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Am Wochenende fliegen Sven und ich von Düsseldorf aus nach Helsinki. Der Flug ist ereignislos. Der Flughafen von Helsinki, Vantaa, ist ein Flughafen wie jeder andere. Wer sich in Düsseldorf zurechtfindet, schafft es auch dort. Als wir ankommen, geht Sven erst mal auf die öffentliche Toilette, während ich versuche, aus dem Automaten schlau zu werden, der mir ein Busticket für die Fahrt in die Stadt verkaufen soll.

Nach einigem Hin und Her habe ich ihn auf Englisch eingestellt und das günstigste Ticket für uns gefunden.

„Sag mal, wie heißt das nochmal, dieses Franzosen-Klo?“

„Hä?“, erwidere ich eloquent.

„Na das, wo du ‘ne Dusche hast.“

„Bidet?“

„Ja, genau! Die haben hier bei öffentlichen Klos sowas auch! Und einen Brausekopf, wie bei der Dusche an ‘nem Schlauch.“

„Du verarschst mich.“

„Nein, ich schwöre. Willst du es dir ansehen?“

Ich halte kurz inne. „Dir ist die dünne Luft im Flugzeug nicht bekommen, was?“

Er rollt mit den Augen und ich reiche ihm das Ticket.

„Damit kommen wir in die Stadt. Jetzt lass uns die 615 suchen. Das Ticket ist vom Kauf an vierundzwanzig Stunden gültig.“

Der Flughafen liegt abseits der Stadt. Nach ein wenig Herumsuchen finden wir den Bus.

Der Busfahrer kann ganz gut Englisch und so erfahren wir, dass die Endstation am Hauptbahnhof ist. Das passt uns gut.

Im Gegensatz zu den meisten deutschen Bussen hat dieser extra ein großes Fach für das Abstellen von Taschen und Reisekoffern, um nicht unnötig Sitzplätze zu belegen.

Die Fahrt nach Helsinki erfolgt über eine schmucklose Autobahnstrecke, die durch städtisches Gebiet geht.

Ich schalte mein Handy nach dem Flug wieder an und bekomme eine SMS von Isabella. Sie ist gut in Berlin angekommen.

„Glaubst du, das wird was?“, fragt mein Bruder, der auf meinen Bildschirm sieht.

„Alter, Privatsphäre“, erwidere ich. Er zuckt die Schultern. „Du hast schon recht. Ist ‘ne Hypothek für die Beziehung. Aber ich liebe sie und du hast genauso wenig eine Sicherheit, was die Zukunft bringt, wie ich.“

„Das ist natürlich wahr“, sagt Sven. „Wie heißt die Insel?“

„Wo Tuomas Jaak lebt?“, gehe ich auf seinen Themenwechsel ein. Er nickt.

„Suomenlinna, die Finnenburg heißt das, glaube ich. Ist vor Helsinki, im Hafen. Wir sehen jetzt zu, dass wir erst mal zur Jugendherberge kommen, Gepäck loswerden und dann mit der nächsten Fähre nach Suomenlinna fahren. Da wohnt er.“

„Hast du ihn denn erreicht?“

Ich sehe demonstrativ aus dem Fenster. Langsam wird die Bebauung dichter, wir erreichen das Stadtgebiet.

„Ich habe seiner Pressestelle gemailt. Er ist im Stadtrat und hat ein Amt, also stehen seine Kontaktdaten nicht einfach im Netz. Ich habe ihm auch in verschiedenen sozialen Medien geschrieben, aber das sind natürlich seine offiziellen Konten, also kümmert sich vielleicht auch wer anderes darum.“

„Also tauchen wir da einfach so auf?“

„Nein, er hat mir vor dem Abflug tatsächlich selbst geantwortet. Ich habe seine Privatadresse.“

„Hat er was zu dem Klavier gesagt?“

„Nein, nur dass er uns weiterhelfen will.“

„Hast du ihm gesagt, dass da Gold drin ist?“

„Ich bin nicht bescheuert. Ich hab gesagt, dass wir ein Familienerbstück suchen.“

„Reicht als Motivation“, nickt Sven.

