Читать книгу Magnus Carlsen. Das unerwartete Schachgenie - Aage G. Sivertsen - Страница 13
Zum ersten Mal Vollprofi9
ОглавлениеIm Jahr 2003 entschied sich die Familie Carlsen, eines ihrer Autos zu verkaufen, ihr Haus zu vermieten und die Kinder von der Schule zu nehmen. Sie wollten kreuz und quer durch Europa reisen. Ein Sabbatjahr für die ganze Familie, ein anstrengendes, aber erfolgreiches Jahr für Magnus. Zum ersten Mal trat er als professioneller Schachspieler auf. Allerdings wird eine solche Vorgehensweise in Norwegen nicht sonderlich gern gesehen. Man darf in einer Disziplin ruhig zu einem Könner werden, doch sollte man die Regeln des Systems nicht überstrapazieren. Umgekehrt musste ein ganzes Jahr schulfrei nicht zwangsläufig bedeuten, dass die Kinder weniger lernten. Im Gegenteil. Ziel der Eltern war es, dass die Kinder sich mindestens weiter so entwickelten wie in einem normalen Schuljahr.
Ein alter sechssitziger Transporter, ein Hyundai Van, sollte die Familie Carlsen durch ganz Europa transportieren – von einem Schachturnier zum nächsten. »Von Hunderten Leuten haben wir eine Menge Ratschläge bekommen, wie Magnus trainieren soll, um ein noch besserer Schachspieler zu werden. Sie alle wussten ganz genau, was für Magnus am besten ist«, so Henrik Carlsen.
Mitte August 2003, kurz vor Schulbeginn, ging es los. Mit dem Transporter voller Gepäck verließ die Familie Carlsen Oslo in Richtung Österreich. Die Kinder nannten das Auto einfach den »Kasten«, alle freuten sich auf die Reise. Natürlich gefiel ihnen der Gedanke, ein ganzes Jahr nicht zur Schule gehen zu müssen.
Am 23. August 2003 begann Magnus’ erstes Turnier auf der Reise, das Schwarzacher Open in Österreich. Er spielte sehr stark und hätte fast seine erste Großmeisternorm errungen. Das heißt, er gewann gegen mehrere wesentlich höher eingestufte Gegner. Ein vielversprechender Start in das Schachjahr.
Das nächste Reiseziel war Budva in Montenegro. Hier fanden die Jugend-Europameisterschaften statt. Die Carlsens fuhren über die Alpen, durch Italien und Kroatien. In den Tagen vor der Jugend-Europameisterschaft bestand ihr Alltag darin, historische Stätten zu besuchen, zu baden und Spaß zu haben. Allerdings war von vornherein festgelegt, dass die Kinder täglich eine Stunde mit Schularbeiten verbrachten. Im Großen und Ganzen wurde diese Vereinbarung eingehalten.
Bei der Europameisterschaft führte Magnus nach sieben Runden souverän mit 6,5 Punkten. In den letzten zwei Partien war er jeweils klarer Favorit, brachte es aber fertig, beide zu verlieren. Er erreichte den dritten Platz in der Gruppe der Jungen unter vierzehn Jahren. »Es war verdammt ärgerlich, dass ich kein Gold geholt habe«, erklärte er später, »aber der Frust ging schnell vorbei.«
Schon bald gab es neue Möglichkeiten. Sechs Tage nach der Europameisterschaft kam das nächste Turnier, der Europacup der Vereinsmannschaften. Austragungsort war Kreta. Für die anderen Familienmitglieder war die Insel der perfekte Urlaubsort. Meer und Sonne, und überall gab es antike Stätten wie die über zweitausend Jahre alten Ruinen des Palastes von Knossos zu besichtigen. Alle Kinder mussten einen Aufsatz über den Palast schreiben, auch Magnus.
Norwegen hatte nie eine Mannschaft entsandt, die auch nur in die Nähe einer Spitzenplatzierung gekommen wäre. Bis dahin hatten die Osteuropäer die Ergebnislisten souverän dominiert. Magnus sollte für Asker antreten, einen Vorort von Oslo, und er bekam die Möglichkeit, am ersten Brett zu spielen. Dort sitzt der stärkste Spieler einer Mannschaft. Erneut erhielt der zwölf Jahre alte Junge die Chance, seine erste Großmeisternorm zu erringen.
