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Schwester Tanja Drewitz verließ die Toilettenräume und kehrte auf ihre Station zurück. Unterwegs traf sie Doktor Roland Böwing, der als Assistenzarzt in der Falkenberg-Klinik arbeitete.

„Hätten Sie nicht schon längst Dienstschluss?“, erkundigte er sich.

„Ja“, antwortete sie lächelnd. „Ich bin auch schon so gut wie weg.“

„Ich wünsche Ihnen einen erholsamen Feierabend.“

„Und ich Ihnen einen ereignislosen Nachtdienst.“

Doktor Böwing wollte sich gerade wieder in Bewegung setzen, blieb dann aber stehen. „Beinahe hätte ich es vergessen: Da waren zwei Anrufe für Sie. Ein Florian Stührenberg wollte Sie sprechen.“

Eine Unmutsfalte erschien über Tanjas Nasenwurzel. „Ich habe ihm schon hundertmal gesagt, er soll mich hier nicht anrufen.“

„Ich habe ihn gefragt, ob ich Ihnen etwas ausrichten könne. Er sagte Nein.“

„Danke“, entgegnete Tanja.

„Keine Ursache“, gab der Assistenzarzt zurück und setzte seinen Weg fort.

Tanjas Miene verfinsterte sich. Was mache ich bloß mit dir, Florian Stührenberg?, dachte die junge Frau. Seit einem halben Jahr ging sie mit ihm aus. Er liebte sie, aber sie liebte ihn nicht. Anfangs mochte sie ihn, doch ihre Gefühle hatten sich im Laufe der Zeit sehr schnell abgekühlt. Florian wollte das jedoch nicht wahrhaben. Er war davon überzeugt, ihre Liebe erzwingen zu können. Doch stattdessen erreichte er mit seinem Verhalten nur das Gegenteil.

Tanja hätte sich lieber heute als morgen von ihm getrennt. Das war auch der Grund, weshalb sie seine Anrufe auf ihrem Smartphone blockierte. Aber das schien ihn nicht zu stören. Er begriff einfach nicht, dass seine Verbindung mit Tanja keine Zukunft hatte. Es wurde Zeit, endlich einen Schlussstrich unter diese Beziehung zu machen, um dann ein neues, erfreulicheres Kapitel im dicken Buch des Lebens zu beginnen. Tanja wollte gerade das Schwesternzimmer betreten, um sich umziehen, als ihre Kollegin Silke Ruwe erschien.

„Da ist ein Anruf für dich. Im Stationszimmer.“

„Wer ist es?“

„Dein Romeo“, erwiderte Silke schmunzelnd.

„Er ist nicht mein Romeo!“, entgegnete Tanja gereizt.

„Ich dachte ...“

„Du hast falsch gedacht.“ Sie nahm den Hörer, der neben dem Apparat lag. „Hallo, Florian“, meldete sie sich in einem unfreundlichen Tonfall. Er sollte ruhig merken, dass sie über seinen Anruf nicht erfreut war. Wenn er doch nur endlich der Vergangenheit angehören würde! Dann hätte sie wieder mehr Zeit für sich gehabt. Es war ein Fehler gewesen, sich mit Florian einzulassen. Aber solch ein Fehler musste sich doch korrigieren lassen.

„Hallo, Liebes“, sagte Florian. „Ich habe schon zweimal angerufen.“

„Hab‘ ich gehört.“

„Ich weiß, ich soll das nicht tun.“

„Warum hast du‘s dann getan?“

„Weil ein Notfall vorliegt – gewissermaßen.“

„Was für ein Notfall? Bis du krank?“

„Krank? Ich?“ Florian lachte. „Ich war vor zehn Jahren das letzte Mal krank.“

„Um was für einen Notfall handelt es sich dann?“

„Adrian Sagebiel ... Ich weiß nicht, ob ich dir schon von Adrian erzählt habe ...“

„Hast du nicht.“

„Also, Adrian war in der Schule mein bester Freund.“

„Ist schon eine Weile her, würde ich sagen.“

„Ja“, gab Florian zu. „Aber neulich sind wir uns auf der Straße wiederbegegnet. Es war so, als hätten wir uns zuletzt vor einem Monat gesehen. Kurz und gut, wir sind wieder ein Herz und eine Seele ...“

„Wie schön für euch beide.“

„Aber das wollte ich dir ja gar nicht erzählen“, sagte Florian. Er schweifte völlig vom Thema ab und stellte Tanjas Geduld damit mal wieder auf eine harte Probe. „Es geht um etwas anderes: Adrian hat mir zwei Theaterkarten gegeben. Seine Freundin liegt mit einer fiebrigen Bronchitis im Bett, und er meint, es wäre schade, die Karten verfallen zu lassen. Das Stück soll nämlich ganz toll sein. Eine Boulevard-Komödie. Prominent besetzt. Zum Schieflachen.“

„Tut mir leid, Florian, mir ist heute nicht zum Lachen zumute.“

„Oh, Tanja.“ Seine Enttäuschung war nicht zu überhören.

