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Magnus als Mozart

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»Nach Gott kommt gleich der Papa.«

Wolfgang Amadeus Mozart

Sven Magnus Øen Carlsen wurde zum ersten Mal als Mozart des Schachs bezeichnet, nachdem er als Dreizehnjähriger beim renommierten »Corus-Turnier« in Wijk aan Zee seine erste Großmeisternorm errungen hatte. Magnus hatte ein so wunderbares Schach gespielt, dass der Vergleich angebracht war. In seiner wöchentlichen Schachkolumne in der Washington Post verlieh der Schachjournalist Lubomir Kavalek im Januar 2004 Magnus Carlsen den Titel The Mozart of Chess.

»Er zeigte sein enormes Talent mit einer der großartigsten Angriffspartien, die in diesem Jahr in Wijk aan Zee gespielt wurden«, schrieb er. Danach verglich er ihn wiederholt mit dem Wunderkind der klassischen Musik. Es war allerdings nicht das erste Mal, dass ein junges Schachgenie mit Mozart verglichen wurde. Schon mehrere Weltmeister waren als »Mozart des Schachs« bezeichnet worden.

Außerdem gibt es von 60 Minutes auf CBS einen Dokumentarfilm mit dem Titel The Mozart of Chess. Weder der amerikanische Sender noch andere Schachjournalisten haben sich aber je die Mühe gemacht herauszufinden, ob die beiden tatsächlich irgendwelche Gemeinsamkeiten aufweisen. So verkam die Bezeichnung »Mozart des Schachs« zum reinen Klischee. Die Frage ist also, ob es Parallelen zwischen dem Wunderkind des Schachs und dem mystischen Wolfgang Amadeus Mozart gibt. Auch Magnus Carlsen hat etwas Mystisches. Das zumindest behauptete der ehemalige Weltmeister Boris Spasski im November 2014 in Sotschi: »Magnus Carlsen ist ein unterirdischer Kobold. Ich mag ihn. Er ist ein feiner Kerl und ein guter Schachspieler. Und er hatte schon immer etwas Mystisches.«1

Fraglos hatte Wolfgang Amadeus’ Vater, Leopold, beschlossen, dass sein Sohn sich zu einem musikalischen Phänomen entwickeln sollte. Alle entsprechenden Maßnahmen wurden eingeleitet. Bei Magnus Carlsen war es nicht ganz so. Zwar lernte er bereits im Alter von fünf Jahren die Schachregeln, doch erst als Achtjähriger begann er, sich ernsthaft mit dem königlichen Spiel zu beschäftigen. Allerdings spielte der Vater, Henrik Carlsen, durchaus mit dem Gedanken, dass sein Sohn sich zu etwas Außerordentlichem entwickeln könnte, und auch er veranlasste die notwendigen Maßnahmen.

Die Bedingungen und Voraussetzungen waren für Magnus nicht besser als für seine drei Schwestern Ellen, Ingrid und Signe. Es zeigte sich nur, dass Magnus schon früh besondere Eigenschaften besaß. Bereits im Alter von einem Jahr spielte er mit großem Interesse und großer Ausdauer mit Lego-Steinen. Als Zweijähriger kannte er die Namen sämtlicher Automarken, und noch vor seinem vierten Geburtstag konnte er sich bestimmte Dinge besser merken als mancher Erwachsene. Im Alter von fünf Jahren kannte Magnus die Namen aller norwegischen Orte, erkannte die Ortswappen, wusste die Namen sämtlicher Hauptstädte auf der ganzen Welt und konnte exzellent Kopfrechnen.

»Wichtiger als der Erwerb sozialer Eigenschaften war für mich, dass Magnus sich Kenntnisse aneignete und intellektuelle Fertigkeiten entwickelte«, erklärt Henrik Carlsen.

Als Magnus in die Schule kam, konnte er bereits lesen und schreiben. Man erwog, ihn die erste Klasse der Grundschule überspringen zu lassen, die Eltern lehnten es ab. Allerdings vereinbarten sie mit dem Lehrer, dass er zusätzliche Anregungen und Anreize bekommen sollte, so durfte er neben dem normalen Pensum Sportbücher lesen.

Magnus bedeutet auf Lateinisch »der Große«. Norwegen hatte sieben Könige namens Magnus. »Für uns war es vollkommen normal, dass wir ihn Magnus nannten«, berichtet sein Vater. »Selbstverständlich war uns klar, dass es ein königlicher Name ist, aber er gefiel uns.«

Amadeus. Man muss sich diesen Namen auf der Zunge zergehen lassen. Eigentlich war er als Theophilus geboren, das griechische Wort für »den von Gott Geliebten«. Auf Lateinisch wurde daraus Amadeus.

