Читать книгу Magnus Carlsen. Das unerwartete Schachgenie - Aage G. Sivertsen - Страница 6
Boy meets Beast
ОглавлениеReykjavik, 12. März 2004
Nach dem normalen Open fand in Island noch ein Blitzturnier statt. Dabei kam es zu einer kleinen Schachsensation. Denn Magnus Carlsen schlug den ehemaligen Weltmeister Anatoli Karpow.
Direkt nach der Partie wandte Magnus sich der Tribüne zu, auf der seine gesamte Familie saß. Der dreizehnjährige Junge lächelte und reckte den Daumen nach oben. Seine ältere Schwester Ellen erwiderte die Geste.
Karpow spielte zu dieser Zeit noch immer auf sehr hohem Niveau, und die norwegischen Medien überschlugen sich vor Begeisterung. Insgesamt vielleicht ein wenig übertrieben, aber den norwegischen Journalisten wurde allmählich bewusst, dass sich etwas Großes anbahnte. Allerdings ging es um die Randsportart Schach, nicht um Langlauf oder Fußball. Daher nahm man es nicht richtig ernst – noch nicht.
Am darauffolgenden Tag sollte Magnus gegen Garri Kasparow zum Schnellschach antreten. Kasparow hatte bei dem Blitzturnier den 2. Platz belegt, Magnus war Vorletzter geworden. Aufgrund dieser Ausgangssituation mussten die beiden beim anschließenden Schnellschachturnier gegeneinander antreten. Es war das erste Mal, dass Magnus Carlsen der Schachlegende begegnete.
Karpow war 2004 noch immer stark, aber Kasparow galt weiterhin als bester Spieler aller Zeiten. Er stand auf dem 1. Platz der Weltrangliste. »Boy meets Beast« titelte das Internetmagazin Chess-Base. Der Vergleich David gegen Goliath lag allerdings näher. Der gestandene, ernste, gut gekleidete Kasparow gegen einen Jungen, der mit den Beinen kaum den Boden berührte, wenn er sich an den Tisch setzte.
Magnus Carlsen belegte zu diesem Zeitpunkt Platz 786 der Weltrangliste. Kasparow hatte ein Rating von 2831, während Magnus gerade einmal bei 2484 stand. Die Partie war aussichtslos. Beim Fußball könnte man sie mit dem Spiel einer hervorragenden Erstligamannschaft gegen eine Jugendauswahl vergleichen. Normalerweise würde die Erstligamannschaft zweistellig gewinnen. Ein paarmal vielleicht nur mit sechs oder sieben Toren Unterschied, aber dass sie unentschieden spielen oder gar verlieren würde – undenkbar. Aber Schach ist kein Fußball. Der psychologische Faktor ist weitaus wichtiger und kann dazu führen, dass der Beste sogar gegen einen klar schwächeren Gegner verliert. Dennoch war der Unterschied in der Spielstärke so groß, dass es nahezu utopisch war, auf eine Sensation zu hoffen.
Am Vorabend entschied Magnus, sich mit der Lektüre von Micky-Maus-Heften auf die Partie vorzubereiten. Nach dem langen Open war er noch ein wenig erschöpft, und es gab keinen Grund, sich unnötig unter Druck zu setzen.
Das Schnellschachturnier, bei dem die Spieler eine Bedenkzeit von fünfundzwanzig Minuten für die gesamte Partie zur Verfügung hatten, sollte um 18 Uhr beginnen. Doch ein Spieler tauchte nicht auf: Kasparow. Normalerweise wird die Uhr in Gang gesetzt, und wenn der Gegner nicht rechtzeitig erscheint, hat er die Partie verloren. Der Veranstalter entschied jedoch, Kasparows Uhr nicht anzustellen, denn dem russischen Schachgenie war versehentlich nicht mitgeteilt worden, dass das Turnier an diesem Tag eine Stunde früher begann. Während Magnus gespannt auf den weltbesten Schachspieler wartete, schlenderte er umher und verfolgte die anderen Partien. Nach zwanzig Minuten erschien die Schachlegende. In einem tadellosen blauen Anzug, hellblauen Hemd und mit passender Krawatte. Selbstsicher, eine Hand in der Jackentasche, ging er direkt zum Tisch, an dem Magnus bereits saß. Er erklärte ihm, dass nicht er, sondern der Veranstalter für sein Zuspätkommen verantwortlich sei.
