Читать книгу Magnus Carlsen. Das unerwartete Schachgenie - Aage G. Sivertsen - Страница 11
Die Schwestern Gara
ОглавлениеDie jüdischen Schwestern Gara sind weit weniger bekannt als die Schwestern Polgár. Auch sie stammen aus Ungarn, doch ihre Geschichte blieb außerhalb ihrer Heimat erstaunlich unbeachtet.8 Anita und ihre Schwester Ticia sind heute Schachprofis, sie spielen von Kindesbeinen an Schach.
Ihr Vater, der heute fast achtzigjährige Imre Gara, ist Arzt, und der Zufall wollte es, dass der Großvater der Polgár-Schwestern in demselben Krankenhaus behandelt wurde, in dem Imre Gara arbeitete. Als László Polgár zu Besuch kam, erzählte er von der Schachkarriere seiner Töchter. Er garantierte, dass die Schwestern Gara, die damals fünf beziehungsweise sechs Jahre alt waren, in die Weltspitze im Schach vordringen würden, wenn sie seinen Plan befolgten. Imre Gara war begeisterter Schachspieler und hatte eine Spielstärke im Bereich von Henrik Carlsen, kein Wunder also, dass er die Idee interessant fand.
Etwa zur gleichen Zeit entdeckte die Leiterin von Ticias Kindergarten eine Besonderheit. Sie war der Ansicht, dass Ticia weit klüger war als die übrigen Kinder, und empfahl den Eltern, einen Psychologen aufzusuchen. Der Psychologe teilte die Ansicht der Kindergärtnerin und schlug vor, Ticia solle anfangen, Schach zu spielen.
Imre Gara hörte das gern. Er und seine Frau trafen eine Entscheidung. Sie wollten Anita und Ticia zu den weltbesten Schachspielerinnen erziehen.
László Polgár entwarf ein Trainingskonzept, das mit dem Plan identisch war, den er für seine Töchter entwickelt hatte. Ein Aktionsplan, der hundertprozentig eingehalten werden sollte. Er erklärte unmissverständlich, dass die gewünschten Resultate nicht erzielt werden könnten, wenn die Vorgaben nicht Punkt für Punkt erfüllt würden. László Polgár begleitete die Erziehung der Schwestern mehrere Jahre lang, er motivierte die Eltern wie auch die beiden Kinder.
Wie sollten aus zwei Kindern im Alter von fünf und sechs Jahren, die zuvor nie eine Schachfigur in der Hand gehabt hatten, die besten Schachspieler der Welt werden? Anita und Ticia waren zu dieser Zeit sportlich sehr aktiv. Die Mädchen spielten Tennis und Tischtennis, gingen in die Tanzschule und schwammen. Im Winter liebten sie es, Ski zu fahren und Schlittschuh zu laufen. Sie spielten mit anderen Kindern. Ticia ging in den Kindergarten, Anita in die erste Klasse. All dies wurde nun komplett auf den Kopf gestellt.
Laut Trainingsplan sollten die Mädchen pro Tag sieben bis acht Stunden Schach spielen oder Schachunterricht bekommen. Daneben hatten sie weiterhin die Gelegenheit zu anderen sportlichen Aktivitäten, aber weit weniger, als sie es gewohnt waren. Ein bisschen Sport war gut, aber nicht zu viel. Filme, Konzerte, Fernsehen, andere Spiele als Schach, Spielen mit anderen Kindern, Lesen oder sich einfach nur unterhalten, all dies waren aus László Polgárs Sicht störende Faktoren.
Für Anita und Ticia wurde eine Regelung gefunden, die sie vom Schulunterricht befreite, allerdings mussten sie jedes Halbjahr eine Prüfung ablegen. Die Eltern unterrichteten sie daheim. Besonderer Wert wurde auf das Erlernen von Sprachen gelegt. Dies war ein Teil von Polgárs Plan.
Sie lernten Esperanto und vor allem Englisch. Allerdings sei es nicht gut, zu viele Sprachen zu lernen. Laut László Polgár würde sich dies negativ auf die Schachentwicklung auswirken. Eine der Polgár-Schwestern, Susan, hatte sieben Sprachen gelernt, und ihr Vater war überzeugt, dass darunter ihre Fähigkeiten im Schach gelitten hatten.
Ein Teil des Plans sah vor, dass die Kinder sehr gute Trainer bekamen, einen Experten für jede Partiephase. »Sehr häufig waren vier, fünf Trainer gleichzeitig bei uns. Wir hatten einen Spezialtrainer für alle Teilbereiche. Einen für Eröffnungen, einen für das Mittelspiel, einen für das Endspiel, einen für Blitzschach und einen für Blindschach.«
Die Eltern wollten ihren Kindern mit Schach zu einem guten Leben verhelfen. Sie sollten Sprachen lernen, viel reisen, durch Turniersiege Geld verdienen, sie sollten es zu Selbstvertrauen und Wohlstand bringen. Das Problem bestand allerdings darin, dass die Eltern Polgárs Programm nicht Punkt für Punkt befolgten. Imre Gara wollte seine Kinder nicht zu reinen Schach-Nerds erziehen. Er wünschte sich, dass sie sich auch auf anderen Gebieten deutlich besser entwickelten, als das Programm vorsah.
Eine Idee Polgárs bestand darin, die Kinder aus ihren natürlichen Aktivitäten herauszureißen, damit sie sich voll und ganz aufs Schachspielen konzentrierten konnten. Dadurch sollten sich Leidenschaft und Besessenheit für die Kunst des Schachspiels entwickeln. In der Konsequenz hätte dies ein asoziales Leben bedeutet.
»Wir folgten Polgárs Methoden nicht sklavisch. Vor allem schätzten wir andere Aktivitäten, die nichts mit Schach zu tun hatten, aber der Alltag bestand schon hauptsächlich darin, Schachspielen zu lernen«, berichtet Anita, die ältere der beiden Schwestern.
Unabhängig von der konkreten Methode ist Disziplin eine der Voraussetzungen, die erfüllt sein muss, wenn man die Weltspitze erreichen möchte – ganz gleich, um welche Sportart oder Aktivität es geht. Schach ist da keine Ausnahme. Die Russin Alexandra Kostenjuk, ehemalige Gewinnerin der Frauen-Weltmeisterschaft, berichtete, dass sie ihr Weltklasseniveau nicht dauerhaft halten konnte: »Weitermachen hätte für mich und Judit Polgár bedeutet, in einem Gefängnis zu sitzen. Man muss sich zehn oder zwölf Stunden pro Tag ins Schach vergraben, und ein solches Leben will ich nicht führen.«
Die Schwestern Gara wurden zu einem solchen Leben erzogen. Sie sind mehr oder weniger schon ihr ganzes Leben lang Schachprofis. Beide errangen mehrere ungarische Meistertitel, in einigen Altersklassen haben sie auch bei Weltmeisterschaften Medaillen gewonnen. Anita hatte als Neunzehnjährige eine Elo-Zahl von 2365, ihr höchstes Rating betrug bisher 2405. Ticia erreichte mit siebzehn Jahren 2381 Elo-Punkte, das ist bis heute ihre höchste Notierung.
Wenn sie Kinder bekommen, wollen die beiden Schwestern sie genauso erziehen, wie sie aufgewachsen sind.