Henrik Carlsen ging nicht davon aus, dass Magnus der beste Schachspieler der Welt werden würde. Jedenfalls nicht, bevor er zehn Jahre alt war. Damals, im Jahr 2000, wurde dem Vater klar, dass er einen Sohn mit einem ganz außergewöhnlichen Talent für das Schachspiel hatte:

»Als ich eines Tages die Karl Johans gate in Oslo entlangging, klingelte das Telefon. Ein enger Freund erklärte mir, dass Magnus Schachweltmeister werden könne. In dem Gewimmel auf der Straße hatte ich das Gefühl, die anderen Leute könnten das Gespräch mithören. Ich flüsterte daher, auch ich sei dieser Ansicht. In diesem Moment kam mir zum ersten Mal der Gedanke, er könnte der beste Schachspieler der Welt werden. Er war zehn Jahre und ein paar Monate alt.«

Henrik hatte damals dasselbe Rating wie heute, rund 2000 Elo. Eine solche Spielstärke erreichen sehr viele recht gute Spieler nach jahrelangem Training. Viele Schachspieler trainieren mehrere Stunden am Tag, und das zwanzig bis dreißig Jahre lang, um ein höheres Rating zu erreichen. Magnus spielte als Neunjähriger bereits so gut wie sein Vater, und das, obwohl er erst ein Jahr am Brett verbracht hatte.

In Anbetracht seines jungen Alters war das Bemerkenswerteste an Wolfgang Amadeus Mozart die Qualität seiner Musik. Die Musikstücke, die er bereits als Fünfjähriger komponierte, sind nahezu unerklärlich gut. Schon im Alter von sechs, sieben Jahren steckte in seiner Musik eine Reife, die ihn in ganz Europa bekannt machte. Das Klavierspiel prägte seinen Alltag. Der Junge liebte es zu spielen. Er musste gezwungen werden, ins Bett zu gehen, sonst wäre er am Klavier eingeschlafen.

Amadeus liebte nicht nur die Musik, er spielte mit ihr. Das Publikum konnte eine Melodie summen, zu der er Variationen spielte, oder er begleitete eine Arie, die er nie zuvor gehört hatte. Er konnte sogar mit einer Binde vor den Augen oder mit dem Rücken zum Klavier spielen. Mit anderen Worten, er fand Gefallen daran, etwas Außergewöhnliches zu veranstalten. Vor allem aber suchte Wolfgang Amadeus Mozart in der Musik die Harmonie.

Magnus Carlsen wünschte sich vom frühen Alter an die totale Harmonie seiner Figuren. Er sagt: »Ich wünsche mir um jeden Preis, dass die Figuren zusammenarbeiten, dass sie auf den richtigen Feldern stehen und eine Harmonie bilden, eine Art Vollkommenheit.«

Leopold Mozart sorgte dafür, dass der Sohn mehrere Instrumente beherrschte. Neben Klavier lernte er Violine und Orgel, damit er ein kompletter Musiker werden konnte.

Bei Magnus Carlsen könnte man das Klavier vielleicht mit dem Mittelspiel im Schach vergleichen. Darin lag sein großes Talent, und damit überraschte er in den ersten Jahren oft seine Gegner. Im Mittelspiel konnte er eine Leichtfigur opfern, um anschließend die Partie zu gewinnen. Um neue Wege beschreiten zu können, war es aber notwendig, auch die Eröffnung und das Endspiel zu beherrschen. Dies ließe sich mit der Rolle der Geige und der Orgel bei Mozart vergleichen. Nachdem Magnus sich auch zu einem Experten in der letzten Partiephase entwickelt hatte, dem Endspiel, war er der beste Schachspieler der Welt.

Als er anfing, sich für Schach zu interessieren, stand zunächst das Spielerische im Vordergrund. »Ich habe mehrfach versucht, Magnus dazu zu bringen, seine Hausaufgaben zu machen, aber ich habe ihn nie aufgefordert, Schach zu spielen. Es sollte ein Spiel sein, und die Motivation sollte von innen kommen. Wenn er sich abends ans Schachbrett setzte, mussten wir ihn oft zwingen, ins Bett zu gehen«, erzählt sein Vater Henrik Carlsen.

