. Er hatte sie mit dem Gedanken an Geld geködert, weil Geld Freiheit verhieß. Dieser Gedanke hatte sich in ihrem Hirn festgesetzt und sie bewogen, Herbert zu ertragen. Eine kurze Zeit noch. Ein Viertel von zwei Millionen. Über das, was sie dafür tun musste, hatte sie sich keine Vorstellung gemacht, weil ihre Phantasie dafür nicht ausreichte. Deshalb war es Probek so leichtgefallen, sie Schritt für Schritt einzufangen und jedesmal fester an sich zu binden.
»Das schaffe ich nicht«, sagte sie, als sie wieder in Leverkusen ankamen und sie den Escort auf den Hof zwischen dem Wohnhaus und der Schreinerei stellten. Es roch würzig nach frisch geschnittenem Holz, und in der Werkstatt kreischte die Säge, während Probek begann, ein flaches, schwarzes Gehäuse unter dem Armaturenbrett des Escort zu installieren.
»Du schaffst es«, sagte er. Er lag unter der Lenksäule auf dem Wagenboden und grinste mit weißleuchtenden Zähnen zu ihr hinauf, während er seine Hüften bewegte, um sich in eine geeignete Position zu schieben. »Du brauchst nur rumzufahren, sonst nichts.«
»Und was machst du da?«, fragte sie beklommen.
»Das ist ein Panoramaempfänger oder Frequenzdetektor«, erklärte er undeutlich. »Damit kannst du feststellen, ob die Polizei einen Peilsender ins Geld oder in die Tasche praktiziert hat. Ich klemme die Nebelschlussleuchte ab und verbinde den Empfänger mit dem Schalter für die Nebelschlussleuchte. Siehst du, niemand kann den Apparat sehen«, sagte er, als er sich wieder aus dem Fußraum wand.
Er nahm ihre Hand und führte sie an die Stelle unter dem Armaturenbrett, wo sie den Umriss des Gerätes fühlte. Er zeigte ihr den Abstimmregler, den sie einmal über den Frequenzbereich führen musste, bevor sie sich mit der Geldtasche auf den Weg machte. Wenn das Gerät ein Piep-Signal hören ließ, sollte sie Probek ein Zeichen geben. Er würde sie die ganze Zeit durch die Okulare seines Feldstechers beobachten. Sie brauchte nur die Scheibe an ihrer Seite herabzudrehen und den angewinkelten linken Arm auf die Fensterkante zu legen. Dann würde er dafür sorgen, dass der Sender wieder ausgebaut wurde, bevor sie abfuhr. Sie selbst hätte nur darauf zu achten, den Empfänger wieder auszuschalten, bevor sie einen Polizisten oder Techniker an den Wagen heranließ.
»Das schaffe ich nicht«, wiederholte sie.
Er legte einen Arm um ihre Schultern und führte sie ins Haus. Sie spürte die Kraft seiner Hände und die Wärme seines Körpers, und sie wusste, was er von ihr wollte, weil er davon überzeugt war, sie mit Sex bei der Stange halten zu können.
Anfangs war es der Sex gewesen, die pure Lust. Inzwischen war viel mehr hinzugekommen. Ihr war zu vieles bewusst geworden. Sie hatte sich emanzipiert, sie musste frei sein, weil sie die Fesseln nicht mehr ertrug.
»Du schaffst es«, sagte er, als er die Tür seines Zimmers hinter sich schloss und sie zum Bett drängte.
Sie sträubte sich. Sie war zu nervös, und sie hatte Angst. Es gab zuviel, was sie noch nicht wusste.
Er drehte sich um und sah ihr in die Augen. »Vertraust du mir?«, fragte er mit dunkler Stimme.
Verständnislos erwiderte sie seinen Blick.
»Hast du Bedenken, ich könnte dich um deinen Anteil betrügen?«, fragte er.