Leider erkrankte Magnus direkt vor dem Turnier an einem Magenvirus. In Budva waren mehrere Spieler krank gewesen und hatten Magnus angesteckt. Während der gesamten Reise hatte er schlapp und kränklich hinten im »Kasten« gelegen. Als die Familie Carlsen auf Kreta ankam, war noch keine wesentliche Besserung eingetreten, »doch ich hatte mich so darauf gefreut zu spielen. Ich glaube, dadurch wurde ich gesund«, so Magnus.
Die besten Schachspieler der Welt waren versammelt, und Magnus holte 3,5 von 7 Punkten. Eine durchaus imponierende Leistung, wenn man bedenkt, dass er zu Beginn des Turniers noch krank war. Für eine GM-Norm reichte das Ergebnis allerdings nicht.
Das nächste Ziel war die Junioren-Weltmeisterschaft. Von den historischen Stätten auf Kreta ging es an den nächsten Urlaubsort, auf die griechische Halbinsel Chalkidiki. Auf dem Weg dorthin machte die Familie einen Abstecher zum Olymp, dem Berg der Götter, und besichtigte in Athen natürlich die Akropolis. Auf diesem Teil der Reise hatten die Multiplikationstabellen auf dem wöchentlichen Schulplan gestanden. Magnus und seine große Schwester Ellen waren ausgezeichnet im Kopfrechnen.
Rund zweitausend Schachspieler sowie Eltern und Organisatoren der Reisegruppen hatten sich in dem kleinen Dorf Kallithea versammelt, darunter eine große norwegische Schachdelegation mit fast zwanzig Personen. Außerdem hatten Henrik Carlsens Eltern beschlossen, ihren Urlaub in Kallithea zu verbringen.
Für Magnus ging es wieder um eine Medaille. Aus seiner Sicht hatte er sich bei der Europameisterschaft blamiert und sann auf Revanche. Das Turnier begann gut, doch dann wurde Magnus erneut krank. Das Turnier endete für ihn mit einem enttäuschenden neunten Platz.
»Eine Weile überlegte ich, ob das Programm nicht doch zu hart für Magnus war. Nach seinem Ergebnis bei der Weltmeisterschaft machte ich mir Sorgen, doch als Magnus nach seiner Krankheit wieder zu Kräften gekommen war, gab es keinen Zweifel, dass wir ihn weiterhin Turniere spielen lassen würden«, berichtet Henrik Carlsen.
Bei Turnieren, an denen die besten Jugendspieler teilnehmen, spielt das Rating keine so entscheidende Rolle. Dennoch haben viele Spieler großen Respekt, wenn sie bei normalen Turnieren auf jüngere Talente treffen, die sich mit aller Macht im Rating verbessern wollen. Und das nicht ohne Grund. Die zehn, zwanzig besten Spieler einer Junioren-Weltmeisterschaft strotzen normalerweise vor Selbstvertrauen und Dynamik; die meisten glauben, sie können Weltmeister werden.
In den traditionsreichen Schachnationen wie Russland und der Ukraine ist es üblich, dass die besten Spieler eigene Sekundanten haben, was ihnen einen großen Vorteil verschafft. Die Sekundanten analysieren vorher die Partien des Gegners, um Informationen über dessen Spielanlage zu bekommen, und legen ihrem Spieler einen entsprechenden Plan für die jeweilige Partie zurecht. Magnus Carlsen hatte keine Sekundanten, bevor er sich der Weltspitze näherte.
Trotz seines schwachen Resultats bei der Junioren-Weltmeisterschaft hatten einige Beobachter bemerkt, wie stark der Norweger in einzelnen Partien spielte. Herausragend war seine Partie gegen seinen Landsmann Hammer, die er mit einem spektakulären Opfer für sich entschied. »Nach der Junioren-Weltmeisterschaft hatte ich das eindeutige Gefühl, dass ich trotz des schlechten Ergebnisses mit einigen Partien sehr zufrieden sein konnte. Vor allem die erste Runde gegen Jon Ludvig Hammer, in der ich die Dame opferte, um ihn direkt danach mattzusetzen, gefiel mir gut«, erinnert sich Magnus.