Wir fahren zur Jugendherberge, was in diesem Fall eher ein Hotel beschreibt. Das Gebäude ist für irgendwelche Olympischen Spiele errichtet worden und hat wenig zu tun mit den Jugendherbergen, in denen wir in meiner Schulzeit übernachtet haben.

An der Rezeption glaube ich erst, dass die Finnin einen Witz macht, als sie sagt, dass die Sauna im Preis inklusive wäre, das Frühstück allerdings nicht.

Als sie es aber mit ernstem Gesicht wiederholt, wird mir klar, dass es kein Witz ist.

Sven und ich amüsieren uns noch immer darüber, als wir mit dem Bus hinunter zur Fährenanlegestelle fahren.

„Na ja, man muss halt Prioritäten setzen“, meint er. Die Fähre liegt schon am Hafen. Rundherum ist ein Markt aufgebaut. Der freie Platz wird für alles von Trödel bis zu Obst genutzt.

Es ist frisch, ein kalter Wind weht von der Ostsee herüber.

„Trotzdem“, sage ich, als wir uns Tickets kaufen und die Fähre betreten. „Ich habe doch lieber Frühstück als Sauna.“

„Jedem seins“, sagt Sven, während rumpelnd der Motor der Fähre anspringt und alles leicht zu vibrieren beginnt. „Ich habe dafür bezahlt, ich probiere das morgen früh mal aus.“

„Sehr deutsch“, sage ich ironisch und er lacht.

Die Fahrt hinüber zur Suomenlinna dauert nicht lange, dann sind wir auch schon da. Eigentlich sind es mehrere kleine Felsinseln, die vor der Küste Finnlands aus dem Meer ragen und auf denen historische Verteidigungsanlagen gebaut worden sind. Einige der Festungsanlagen sind neu, andere schon einige hundert Jahre alt. Es gibt ein kleines Trockendock und Wohnanlagen, denn früher schon lebten hier nicht nur die Soldaten, sondern auch ihre Familien. Inzwischen leben hier verschiedene Leute, die Festung lässt sich im Rahmen eines Museums besichtigen und die strategische Bedeutung hat alles in allem abgenommen.

Wir fragen uns am Hafen durch und finden schlussendlich ein endlos langes cremefarbenes Gebäude mit zwei Stockwerken, das den Charme einer früheren Kaserne besitzt. Hier sind eine ganze Menge Wohnungen. Ein Kind auf einem Fahrrad fährt lachend an uns vorbei, verfolgt von einem anderen Kind, das etwas auf Finnisch ruft, das wir nicht verstehen.

An der Tür finden wir das Klingelschild von Tuomas Jaak.

Ein älterer Mann macht uns die Tür auf und bittet uns in seine Wohnung. Unauffällig schaue ich mich um, kann aber kein Klavier entdecken.

„Also, was kann ich für Sie tun?“, fragt er in perfektem Schulenglisch. „Sie sprachen von einem Erbstück?“

„Ja“, beginne ich. „Unsere Großmutter ist vor Kurzem verstorben und vor ihrem Tod berichtete sie uns aus ihrer Kindheit in Tallinn.“

Sven holt das Foto heraus, auf dem das Klavier mit dem Wappen zu sehen ist.

„Wir wollten versuchen, ob man es noch auffinden kann. So sind wir bei Ihnen gelandet.“

Der Mann nimmt das Foto und lächelt.

„Das kenne ich“, sagt er dann. „Meine Tante hat es.“

„Wirklich? Wo ist sie?“

„Oh, das ist lange her“, sagt Tuomas. „Sie ist in den frühen Siebzigern, Einundsiebzig oder Zweiundsiebzig, nach Spanien gegangen. Noch vor dem Tod Francos jedenfalls. Sie hatte eine Bar in Barcelona. Irgendwas ... ich glaube ‚Pelícano en el mar‘ oder so.“

Er steht auf, geht zu einem Regal und holt ein Fotoalbum heraus.