„Ich habe einen harten Arbeitstag hinter mir und bin todmüde. Ich möchte nur noch nach Hause gehen, mich in die Wanne legen, ein entspannendes Bad nehmen und mich anschließend ins Bett legen.“

„Und was mache ich mit den Theaterkarten?“

„Gibt es niemand anderen, den du anrufen könntest?“

„Ich wüsste nicht ...“

„Karola würde sich über deinen Anruf bestimmt freuen“, meinte Tanja.

Karola Schulze war Malerin und schon lange hinter Florian her, aber sie entsprach nicht seinem Typ. So wie Florian nicht Tanjas Typ entsprach. Leider hatte sie das zu spät erkannt. Und nun stand ihre Beziehung vor einer Trennung.

„Karola hat zurzeit in Paris eine Ausstellung“, sagte Florian.

„Du findest bestimmt jemand anderen, der dich ins Theater begleitet.“

„Kannst du dich nicht überwinden, mit mir ...“

„Nein, Florian, auf keinen Fall“, antwortete Tanja entschieden.

„Schade.“ Er stieß einen Seufzer aus. „Gehst du morgen Mittag mit mir essen? Du hast doch morgen frei, oder?“

„Ja.“

„Gehen wir zu ‚Alberto‘?“

So hieß ein neues Restaurant in der Innenstadt von Hannover. Seit seiner Eröffnung vor einem Jahr gingen vor allem die wohlhabenden dort ein und aus.

Das wäre der richtige Rahmen für den letzten Vorhang, ging es Tanja durch den Kopf. „Na gut, ich komme.“

„Sehr gut.“

„Außerdem wünsche ich dir einen schönen Theaterabend.“

„Ich denke, ich werde ebenfalls zu Hause bleiben und die Karten meinem Nachbarn schenken.“

„Gute Idee“, erwiderte Tanja und legte auf.

Zehn Minuten später verließ sie die Falkenberg-Klinik und fuhr nach Hause. Als sie dort ankam, entdeckte sie ihre Cousine Manuela Dreger auf den Eingangsstufen sitzen.

„Was machst du denn hier?“, fragte sie erstaunt.

„Wonach sieht es denn aus?“ Manuela erhob sich und lächelte. „Ich warte auf dich.“

Tanja suchte in ihrer Handtasche nach den Wohnungsschlüsseln. „Du sitzt wie eine armselige Bettlerin auf meiner Fußmatte ...“

„Ich wollte in zehn Minuten gehen.“

„Entschuldige, ich hatte heute etwas länger in der Klinik zu tun.“ Tanja fand die Schlüssel und schloss die Wohnungstür auf. „Und dann bekam ich auch noch einen Anruf von Florian.“

„Bist du immer noch mit ihm zusammen? Ich dachte, er würde dir nichts mehr bedeuten.“

Tanja öffnete die Tür und forderte ihre Cousine mit einem Kopfnicken auf, einzutreten. „Das tut er auch nicht“, sagte sie. „Jedenfalls nicht mehr. Deshalb werde ich morgen mit ihm Schluss machen.“

„Ahnt er‘s schon?“

„Ich glaube nicht.“

„Dann solltest du es ihm so schonend wie möglich beibringen. Schließlich ist es nicht seine Schuld, das du nicht fähig bist, seine Liebe zu erwidern.“

„Ich hoffe, ich werde morgen bei ‚Alberto‘ die richtigen Worte finden“, meinte Tanja, denn es lag ihr fern, Florian wehzutun. Sie nahm sich vor, an seine Vernunft zu appellieren. Vielleicht klappte es, und Florian sah ein, dass es wirklich besser war, wenn sie in Freundschaft auseinandergingen. In Tanjas gemütlicher Vier-Zimmer-Wohnung roch die Luft etwas abgestanden, deshalb öffnete sie eines der Fenster.