Sie runzelte die Stirn, dann schüttelte sie langsam den Kopf. Es war zwar absurd, doch keinen Moment hatte sie angenommen, er könnte sie um ihren Anteil betrügen. Sie hatte kein Geld haben wollen. Er hatte sie darauf gebracht, hatte ihr einen Anteil aufgedrängt. Nein, er würde sie nicht betrügen. Nicht um das Geld. Sie konnte ihm gefährlich werden, wenn er sie betrog. Sie kannte seinen richtigen Namen, und sie wusste von seiner Wohnung in Essen. Das winzige Hinterhaus-Apartment in Leverkusen hatte er unter falschem Namen gemietet. Hier hatte er sich einige Male mit Junghein getroffen.
»Was kommt noch?«, fragte sie.
Er lächelte. »Was meinst du?«
»Gibt es noch Überraschungen? Dinge, von denen ich nichts weiß?«
»Keine, die dich angehen«, antwortete er leichthin. Er ließ sie los und wandte sich um. »Ich glaube, du kannst jetzt eine Tasse Kaffee vertragen. Ich mache eben welchen.«
Sie ging ins Bad, um sich frisch zu machen. Mit nassen Händen und nassem Gesicht kam sie wieder heraus.
»Wo hast du die Handtücher?«
»Im Schrank!«, rief er aus der Kochecke. »Du weißt doch Bescheid!«
Sie zog die Tür des alten Kleiderschrankes auf, die wieder einmal klemmte. Die Handtücher hatte Probek ordentlich unten in einer Ecke gestapelt. Probek war ein Mann, der Ordnung liebte.
Sie nahm ein Handtuch und wollte sich schon wieder aufrichten, als ihr Blick sich an dem Gewehr festsaugte. Es stand in der anderen Ecke. Auf dem Schrankboden lag das kurze, gedrungene Futteral aus olivfarbenem, imprägniertem Leinen. Sie verstand nicht viel von Waffen, aber sie wusste, dass das Gewehr in das Futteral gehörte, und weil es so kurz war, schloss sie daraus, dass sich die Waffe zerlegen ließ.
Sie richtete sich auf, drehte sich um und tupfte ihr Gesicht ab. Probek kam mit einem Tablett herein, auf dem die Tassen standen.
»Was hast du?«, fragte er.
»Was ist das für ein Gewehr?«, fragte sie.
Langsam stellte er das Tablett ab, ruhig kam er auf sie zu. Er griff an ihr vorbei und holte die Waffe aus dem Schrank.
»Das ist ein Präzisionsschützengewehr«, erklärte er. »Eine Bundeswehr-Version des gleichen Modells, mit dem auch die Knaben vom MEK schießen. Es hat dasselbe Kaliber und einen entscheidenden Vorteil - es lässt sich zerlegen.«
Mit wenigen Handgriffen, die Übung und Routine verrieten, nahm er es auseinander und ließ es im Futteral verschwinden.
»Wofür brauchst du das? Rechnest du doch damit, dass sie dich stellen könnten?«
Probek warf den Kopf in den Nacken und lachte, wobei die Sehnen am Hals scharf hervortraten.
»Ein Gewehr ist keine Nahkampfwaffe«, sagte er.
»Du weichst mir aus!«
Probek lachte nicht mehr. »Ich rechne nicht damit, dass sie mich kriegen, aber ich berücksichtige selbst unwahrscheinliche Eventualitäten. Für den Fall habe ich dieses hier.«
Er griff in den Schrank und holte einen Gegenstand heraus, der in ein weiches Tuch gewickelt war. Er schlug die Ecken des Tuchs auf, bis die große blauschwarze Pistole sichtbar wurde.
»Das ist eine P 1. Bestes Material von der Bundeswehr, wie das Gewehr.« Er wickelte die Pistole wieder in das Tuch und legte sie in den Schrank zurück. »Komm, da steht der Kaffee.«
Sie rührte sich nicht. Er würde sich gegen eine Verhaftung zur Wehr setzen, das konnte sie in etwa verstehen. Probek war kein Mann, der sich einsperren ließ. Er würde lieber sterben, obwohl auch das eine Einstellung war, die sie nur schwer nachvollziehen konnte.