Das Besondere an Magnus’ Herangehensweise beim Schach war die Impulsivität. Statt mithilfe russischer Schachdisziplin besser zu werden, tat er nur das, was ihm selbst Spaß machte. Das ändert nichts an der Tatsache, dass er sich als Kind den ganzen Tag mit Schach beschäftigte. Wenn er abends zu Bett ging, dann nicht, um zu schlafen, sondern um Schachbücher zu lesen. Nachdem Henrik Carlsen die Tür zugezogen hatte, schaltete der Sohn das Licht ein.

Will man Magnus’ wichtigste Eigenschaft benennen, oder vielleicht den wichtigsten Faktor, warum er ein so extrem guter Schachspieler geworden ist, dann ist es vor allem die Freude am Trainieren und Spielen. Sein Freund und Sekundant Jon Ludvig Hammer beschreibt es so:

»Von seinem zehnten bis zu seinem dreizehnten Lebensjahr spielte er den ganzen Tag Schach. Je mehr er spielte, desto mehr gefiel es ihm. Training ist wichtig, aber wenn du dann noch glaubst, dass unbegrenztes Training nur positiv sein kann, hast du einen Vorsprung.«

Magnus begann als Achtjähriger vergleichsweise spät mit dem Schachspiel. Die meisten Spieler der Weltspitze fingen im Alter von fünf oder sechs Jahren an, allerdings gibt es auch Beispiele für Weltklassespieler, die später begonnen haben.2

Mozart entwickelte früh ein musikalisches Gedächtnis, das unfassbar erscheint. Als er fünf Jahre alt war, konnte er Musikstücke nachspielen, die er nur ein einziges Mal gehört hatte. Selbst herausragende erwachsene Pianisten haben damit Probleme.

Das Gedächtnis ist beim Schach wie in der Musik ein wichtiger Faktor. Sowohl Wolfgang Amadeus Mozart als auch Magnus Carlsen haben ein extremes Erinnerungsvermögen entwickelt, das weit über die normale Gedächtnisleistung hinausgeht.3

»Als Magnus sechs oder sieben Jahre alt war, kannte er sich unglaublich gut im Sport aus. Er hätte als Experte für sämtliche Sportarten bei Quizsendungen im Fernsehen auftreten können«, erzählt sein Vater.

Leopold Mozart war selbst ein Musiker auf hohem Niveau. Er war in der damaligen Zeit recht bekannt und als Musiker vermutlich weit besser als Henrik Carlsen als Schachspieler. Dennoch hatten sie die gleiche Leidenschaft, wenn es um ihre Söhne ging. Obwohl Henrik Carlsen Schach nie auf Spitzenniveau gespielt hat, ist seine Liebe zum Spiel zweifellos ein wichtiger Faktor. Dazu kommt, dass elterliche Liebe und Fürsorge für alle Kinder sowohl in der Familie Mozart wie in der Familie Carlsen einen sehr hohen Stellenwert hatten.

Leopold Mozart bestand 1736 das Abitur mit hervorragenden Noten. Später gab er sein Studium auf und widmete sich ausschließlich der Karriere seines Sohnes. Dies ist durchaus vergleichbar mit den Ideen und Plänen, die Henrik Carlsen für Magnus hatte. Als Magnus zwölf Jahre alt war, und die Familie sich zu einem schulfreien Jahr für die Kinder entschloss, geschah dies vor allem mit Blick auf den Sohn.

Wolfgang Amadeus Mozart ging bereits als Fünfjähriger mit seinem Vater auf Reisen, um aufzutreten und zu spielen. Vater und Sohn Mozart reisten mit Pferden und Kutschen durch ganz Europa. Auch die Familie Carlsen hatte ihre »Hauskutsche« – einen Kleinbus, mit dem sie von Turnier zu Turnier fuhr. Beiden Vätern ging es darum, die Bedingungen zu schaffen, damit ihre Söhne sich optimal entwickeln konnten. Amadeus besuchte nie eine Schule. Er lernte Latein, Englisch und Französisch vom Vater. Sowohl Leopold Mozart wie Henrik Carlsen begriffen, dass sie zu außerordentlichen Maßnahmen greifen mussten, wenn ihre Söhne etwas Außerordentliches werden sollten.

Frederic Friedel, der Erfinder der Schachdatenbank ChessBase, ist zugleich einer der erfahrensten Schachjournalisten. In einem Gespräch, das wir 2013 in Zürich führten, erklärte er: »Fraglos ist Magnus ein Genie. Aber … Henrik ist klüger.«

Beide Väter hatten verstanden, dass Inspiration ein wichtiger Schlüssel ist. Wolfgang Amadeus musste die großen europäischen Städte wie München, Paris und London besuchen und dort auftreten. Das anspruchsvolle und empfängliche Publikum war nur außerhalb der Kleinstadt zu finden, aus der sie stammten – Salzburg in Österreich. Amadeus lernte die großen Komponisten seiner Zeit kennen. Damals wurde die Musikwelt von Johann Sebastian Bachs jüngstem Sohn, Johann Christian Bach, dominiert. 1764 begegneten sich die beiden in London und spielten vierhändig. Wolfgang Amadeus Mozart saß auf Johann Christian Bachs Schoß, sie spielten zwei Stunden für das englische Königspaar.