Das nächste Reiseziel der Familie gilt als eines der schönsten der Welt. Direkt am Fuß des Vulkans Ätna liegt das pittoreske Taormina auf Sizilien. Henrik Carlsen schlug seinem Sohn vor, in den ersten Partien des Turniers jeweils Remis anzustreben, weil er noch immer ein wenig kränkelte. Doch Magnus folgte dem Rat seines Vaters nicht. Die erste Partie ging er offensiv an und musste bereits nach siebenundzwanzig Zügen aufgeben. Seine Chance, sich eine GM-Norm zu sichern, war damit erheblich kleiner geworden. Da die Voraussetzung für eine Norm 7 aus 9 war, musste er in den letzten acht Runden 7 Punkte erzielen, was vollkommen unrealistisch war. Unterm Strich endete das Turnier mit einer soliden Leistung und insgesamt 5,5 Punkten. Seine wiederholt erfolglosen Versuche, eine GM-Norm zu erringen, zeigen auch, wie groß der Unterschied zwischen dem IM- und dem GM-Titel ist. Magnus wollte diesen Titel in der kürzestmöglichen Zeit, am liebsten innerhalb eines Jahres erringen. Damit wäre er der weltweit jüngste Großmeister aller Zeiten gewesen.
Es wurde Dezember. Natürlich war es für alle Mitglieder der Familie Carlsen ungewohnt, mehrere Monate am Stück im Auto zu leben. Viel Zeit verbrachten sie damit, von einem Ort zum anderen zu fahren. Das Waschen der Kleidung war auch nicht immer einfach, dasselbe galt für den Einkauf von Lebensmitteln und das Zubereiten der Mahlzeiten. Alle waren sich aber einig, dass dies zu dem großen Plan gehörte, Magnus’ Entwicklung zu einem besseren Schachspieler zu fördern.
»Wir hatten keine besonders große Sehnsucht nach der Schule, aber wir vermissten unsere ganzen Freunde, besonders unsere kleine Schwester Signe«, erzählt Magnus’ ältere Schwester Ellen. »Trotzdem hielten wir zusammen, und im Nachhinein gibt es gar keinen Zweifel, dass es ein positives halbes Jahr war. Ich glaube, auch Magnus hat davon profitiert. Sein Verhältnis zu seiner Familie wurde noch enger, und dies gab ihm eine Sicherheit, die einfach von großem Nutzen war.«
Sigrun Carlsen, seine Mutter, hatte ein eher zwiespältiges Verhältnis zum Schach: »Bei einigen Turnieren sieht es so aus, als würde er so sehr leiden, dass ich ihn am liebsten in den Arm nehmen und nach Hause bringen würde. Zum Glück bekomme ich ständig zu hören, dass er das Schachspielen liebt, das hilft mir ein wenig.« In dem halben Jahr auf Reisen übernahm Sigrun Carlsen weitgehend die Aufgabe einer Lehrerin ihrer vier Kinder.
Nach einigen Monaten, in denen es auch im Süden Europas kühler wurde, bekam die ganze Familie Heimweh. Sie wollten Weihnachten zu Hause verbringen. Magnus’ dreizehnter Geburtstag wurde in Rom gefeiert, sie besuchten den Vatikan und das Kolosseum. Wenig später zeigte die Kompassnadel nach Norden. Der »Kasten« war bereit für eine lange Reise über Florenz nach Ungarn. In Budapest fand Mitte Dezember noch ein großes Schachturnier statt, an dem Henrik, Ellen und Magnus Carlsen teilnahmen. Magnus spielte ein gutes Turnier, verfehlte aber einmal mehr die Großmeisternorm.
Am 20. Dezember fuhren sie weiter Richtung Norden. Einen Tag vor Heiligabend saß Magnus mit seinem Schachtrainer Simen Agdestein zusammen und analysierte Partien. Sie kamen zu keinem Ende, und Magnus fragte, ob sie morgen weitermachen könnten. »Aber morgen ist doch Heiligabend«, erwiderte Agdestein.