„Du siehst müde aus“, stellte Manuela fest.

„Ich bin müde.“

„Dann sollte ich lieber ein andermal wiederkommen.“

„Blödsinn. Setz dich. Ich koche uns starken Kaffee. Das wird meine Lebensgeister auf Vordermann bringen.“

„Für mich bitte keinen Kaffee. Nicht um diese Zeit, sonst kann ich heute Nacht nicht schlafen. Ich bin sowieso schon aufgekratzt genug.“

„Lieber eine Tasse Früchtetee?“

„Wenn es dir nicht zu viele Umstände macht.“

„Na, hör mal.“

Als sie eine Viertelstunde später am Küchentisch saßen und Tee und Kaffee tranken, erkundigte sich Tanja: „Kommst du mit deiner zukünftigen Schwägerin inzwischen etwas besser aus?“

Manuelas Blick verfinsterte sich. „Ich hoffe, Ulrike wird nie meine Schwägerin.“

„Das heißt wohl, dass ihr euch nach wie vor im Kriegszustand befindet.“

Manuela seufzte. „Es ist ein kalter Krieg. Und er wird jeden Tag kälter. Ich ertrage das bald nicht mehr. Weißt du, was Ulrike zu mir gesagt hat? Ich soll ausziehen, wenn ich mit ihr nicht mehr unter einem Dach leben will. Stell dir das mal vor. Sie hat die Frechheit, mir so etwas vorzuschlagen. Ich soll das Haus meiner Eltern verlassen. Das Feld soll ich für sie räumen.“

„Was hast du erwidert?“

„Dass mir das halbe Haus gehört. Darauf antwortete sie: ‚Pascal und ich werden dir die Hälfte abkaufen.‘“

„Woher nehmen sie denn das Geld?“, wollte Tanja wissen.

„Das habe ich sie auch gefragt.“

„Und was hat sie geantwortet?“

„‘Das ist unsere Sache.‘“ Manuela zog die Mundwinkel nach unten. „Ich weiß, dass Pascal so gut wie nichts gespart hat, und in der Firma, in der er arbeitet, knistert und knackt es ziemlich im Gebälk.“

„Muss er um seinen Posten fürchten?“

„Leider ja“, gab Manuela zur Antwort. „Aber dafür hat Ulrike die Chance, Filialleiterin zu werden. Behauptet sie zumindest. Ob es der Wahrheit entspricht, ist eine andere Sache.“

„Wenn Pascal entlassen wird, würde er auch sein Selbstwertgefühl verlieren“, meinte Tanja nachdenklich. „Vor allem dann, wenn seine Lebensgefährtin beruflich aufsteigt.“

„Auf jeden Fall haben sie nicht so viel Geld, um mir die Hälfte des Hauses abkaufen zu können. Sie müssten Schulden machen, und das wäre das Dümmste, was sie in Pascals derzeitiger Situation machen könnten.“

„Aber wie soll es weitergehen mit dir und Ulrike?“, fragte Tanja. „Könnt ihr euch nicht irgendwie arrangieren?“

Manuela verzog das Gesicht, als hätte sie Essig getrunken. „Ich habe im Moment keinen Nerv dafür, Ulrike kompromissbereit entgegenzugehen. Ich brauche Ruhe und Frieden für meine Diplomarbeit, und beides habe ich nicht, seit diese Person da ist.“

„Kann Pascal nicht auf sie einwirken, damit sie dich in Ruhe lässt?“

Manuela schüttelte den Kopf. „Pascal ist nicht bereit, den Schiedsrichter zu spielen“, antwortete sie. „Ich kann‘s verstehen. Er möchte uns beide nicht verärgern und steht auf dem Standpunkt, dass wir uns irgendwie zusammenraufen sollten. Aber ich kann keine brauchbare Diplomarbeit schreiben, wenn ich einen Großteil meiner Energie in den Dauerzwist mit Ulrike investieren muss.“ Sie schaute Tanja an. „Und deshalb bin ich heute hier, um dich um einen großen Gefallen zu bitten. Du lebst allein in dieser großen Wohnung. Könntest du mir nicht für die Zeit, die ich mit meiner Diplomarbeit beschäftigt bin, einen Raum zur Verfügung stellen?“

Tanja überlegt nicht lange. „Klar kann ich das. Ist überhaupt kein Problem.

Manuela lächelte. „Danke, vielen Dank.“

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