Sollte Magnus richtig gut werden, musste er hinaus in die Welt, er musste an den großen Turnieren teilnehmen und auf die besten Spieler treffen. Inspiriert werden.

Amadeus verdiente viel Geld. Er hatte ein unkompliziertes Verhältnis zum Geld und war gewöhnt, dass sich das meiste von allein regelte. Was nicht immer der Fall war.

Seit Magnus Carlsen ein Weltstar im Schach ist, führt er ein Luxusleben. In den letzten fünf, sechs Jahren hat er Millionen verdient, Geldsorgen sind kein Thema. Im Gegenteil, er fährt die schicksten Autos, fliegt Business Class, wohnt in den teuersten Hotels und besucht zwischendurch die Finanzelite. Seine Begegnungen mit Milliardär Bill Gates oder Facebook-Gründer Mark Zuckerberg und sein Auftritt in einer populären norwegischen Talkshow erinnern an Mozarts Einladungen bei Hofe.

Amadeus wurde von den meisten europäischen Höfen eingeladen. Sein ohnehin großes Selbstvertrauen wurde dadurch nicht unbedingt kleiner. Immer wieder wies er darauf hin, wie gut er komponieren und spielen konnte.

Auch Magnus verhehlt nicht, wie gut er ist. Nachdem er 2009 in China eines seiner besten Turniere gespielt hatte, erklärte er: »Ich will das Schachspiel auf ein neues Niveau heben.«

Beide Söhne gehorchten ihren Vätern. Über Magnus lässt sich sagen, dass sein Vater die wichtigste Person in seiner Karriere war und ist, aber er legt großen Wert darauf, dass die ganze Familie ihm sehr viel bedeutet.

Leopold Mozart wollte streng genommen immer die volle Kontrolle über seinen Sohn haben. Das wurde mehr oder weniger unmöglich, nachdem Amadeus erwachsen geworden war. Leopold Mozarts Ambitionen waren extrem hoch, und er wusste, was er verlangte. Vielleicht sind auch Henrik Carlsens Ambitionen extrem hoch gewesen. Dann allerdings hatte er die ungewöhnliche Eigenschaft, sie gut verbergen zu können. Im Gegensatz zu vielen Eltern, die oft weit größere Ambitionen haben als ihre Kinder, ist Henrik Carlsen ungewöhnlich gelassen. So sieht es zumindest aus. An dieser Stelle muss eine Episode aus dem Film Searching for Bobby Fischer erwähnt werden, bei der mehrere Eltern bei einem Kinderschachturnier einen geradezu hysterischen Eindruck hinterlassen. Leider ist es tatsächlich so, dass viele junge Schachspieler wie dressierte Hunde wirken. Die Eltern wollen, dass sie gut werden.

Da es eine Reihe von Publikationen gibt, die auf Wolfgang Amadeus Mozarts Briefen basieren, ist die Quellenlage sehr gut, um sein musikalisches Genie zu beurteilen. Die Briefe belegen, dass er sich jahrelang in einem geradezu euphorischen Zustand befand, sie beschreiben eine tiefe Freude und beweisen, dass er sich als unabhängig und souverän wahrnahm.

Magnus Carlsen hat seit seinem dreizehnten Lebensjahr nahezu nichts anderes getan, als Schachpartien zu gewinnen, und seine Freude, Schach spielen zu dürfen, ist ganz offensichtlich. Sein Selbstvertrauen scheint unübertroffen.

Einer der größten Feinde des Musikers ist die Nervosität. Dasselbe lässt sich von Schachspielern sagen. Beim Schach ist Selbstvertrauen für den Erfolg von entscheidender Bedeutung. Mozart strahlte auf der Bühne Selbstsicherheit aus, und das gilt auch für Magnus, wenn er sich bei wichtigen Partien in Zeitnot befindet und von tausenden Zuschauern beobachtet wird. Auch auf diesem wichtigen Gebiet gibt es eine Gemeinsamkeit zwischen ihm und Mozart.

Magnus Carlsen. Das unerwartete Schachgenie

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