Eine Weile blättert er stumm, während Sven und ich Blicke wechseln. Sollte es wirklich so sein, dass wir am Ende das Klavier noch finden?

Ich bin aufgeregt.

„Nein“, brummt Tuomas und stellt das Album zurück, zieht ein anderes heraus.

Eine Weile blättert er herum, dann sagt er: „Ja, ja hier ...“

Er reicht uns das Fotoalbum.

„Da, das ist ‚Pelícano en el mar‘, da stand das Klavier auf einer Bühne. Es gab abends Livemusik. Das ist die sogenannte Las Ramblas, da kam jeder abends in Barcelona vorbei.“

„Wissen Sie, ob es die Bar noch gibt?“

„Tut mir leid, keine Ahnung. Ich muss gestehen, ich weiß nicht mal, ob meine Tante noch lebt. Den Kontakt hat meine Mutter immer gepflegt. Irgendwann kam ein Brief zurück, den ich geschickt hatte, weil der Empfänger verzogen war und das war’s dann. Das war lange vor E-Mails. Wenn Leute sich da nicht gekümmert haben, ist der Kontakt schnell abgebrochen“, erklärt er und zuckt entschuldigend die Schultern.

„Darf ich mir das Foto abfotografieren?“, fragt Sven und Tuomas nickt. Sven holt sein Handy heraus.

Auf dem Foto ist neben der Bar eine marmorne Statue zu sehen. Ein Springbrunnen vielleicht? Ich sehe genauer hin. Nein, das ist ein Kerl, der auf einem Stuhl oder einem Thron sitzt, nicht königlich, eher modern, vielleicht im Anzug.

„Ach ja, sie war eine nette Frau“, sagte Tuomas. „Ich mochte sie sehr als Kind. Sie ging nach Spanien zu meinem Onkel. Leider haben sie keine Kinder gehabt, soweit ich weiß. Ich wüsste gerne, ob sie noch lebt.“

„Wie hieß ihre Tante?“, frage ich. „Vielleicht finden wir ja etwas über sie heraus, etwas, das Sie interessiert. Vielleicht lebt sie ja noch irgendwo.“

„Xandra Horowitz“, sagt Tuomas. „Das war ihr Mädchenname. Nach der Hochzeit hieß sie natürlich auch Jaak. Mein Onkel war überzeugter Francist ... Das ist alles noch gar nicht so lange her.“

Er erzählt uns noch eine Weile von seiner Familiengeschichte. Dann klingelt sein Telefon und nach einem kurzen Gespräch sagt er zu uns: „Tut mir leid, aber nun müssen Sie gehen. Ich habe noch eine Verabredung.“

Wir bedanken uns für seine Zeit und spazieren noch etwas über die Insel. Dabei kommen wir an einem Grab mit griechischem Helm vorbei. Hier liegt ein ehemaliger Kommandant der Insel.

Es muss seltsam gewesen sein, hier zu leben, geht mir durch den Kopf. Die Stadt ist so nahe und doch ist man hier ganz für sich.

Wir haben noch etwas Zeit, bevor die nächste Fähre geht, und setzen uns in ein Restaurant am Hafen.

Als wir auf die Karte sehen, bestellen wir das Gleiche.

„Weißt du noch, Max?“, fragt Sven, während er die Ravioli auf seinem Teller herumschiebt. „Ravioli und Snoopy?“

Ich nicke. Da musste ich auch dran denken. „Mama war einige Tage weg und Papa musste uns versorgen. Ich wusste nicht, dass es so viele Sorten Dosenravioli gibt.“

„Und alle lecker“, sagt Sven und ich nicke.

„Keine Beschwerde von mir. Aber das gemeinsame Snoopy-schauen damals ist mir auch in Erinnerung geblieben. Gab’s damals so als Sammelschuber, mit mehreren VHS, oder?“

„Hmm“, brummt Sven. „Beim Schlecker.“

Noch etwas, das es nicht mehr gibt, denke ich, sage es aber nicht. Ich vermisse meinen Vater in diesem Moment mal wieder.

