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Eine kompromisslose Methode

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Das extremste Beispiel aus der Schachszene sind die drei ungarischen Schwestern Susan, Sófia und Judit Polgár. Ihr Vater Lászlo Polgár behauptet in seinem Buch Die Erziehung von Genies, dass jedes beliebige Kind enorme Resultate in einem beliebigen Bereich erreichen könne.4 Voraussetzung dafür ist seiner Ansicht nach, dass die richtigen Grundlagen geschaffen werden müssen und dass fehlende angeborene Eigenschaften durch harte Arbeit ausgeglichen werden.

Diese Theorie ähnelt ein wenig der Überzeugung Malcolm Glad-wells, der behauptet, es seien zehntausend Trainingsstunden notwendig, um in einer Sportart in die Spitze vorzustoßen. In seinem Buch Überflieger versucht Gladwell zu erklären, welche Komponenten nötig sind, um Erfolg zu haben. Er führt mehrere gute Beispiele an, warum man über einen Zeitraum von zehn Jahren etwa diese Stundenzahl qualitativ hochwertiger Trainingseinheiten absolvieren muss, um in einer Sportart extrem gut zu werden.

Auch Magnus Carlsen hatte laut Angaben seines Vaters ungefähr zehntausend Stunden mit Schach verbracht, als er mit fünfzehn Jahren in die erweiterte Weltelite vordrang.

László Polgár hatte sich von vornherein für ein Experiment entschieden. Er suchte eine kluge Frau, die ihm sechs Kinder gebären sollte, und er wollte jedes dieser Kinder auf einem bestimmten Gebiet zu einem Genie erziehen. Es wurden schließlich nur drei Kinder, alles Mädchen, aber alle wurden ab ihrem vierten Lebensjahr systematisch zu Schachspielerinnen ausgebildet. Später wurden sie von der Schule genommen, spielten acht bis zehn Stunden am Tag Schach und reisten mit ihrem Vater zu Turnieren. Alle drei Mädchen erreichten die Weltspitze bei den Frauen. Die Jüngste, Judit, war der Konkurrenz vollkommen überlegen. Ihr gelang es sogar, in der Weltrangliste der Männer unter die besten Zehn zu kommen. Ein ziemlich ungewöhnliches Experiment, das mit einem aufsehenerregend guten Ergebnis endete.

Damit ein solches Unterfangen gelingt, muss das jeweilige Kind vermutlich bessere Voraussetzungen als andere mitbringen. Beim Beispiel der Polgár-Schwestern darf man ihre Eltern nicht vergessen. Beide verfügten über eine hohe Bildung, und zweifellos lagen ihre Veranlagungen und Fähigkeiten über dem Durchschnitt. Der Vater war Ingenieur, die Mutter ausgebildete Lehrerin. László Polgár war ein leidenschaftlicher Schachspieler mit einer Spielstärke auf dem Niveau Henrik Carlsens.

Allerdings zeigt sich, dass kein Elternteil zwangsläufig eine hohe Elo-Zahl haben muss, damit das Kind ein guter Schachspieler wird. Unter den hundert besten Spielern der Welt gibt es niemanden, dessen Vater oder Mutter den Titel eines Großmeisters errungen hat. Nur ein Spieler hat einen Vater, der Internationaler Meister (IM) ist: der ukrainische Großmeister Pavel Eljanow.

Es gab auch nie einen Weltmeister, dessen Eltern besonders gute Schachspieler waren. Dagegen ist bei Eltern von Weltmeistern sehr häufig ein höheres Bildungsniveau festzustellen. Dies deutet darauf hin, dass es beim Schach – im Gegensatz zu vielen anderen Sportarten – kein Vorteil oder gar eine Voraussetzung ist, dass die Eltern selbst zur Weltspitze zählten. Im Gegenteil, offenbar ist es sogar ein Nachteil, und zwar in dem Sinne, dass die Motivation möglicherweise nachlässt, wenn man es nicht schafft, den eigenen Vater im Schach zu schlagen.

Judit Polgár meint: »Die Entwicklung in den ersten sechs, sieben Jahren der Kindheit ist für einen Schachspieler extrem wichtig. Es ist so gut wie unmöglich, unter die Besten der Welt zu kommen, wenn man als Kind nicht von Anfang an Kreativität und intellektuelle Fähigkeiten beigebracht bekommt. Schach war unsere Muttersprache.« Es gibt keinen wissenschaftlichen Beleg, ob Judit Polgárs Behauptung stimmt. Wahrscheinlich aber schon.

Eine Besonderheit des Polgár-Experiments war, dass es sich bei den Probanden um Mädchen handelte. Man sollte meinen, dass Mädchen und Jungen bei der Geburt die gleichen Voraussetzungen mitbringen. Falls das zutrifft, müssten Mädchen sich genauso gut wie Jungen behaupten. Das ist definitiv nicht der Fall. Judit Polgár ist die einzige Schachspielerin, die sich jemals in der männlichen Weltelite etablieren konnte.

Man muss auf die Schachgeschichte zurückblicken, um die Gründe zu verstehen. Schach war normalerweise ein Spiel für Männer.5 In mehreren Ländern der Erde war Schach verboten. Und wenn es zugelassen wurde, war es oft ausschließlich Männern gestattet. Da Schach als Kriegsspiel bekannt ist, bei dem das erklärte Ziel streng genommen darin besteht, dem Gegner das Leben zu nehmen, ist es keine Überraschung, dass das Spiel lange nur Männern vorbehalten war.

In den letzten zehn Jahren hat die Zahl der Schachspielerinnen immer mehr zugenommen, vor allem junge Frauen zeigen zunehmend Interesse. Trotzdem gibt es nach wie vor eine strikte Trennung von Jungen und Mädchen. Bei Turnieren können Mädchen in der Gruppe der Jungen spielen, aber nicht umgekehrt. Der Grund liegt zum Teil in der Rekrutierung der Schüler. Es ist schwierig, Mädchen zu bewegen, sich an einer Aktivität zu beteiligen, die so von Jungen dominiert wird. Daher wurden eigene Mädchengruppen eingeführt. Doch diese Regeln können sich ändern. Über kurz oder lang werden sie sich sicherlich nicht mehr so behandeln lassen.

Judit Polgár gehört zu den Frauen, die sich weigern, an reinen Frauenturnieren teilzunehmen. Sie ist eine Pionierin unter den Schachspielerinnen – und sie war vor ihrem Karriereende stärker als fast alle Männer auf der Welt.

Magnus Carlsen. Das unerwartete Schachgenie

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