»Wofür brauchst du dann das Gewehr?«, fragte sie, und bevor er eine ausweichende Antwort geben oder ihr eine Lüge auftischen konnte, stieß sie nach. »Sag mir die Wahrheit, oder ich mache nicht mit.«
Er sah sie an, und seine straffen Lippen zuckten, bis sie sich zu einem hinterhältigen Lächeln verzogen, das sie hätte warnen sollen.
»Ist das dein Ernst?«, fragte er.
»Ja«, antwortete sie feierlich.
»Du machst also mit?«
Er hatte sie überlistet. Sie saß in der Falle, die sie selbst aufgestellt hatte.
»Mein Problem ist Junghein«, sagte er. »Er kennt zwar meinen richtigen Namen nicht, aber wir haben uns einige Male getroffen. Er könnte zu viele Hinweise auf meine Person geben.«
Sie verstand nicht.
»Sie haben keine Chance, verstehst du? Mit dem Geld werden wir sie überrumpeln. Das werden sie fahren lassen müssen. Aber sie werden die drei nicht einfach davonfahren lassen. Es gibt da ganz klare Planspiele bei der Polizei. Sie alle basieren darauf, dass die Täter im Fall von Geiselnahmen den Tatort möglichst nicht verlassen dürfen. Man wird alles tun, um sie gewissermaßen zu ihren eigenen Gefangenen zu machen, verstehst du?«
»Ich bin mir nicht sicher . . .«
»Sie wollen sie in der Bank halten. Hinhalten, mit ihnen verhandeln, bis sie müde sind. Sie vertrauen darauf, dass sich zwischen Tätern und Opfern eine Gruppensituation einstellt. So etwas wie eine Notgemeinschaft. Sie rechnen doch damit, dass Geiselnehmer ihre Geiseln nicht erschießen, wenn sie nur lange genug zusammen eingesperrt sind. Verstehst du?«
»Das verstehe ich. Aber . . .«
»Augenblick. Wir bringen ihr Konzept durcheinander. Wir verhandeln nicht. Wir reden doch einfach nicht miteinander. Und wir lassen auch keine Geisel frei, keine einzige, so dass sie weder wissen, was in der Bank los ist, noch, mit wie vielen Tätern sie es zu tun haben. Sie werden das Geld heranschaffen, weil sie denken, dann können sie die Täter wieder hinhalten . . .«
»Ja, aber . . .«
»Aber dann kommst du. Jemand von außen fährt mit dem Geld davon. Dagegen können sie nichts tun, verstehst du? Aber sie werden die Täter nicht abfahren lassen, nicht ohne Geiseln, und schon gar nicht mit Geiseln.«
»Du meinst, die Polizei wird auf sie schießen?«
»Und wenn nicht, werde ich nachhelfen.« Er legte das Gewehr in den Schrank zurück. »Was mit den anderen passiert, ist nicht wichtig. Wichtig ist nur, dass Junghein nicht reden kann.«
»Weißt du, was das ist?«, fragte Jutta tonlos. »Das ist Mord!«
»Nenne es, wie du willst!« Er fuhr zu ihr herum und packte sie an den Schultern. »Es geschieht auch zu deiner Sicherheit! Denk immer daran — wenn sie mich kriegen, kriegen sie auch dich. Nicht, dass ich dich verpfeifen würde, keine Sorge, aber zu viele haben uns zusammen gesehen. Und auf Ibiza haben wir in demselben Hotel gewohnt. Sie würden sogar bis zur Geburt meiner Großeltern zurückgehen, solange der Verbleib der Beute nicht geklärt ist. Bis zur letzten Mark.«
Voss legte den Hörer auf und steckte den Zettel ein, auf dem er etwas notiert hatte. Er wandte sich zu Jutta um.
»Wir müssen jetzt gehen«, sagte er. »Das heißt, wenn Sie bereit sind.«
Sie nickte. »Gibt es etwas Neues?«
»Das erzähle ich Ihnen unterwegs.«
Als sie das Haus verließ, fiel ihr erster Blick auf den Escort, und ihr Herz zog sich krampfartig zusammen.