Seit er anfing Schach zu spielen, hatte Magnus Carlsen fünf Trainer. Bjarte Leer-Salvesen war sein Lehrer im Freizeitangebot der Grundschule, Torbjørn Ringdal Hansen half ihm, sich von 900 auf 1900 Ratingpunkte zu verbessern, ein Sprung, für den der Junge lediglich ein Jahr brauchte. Magnus kam schachlich aus dem Nichts und spielte nun regelmäßig mit Erwachsenen, die seit zwanzig, dreißig Jahren vor dem Brett saßen. Im Alter von zehn Jahren wurde Simen Agdestein sein fester Trainer und arbeitete mit ihm zusammen, bis Magnus als Dreizehnjähriger zum zweitjüngsten Großmeister der Welt ernannt wurde. Eine hervorragende Entwicklung. Von da an unterrichtete ihn der damals beste Schachspieler Skandinaviens, der Däne Peter Heine Nielsen. Trainer zählen, so Henrik Carlsen, zu den wichtigsten Bausteinen auf dem Weg an die Weltspitze: »Alle Trainer waren für Magnus sehr wichtig. Sie spielten in den unterschiedlichen Phasen seiner Entwicklung eine einzigartige Rolle.«
Als Magnus acht Jahre alt war, trat er dem Schachklub der Gemeinde Bærum bei. Auch hier leitete Bjarte Leer-Salvesen das Training, den Magnus bereits aus der Grundschule kannte. Leer-Salvesen studierte damals Theologie an der Universität von Oslo und arbeitete nach Abschluss seines Studiums als Pastor. In seiner Gruppe waren rund zwanzig Kinder. Er erzählt: »Bereits nach ein paar Wochen merkte ich, dass Magnus besonderes Talent für das Schachspiel hatte. Er war schon nach sehr kurzer Zeit viel besser als alle anderen.«
Ein Jahr später spielte Magnus bereits sehr gut, und Torbjørn Ringdal Hansen übernahm die Trainingsverantwortung. Kurz zuvor hatte Leer-Salvesen beim Simultanschach gegen seinen Schüler gewonnen, als Magnus einer von fünfundzwanzig Spielern war, die gegen den Theologiestudenten antraten. Leer-Salvesen ist damit einer der wenigen Spieler auf der Welt, der Magnus im Simultanschach geschlagen hat, wenn Magnus zu den Herausforderern gehörte.
Dem norwegischen Schachgroßmeister Simen Agdestein war das Talent des Neunjährigen ebenfalls aufgefallen. Er schlug vor, dass Magnus bei Torbjørn Ringdal Hansen lernen sollte. Gleich zu Beginn des Unterrichts bemerkte Ringdal Hansen, dass der Junge etwas Besonderes hatte: »Es war völlig unglaublich, wie er sich an alles erinnerte, was ich ihm einmal erklärt hatte.«
Als Neunjähriger hatte Magnus ein Rating von ungefähr 900 und träumte davon, über 1000 Punkte zu kommen. Ein Jahr später stand er bereits bei einer Elo von 1900. Eine enorme Steigerung in so kurzer Zeit. Ringdal Hansen erklärte Simen Agdestein, dass nun er das Training übernehmen müsse. Magnus war zu gut für seinen Lehrer geworden!
Die Gemeinsamkeit aller fünf Trainer ist, dass ihre Spielstärke im Verhältnis zu ihrem Schüler besonders hoch war. Bjarte Leer-Salvesen hatte zu der Zeit, als Magnus mit dem Schachspielen anfing, annähernd 2300 Elo-Punkte. Zu dieser Zeit wurde Leer-Salvesen auch Internationaler Meister.
Torbjørn Ringdal Hansen hatte sogar noch einige Ratingpunkte mehr, als er die Verantwortung übernahm; er sollte Magnus’ erster richtiger Trainer werden.
Es kommt in Norwegen ausgesprochen selten vor, dass junge Schachspieler so gute Trainer haben wie Magnus Carlsen. In Russland ist es normal, dass Kinder mit dem Vater, einem Onkel oder einem anderen Verwandten trainieren. Das mag im ersten Moment vielleicht ein wenig amateurhaft klingen, doch sehr viele dieser Trainer sind ausgesprochen gute Schachlehrer und befinden sich oft auf einem hohen Niveau wie Leer-Salvesen und Ringdal Hansen.
Als Simen Agdestein und später Peter Heine Nielsen und Garri Kasparow die Verantwortung für das Training übernommen hatten, arbeitete Magnus Carlsen mit Kapazitäten zusammen, die der Weltelite angehörten. Kasparow war fünfzehn Jahre Weltmeister, Peter Heine Nielsen und Simen Agdestein zählten in ihrer besten Zeit zur erweiterten Weltspitze.
Man weiß von anderen Sportarten, dass diejenigen, die mit guten Sportlern trainieren, oft selbst gute Sportler werden. Ohne Zweifel ist dies auch bei Magnus Carlsen der Fall.