„Ist das erste Mal, dass ich eine Jack London-Geschichte gesehen habe“, erkläre ich ihm.

„Hö?“, macht Sven und schaut von seinem Essen auf.

„Erinnerst du dich an die Geschichte, wo Snoopy träumt, er muss als Schlittenhund leben, im harten kalten Norden?“

„Ja“, sagt Sven gedehnt.

„Das ist, glaube ich, eine Anspielung an die Geschichte ‚Ruf der Wildnis‘. Da geht’s auch um einen Haushund, der in der Wildnis überleben muss und zum Rudelführer wird.“

Ich habe angefangen, Isabellas Jack London-Bücher zu lesen und verstehe auch inzwischen, was sie an ihm findet.

Mein Handy klingelt.

„Das ist Isa“, sage ich zu Sven und nehme den Anruf an, bevor er etwas antworten kann. „Hey, wie lief es?“

„Ni fu ni fa“, erwidert sie und ich muss lachen. Ich kann ihr Lächeln bei den Worten hören. Ich liebe diese Phrase, sie klingt so lautmalerisch.

„Und wirklich?“

„Ich habe Duldungsstatus in Deutschland. Eure Botschaft sieht, was möglich ist, und ich denke nach langem Überlegen, mir bleibt wirklich nur die Möglichkeit, hier zu bleiben. Wenn ich nach Kuba gehe, werde ich verhaftet, sie haben mich ausgeschrieben. In der Botschaft in Deutschland ist man aber auf der Seite meines Vaters und hat mich nie gesehen, offiziell natürlich. Also werde ich hier bleiben und ... die einzige Möglichkeit, meinen Vater frei zu bekommen, ist ein Klavier voller Gold.“

„Du glaubst nicht daran“, stelle ich fest.

„Ich glaube an dich“, erwidert sie entschieden. „Aber es ist so viel Zeit vergangen. Diese Idee von dir ... Ich glaube daran, dass du das Richtige tun wirst.“

Ich fasse ihr in wenigen Worten zusammen, was wir herausbekommen haben.

„Dann geht ihr jetzt nach Barcelona.“

„Ja.“

„Ich würde dich gerne sehen. Aber ich kann mich nur innerhalb Deutschlands frei bewegen. Sobald ich ein anderes EU-Land betrete, weiß ich nicht, was passieren wird. Sie könnten mich ausliefern.“

„Dann sei froh, dass du nicht zum Studieren nach Luxemburg gegangen bist. Deutschland hat doch schon etwas mehr Abwechslung“, versuche ich einen halbherzigen Versuch, sie aufzuheitern. Ich kann ihr müdes Lächeln beinahe hören, als sie erwidert: „Oder Belgien.“

Ich lächle auch. „Eben. Ich melde mich wieder bei dir und sag, wie’s weitergeht, okay?“

„Mach das. Ich schau mal, ob ich im Internet was über die Bar finde. Te quiero.“

„Danke. También.“

Ich lege auf.

„Und, hat sie was in der Botschaft erreicht?“

„Es geht“, beginne ich und fasse ihm alles zusammen. „Sie kann nicht mit nach Barcelona. Es wäre nützlich, jemanden dabei zu haben, der wirklich Spanisch sprechen kann“, sage ich.

„Ey“, sagt Sven und fasst sich in gespieltem Ernst an die Brust, als hätte ich auf ihn geschossen. „Mein Spanisch kannst du nicht meinen.“

„Nein, natürlich. Im Vergleich zu mir bist du Muttersprachler.“

„Na dann“, sagt er. „Unabhängig davon, ob wir das Klavier finden oder nicht, du hast einen Schatz gefunden, denke ich. Nicht alle Schätze sind aus Silber und Gold, weißt du?“

Er zwinkert verschwörerisch und ich begreife die Filmreferenz. Er hat sein Glas erhoben, also greife ich meins.

„Aye, Jack. Nimm was du kriegen kannst und gib nichts wieder zurück.“

Wir stoßen an.

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