Der Mann aus dem Granada, den Voss als seinen Fahrer bezeichnete, stand an ihrem Wagen. Er war zweifellos ebenfalls Kriminalbeamter. Hatte er sich den Escort genauer angesehen? Oder waren ihm die Plastiktüten und die alten Zeitungen aufgefallen, die sie unter die Vordersitze gestopft hatte?
Doch dann sah sie die herabgedrückten Sperrstifte, und sie atmete auf. Sie hatte den Wagen gewohnheitsmäßig abgeschlossen.
Voss ging auf den Fahrer zu, der die rechte Tür des Granada öffnete. Voss beugte sich herein. Als er sich wieder aufrichtete, hielt er etwas in der Hand, das wie eine Broschüre aussah.
»Ich fahre mit Frau Ehser«, sagte er zu dem Beamten. »Kommen Sie hinter uns her. Achten Sie auf den Funk.«
Jutta schloss die Fahrertür des Escort auf, dann sah sie Voss fragend an, der bereits an der anderen, noch verschlossenen Tür wartete.
»Wollen Sie fahren?«, fragte sie.
»Ich möchte Sie fahren sehen«, antwortete er.
Sie stieg ein und entriegelte die Beifahrertür. Er setzte sich hinein und zog die Tür zu.
»Wir fahren über die Kaiserallee«, sagte er. »Dort am Kaufhaus müssen wir kurz anhalten.«
Jutta sah auf seine Hände. Was sie für eine Broschüre gehalten hatte, entpuppte sich als zusammengefalteter Stadtplan.
»Ich kenne mich aus«, sagte sie stirnrunzelnd.
Voss legte den Stadtplan auf die Ablage. »Dann los, fahren wir«, sagte er.
Jutta kam sich wie eine Fahrschülerin bei der Prüfung vor. Ihr war bewusst, dass Voss wissen wollte, ob ihre Nerven der kommenden Belastung standhalten würden. Das Anfahren missglückte prompt. Der Wagen ruckte, und Voss wurde nach vorn geworfen. Er sagte nichts dazu, und Jutta gewann rasch an Sicherheit.
Voss beugte sich zu ihr hinüber, um einen Blick auf die Benzinuhr zu werfen. Sie hatte gestern erst getankt. Voss lehnte sich zurück.
»Das Benzin dürfte reichen«, meinte er. »Wenn man Sie nicht nach Stuttgart oder Hannover fahren lässt.«
Jutta sah starr geradeaus. An der nächsten Ecke blinkte sie und bog ab. Sie fühlte sich kühler, als sie erwartet hatte.
»Sie brauchen es nicht zu tun«, sagte Voss ruhig. Sie spürte seinen Blick von der Seite, aber sie sah geradeaus.
»Ist es . . . gefährlich?«, fragte sie.
»Das kann man nicht sagen. Es besteht die Gefahr, dass ein außenstehender Komplize Sie als Geisel nimmt.«
Ihr Gesicht zuckte.
»Zuerst sah der Fall nach einem, sagen wir einmal, herkömmlichen Banküberfall aus, bei dem die Polizei etwas zu früh am Tatort erschien. Dadurch entstehen übrigens die meisten Fälle von Geiselnahmen. Unbeabsichtigt, verstehen Sie? Jemand in der Bank löst den Alarm aus, die Polizei ist sehr schnell da, und der Laden ist dicht.«
»Und was glauben Sie?«, fragte Jutta.
»Wir glauben jetzt, dass es sich um ein sorgfältig geplantes Verbrechen handelt. Die Täter haben uns bereits mehrfach überrascht. Niemand könnte es Ihnen verdenken, wenn Sie die Fahrt nicht machen wollen.«
»Sie werden mich doch beobachten? Mich schützen?«
»So gut es geht, aber rechnen Sie nicht damit, dass wir Sie in jeder Sekunde unter Kontrolle halten können. Die Täter haben Sie mit Ihrem Wagen genau vor die Bank bestellt. Aus gutem Grund, Frau Ehser.«
Jutta beobachtete den Fahrer des Granada im Rückspiegel. Er hielt gerade den Hörer des Funktelefons an sein Ohr, aber er blinkte nicht zum Zeichen, dass eine Nachricht für Voss vorlag.