Kurz zuvor hatte Carlsen sich ein Glas Cola geholt. Normalerweise trinkt er Orangensaft, eine volle Flasche stand auch auf dem Tisch, aber er hatte Lust auf eine Cola. Kasparow zog sein Jackett aus und nahm die Armbanduhr ab, legte sie links neben das Brett. Er hatte weder Saft noch ein anderes Getränk mitgebracht. Das Publikum sah einen ehemaligen Weltmeister, der ungewöhnlich nervös zu sein schien. Magnus führte seinen ersten Zug aus, Bauer nach d4. Kasparow berührte sämtliche Figuren, rückte sie exakt so zurecht, wie er sie haben wollte, und verhüllte mit den Händen sein Gesicht, ehe er Bauer nach d5 erwiderte und die Uhr drückte.
Die Nummer 1 der Weltrangliste beging in der Eröffnung einen Fehler und erhielt als Quittung schon früh die schlechtere Stellung. Wenig später stand Magnus sogar klar besser, laut Kasparow – wie er später bekannte – sogar auf Gewinn. Während der Partie schüttelte Kasparow mehrfach den Kopf, das Publikum verfolgte aufmerksam das Geschehen. Magnus sah Kasparow an und wandte seinen Blick nicht mehr von ihm ab. Ein Zeichen, dass er mit seiner Stellung zufrieden war.
Kasparow erklärte ein Jahr später, er habe angefangen, an die sensationsheischenden Überschriften zu denken, als seine Stellung zusehends schlechter wurde. Nie zuvor war er auf einen Gegner mit einem so großen Altersunterschied getroffen, allerdings hatte er als Jugendlicher selbst mehrfach Erwachsene bezwungen, die nominell klar besser waren als er.
Kasparow saß ein wenig zusammengekrümmt am Tisch, und die Art und Weise, wie er die Lippen bewegte, zeigte, wie sehr ihm seine Stellung missfiel. Mehrfach verbarg er das Gesicht in den Händen, ganz offensichtlich konnte er nicht fassen, was sich auf dem Brett gerade abspielte. Während die Schachlegende nachdachte, entfernte sich Magnus einige Meter vom Tisch, um sich die anderen Partien anzusehen. Dies war womöglich ein psychologisches Mätzchen, in jedem Fall jedoch ein Zeichen geradezu grenzenloser Arroganz. Beim Schnellschach ist es sehr ungewöhnlich, dass ein Spieler während der Partie herumschlendert. Zumindest, wenn man gegen den Weltbesten spielt. Bei normalen Partien, die sich über mehrere Stunden hinziehen, geschieht es häufig, dass einer der Spieler den Tisch verlässt. Hin und wieder, um dem Gegner demonstrativ zu zeigen, wie sehr einem die eigene Stellung gefällt. Steht man beim Schach schlecht, kann es unglaublich irritierend sein, wenn der Gegner gähnt, aufsteht oder so tut, als hätte er die Partie bereits gewonnen. Als Magnus sich erhob und den Tisch verließ, hob Kasparow den Kopf und starrte ihn an. Vielleicht wollte er ihn psychisch beeinflussen, vielleicht überlegte er aber auch nur, ob Magnus begriffen hatte, wie schlecht Kasparows Stellung tatsächlich war. Und als Carlsen sich in dieser Sekunde entschied, den eiskalten Blick nicht zu erwidern, indem er den Tisch verließ, war das Antwort genug.
Nachdem Magnus aufgestanden war, führte Kasparow sehr schnell seinen nächsten Zug aus. Der Exweltmeister ertrug es nicht, ignoriert zu werden. Sobald Kasparow die Uhr gedrückt hatte, kam Magnus zurück und machte blitzschnell seinen nächsten Zug. In dem sicheren Glauben, die Partie gewinnen zu können, faltete er die Hände. Der Rest der Familie Carlsen saß einige Meter entfernt. Henrik Carlsen erklärte der zweitältesten Tochter Ingrid, dass Magnus Vorteil hätte. »Wenn Papa sagt, dass Magnus gut steht, gewinnt er normalerweise auch, und dann freue ich mich«, so Ingrid. Kasparow sah aus, als hätte ihn der Blitz getroffen, doch er kämpfte und schaffte es, seine Position schrittweise zu verbessern. Magnus wurde ein wenig nervös und fand nicht immer die beste Fortsetzung. Die Partie endete mit einem Remis. Der Meister war mit dem Schrecken davongekommen.
Die zweite Partie gewann der Russe mühelos. Hinterher wurde Magnus Carlsen von dem Regisseur Øyvind Asbjørnsen interviewt, der ihm ein Jahr lang kaum von der Seite wich und den Film The Prince of Chess drehte. Magnus war enttäuscht, dass er die zweite Partie verloren hatte. »Ich habe wie ein Kind gespielt«, erklärte der Junge.
Und Kasparow sagte nach der Partie: »Bekommt er die richtige Förderung, kann er der weltbeste Schachspieler werden.«