»Und der wäre?«
»Die Täter haben den Überfall von langer Hand vorbereitet. Es ist anzunehmen, dass sie Sie und Ihren Wagen kennen. Sie wollen sichergehen, dass wir ihnen kein präpariertes Fahrzeug vorsetzen. Und statt Ihrer Person eine Beamtin. Oder einen als Frau zurechtgemachten Beamten.« Voss lächelte. »Das haben wir alles schon durchexerziert.«
»Sie können doch, ich meine, man liest immer von solchen Dingen, Sie können doch einen Peilsender an meinem Wagen anbringen. Oder in der Tasche mit dem Geld verstecken.«
Voss seufzte. »Sie fragten eben nach dem Telefongespräch, ob es Neues gäbe. Ja, die Gangster haben ihre Forderungen präzisiert. Das Geld soll umgepackt werden, und zwar in eine ganz bestimmte Tasche, die wir jetzt im Kaufhaus an der Kaiserallee holen werden. Die Täter haben sogar eine Markierung am Etikett dieser Tasche angebracht.«
»Wenn sie inzwischen verkauft ist?«, warf Jutta ein.
»Das dürfte unwahrscheinlich sein. Ich vermute, dass die Markierung erst vor wenigen Minuten, kurz vor dem Gespräch, in dem die Täter diese neue Bedingung stellten, angebracht wurde. Möglicherweise wird der Kauf dieser Tasche beobachtet, vielleicht werden wir beobachtet.«
Jutta schauderte.
Ob Probek etwas von der Einfühlungskraft dieses Mannes ahnte?
Jutta stoppte kurz an einer Ampel und bog dann in die Kaiserallee ab.
»Die Täter werden die Anweisungen an Sie erst im letzten Augenblick übermitteln«, spann Voss den Faden weiter. »Ich vermute, dass man Sie auffordern wird, ein bestimmtes Café oder eine Gaststätte aufzusuchen, und dass man Sie dort anrufen wird. Was dann geschieht, hängt von Ihnen ab. Ich möchte es Ihnen nicht zumuten, uns eine Nachricht zukommen zu lasen. Wir werden versuchen, Sie zu verfolgen, aber wir müssen uns so weit zurückhalten, dass wir Sie jederzeit verlieren können. Besonders dann, wenn man Sie zwingen sollte, schärfer zu fahren.«
Jetzt musste Jutta unwillkürlich an Probek denken, dessen Planung bisher genau stimmte. Weil sie, die angeblich Unbeteiligte, das erpresste Geld wegbringen sollte, würde die Polizei sie über alle Maßnahmen aufklären.
»Sicher ist nur eins, Frau Ehser«, sagte Voss, »wir haben es hier mit einer Bande zu tun, die von einem gerissenen Kopf gesteuert wird. Wie gesagt, es ist allein Ihre Entscheidung, ob Sie fahren wollen oder nicht.«
»Ich weiß«, sagte sie mit kleiner Stimme. »Ich glaube, ich muss es tun. Für meinen Mann.«
Großer Gott, dachte sie, was erzählst du da bloß für einen Mist!
»Was geschieht dann?«, fragte sie schnell. »Ich meine, wenn ich abgefahren bin?«
»Es wird erst wieder etwas geschehen, wenn ein Mitglied der Bande das Geld in seinen Besitz gebracht hat und es den Geiselnehmern meldet. Dann werden sie davonfahren wollen.«
»Sie werden Geiseln mitnehmen?«
»Sie werden versuchen, sich von Geiseln decken zu lassen«, räumte Voss ein.
»Was werden Sie tun?«
Voss zögerte mit der Antwort. Als er dann antwortete, klang seine Stimme entschlossen. »Wir werden alles Menschenmögliche tun, um den Fall am Tatort zu beenden. Die Täter also nicht mit Geiseln davonfahren lassen.«
»Aber wie wollen Sie das verhindern? Sie können doch nicht schießen!«
»Unterschätzen Sie die Schützen des Mobilen Einsatzkommandos nicht«, sagte Voss. »Aber machen Sie sich keine Sorgen. Sie werden nur dann schießen, wenn eine Gefährdung der Geiseln ausgeschlossen ist.«
»Was sagen Sie da?«, rief Jutta. »Wie wollen Sie eine Gefährdung der Geiseln ausschließen und doch schießen?«
Probek war es, der ihr plastisch vor Augen geführt hatte, wie diese Sekunden ablaufen würden, in denen die drei Komplizen aus der Bank kommen würden, jeder mit einer Geisel vor sich. Dem Einsatzleiter blieben nur wenige Sekunden für eine folgenschwere Entscheidung: die Täter niederschießen oder mit den Geiseln fahren zu lassen und eine lange und zermürbende Verfolgungsfahrt mit ungewissem Ausgang in Kauf zu nehmen. In diesen Sekunden würden die Präzisionsschützen auf dem Dach und in den Fenstern des Hotels auf die Geiselgangster zielen, während sie auf den entscheiden den Befehl warteten. In dieser Zeit würden ihre Nerven aufs höchste gespannt sein. Obwohl sie für solche Situationen vorbereitet und sorgfältig trainiert worden waren, konnte ein Missverständnis, eine winzige Irritation, eine Katastrophe auslösen.
»Der Einsatzleiter kann erst im letzten Moment entscheiden, was geschehen soll«, sagte Voss. »Er ist nicht zu beneiden.«
Jutta fuhr langsamer, als das Kaufhaus in Sicht kam. Sie hielt nach einer Parkmöglichkeit Ausschau. Voss deutete auf den Haltestreifen einer Buslinie.
»Sie können hier halten, Frau Ehser«, sagte er.
Sie stoppte, und er sprang hinaus. Ein jüngerer Mann, der unter dem Vordach des Kaufhauseingangs gewartet hatte, lief auf ihn zu. Er schwenkte eine bauchige Segeltuchtasche, die Voss ihm abnahm. Voss stieg wieder in den Escort, und während Jutta weiterfuhr, untersuchte er die Tasche.
An einem der beiden Griffe hing ein Anhänger aus Plastik mit dem Firmenzeichen des Herstellers. Auf die Rückseite war das Preisetikett geklebt. Voss löste den Anhänger und hielt ihn gegen die Windschutzscheibe. Er deutete auf das nadelfeine Loch am rechten Rand.
»Sehen Sie, das ist das Zeichen«, sagte er und steckte den Anhänger in einen Plastikbeutel.
Er hielt die Tasche auf den Knien, bis Jutta in die Keplerstraße einbiegen wollte. Doch dort standen zwei Polizisten, die sie weiterwinken wollten. Sie trat auf die Bremse und blieb mitten auf der Gegenfahrbahn stehen.
Da schoss der Granada an ihr vorbei und stoppte kurz neben den Schupos. Der Fahrer rief ihnen etwas zu und fuhr sofort weiter. Einer der Uniformierten schob den Sperrbalken zur Seite, der andere winkte sie vorbei.
Sie fuhr durch die enge, dunkle Straße, bis sich plötzlich der sonnenüberflutete Herzogplatz vor ihr öffnete und sie geblendet die Augen schloss.
Als sie die Augen wieder aufriss, begannen ihre Knie unkontrollierbar zu zittern, während sie ihren Blick fassungslos über die Menschen und Fahrzeuge streichen ließ, die sich auf dem Platz drängten und in den Gassen stauten.
»Fahren Sie dorther«, sagte Voss ruhig.
Sie unterdrückte das Zittern ihrer Knie, als sie den Escort am Notarztwagen vorbeilenkte und vor der Bank hielt. Voss sprang hinaus. Den Stadtplan ließ er auf der Ablage liegen.
Jutta musste sich zwingen, nicht zur Fassade des City-Hotels hinüberzuschauen und Probek zuzuschreien: »Hör auf! Hör auf!«
Dazu war es zu spät. Sie wollte auch nicht mehr zurück. Sie hatte sich entschieden. Alles oder nichts. Und das war endgültig.