Читать книгу Schuldig - Aaron Holzner - Страница 10
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ОглавлениеDie beiden mussten eine Stunde in das 40 Kilometer entfernte Lüneburg fahren. Bisher wussten sie nur, dass die Melderin Ramona Leibner hieß. Rene trommelte nervös mit den Fingern auf das Lenkrad.
„Rene, bitte“, sagte Lea nach einer Weile.
Rene wusste, dass sie auf seine nervösen Finger anspielte, sie konnte es nicht leiden, wenn er das tat. Trotzdem malträtierte er weiterhin sein Lenkrad. Das machte er immer, wenn sie kurz davor waren, in einem Fall ein entscheidendes Stück weiterzukommen, aber etwas anderes sie aufhielt. Wie momentan der Verkehr und die Ampeln, die scheinbar kollektiv beschlossen hatten, auf Rot zu springen, wenn sie gerade über die Kreuzung fahren wollten.
„Du kannst die Verkehrslage ja doch nicht beeinflussen.“
„Das nicht, aber ich könnte bei der nächsten roten Ampel das Blaulicht auf dem Dach montieren und es einschalten.“
„Aus welchem Grund?“
„Damit wir schneller vorankommen.“ Rene lachte und wurde langsam etwas ruhiger. Er war trotz seiner größeren Erfahrung immer angespannter als Lea. Unter anderem das machte sie zu einem guten Team.
Für den Rest der Fahrt kamen ihnen die Ampeln nicht mehr in die Quere.
„Siehst du, du kannst es beeinflussen. Mit positiven Gedanken“, resümierte Lea.
„Das werde ich mir merken. Vielleicht löse ich den Fall so schneller. Positive Gedanken dürften mir in deiner Nähe ja nicht schwerfallen.“
Kurze Zeit später kamen sie bei dem Mehrfamilienhaus an, in dem Frau Leibners Wohnung lag. Rene parkte den Wagen am Straßenrand und sie stiegen aus. Er betätigte den Klingelknopf und wenig später tönte aus der Gegensprechanlage: „Ja bitte?“
„Rene Kettler von der Hamburger Mordkommission. Sie hatten sich über unsere Hotline gemeldet.“
„Ja, richtig. Kommen Sie rein. Vierter Stock.“
Schon ging der Türsummer.
Im Flur fiel Renes Blick auf einen Zettel, der am Fahrstuhl angebracht war und auf dem mit Großbuchstaben DEFEKT stand. Rene verzog das Gesicht, aber Lea meinte: „Ein bisschen Treppensteigen wird dich schon nicht umbringen. Ich denke, du bist durchtrainiert?“ Sie zwinkerte ihm zu.
„Das bin ich und das weißt du.“ Rene erwiderte ihr Zwinkern und nahm, wie um seine Worte zu bekräftigen, gleich zwei Treppenstufen auf einmal.
Oben angekommen wartete die etwas stämmige Frau Leibner schon auf sie. „Es tut mir leid, ich hätte Ihnen sagen sollen, dass der Aufzug kaputt ist.“
„Kein Problem“, erklärte Rene.
„Nicht? Ich wünschte, das könnte ich von mir auch sagen. Ich muss immer erst einmal durchschnaufen. Nach unten geht es ja noch, aber die Luft im Treppenhaus ist so stickig.“ Sie tupfte sich die Stirn mit einem Taschentuch, als wäre sie gerade die Stufen hinaufgekommen. „Wahrscheinlich sollte ich einfach mehr Sport treiben, aber das tue ich ja momentan ungewollt. Wenn ich oben angekommen bin, brauche ich erst einmal einen Schokoriegel, um wieder zu Kräften zu kommen. Ist vermutlich auch nicht besonders hilfreich, nicht?“
Die Frau machte Anstalten weiterzusprechen, da hielt ihr Rene seinen Dienstausweis unter die Nase, um einen erneuten Redeschwall schon im Keim zu ersticken. Seine Geduld war am Ende.
„Natürlich, Sie haben wahrscheinlich noch eine Menge zu tun. Ach, kommen Sie doch erst einmal rein.“
Rene deutete auf Lea. „Meine Kollegin Frau Burckhardt.“
Frau Leibner war allerdings schon in die Wohnung getreten, und Lea zuckte nur mit den Schultern.
„Kann ich Ihnen vielleicht ein Stück Kuchen anbieten?“, tönte es aus der Wohnung.
Sie gingen in die Richtung, aus der die Stimme kam. Sie fanden Frau Leibner in der Küche, und Rene verzog das Gesicht, als er darüber nachdachte, am Morgen schon Kuchen zu essen.
„Der steht noch von gestern hier. Aber er schmeckt noch genauso gut. Auf den Schreck heute Morgen musste ich mir erst einmal ein Stück gönnen. Mein Talent ist bei den Nachbarn sehr beliebt, daher backe ich öfter mal.“ Als die Ermittler immer noch nichts erwiderten, versuchte sie es mit etwas anderem: „Eine Tasse Kaffee vielleicht?“
Lea antwortete: „Das ist wirklich sehr nett von Ihnen, Frau Leibner. Aber wir würden jetzt wirklich gerne mit Ihnen über den Fall sprechen.“
Rene warf ihr einen dankbaren Blick zu.
„Natürlich, kommen Sie doch mit ins Wohnzimmer, da haben wir es gemütlicher.“
Sie folgten der Frau in einen Raum, in dem ein altes grünes Sofa und ein Röhrenfernseher standen. In einer Vitrine, auf der Fensterbank und oben auf dem Sofa saßen Puppen. Es sah nicht so aus, als ob die Frau häufig Besuch empfangen würde.
Lea begann mit der Befragung.
„Frau Leibner, Sie erklärten am Telefon, dass Sie unser Opfer kennen würden.“
„Ja, Christina. Ich kann immer noch nicht fassen, dass sie wirklich tot ist …“
Rene unterbrach sie, bevor die Frau zu einem erneuten Redeschwall ansetzen konnte. „Christina und weiter?“
„Christina Müller. Ach ja, das wussten Sie ja noch gar nicht. Daher kam es heute Morgen in den Nachrichten, weil Sie nach Hinweisen suchen. Wissen Sie, ich verfolge die morgens immer genau. Man will ja wissen, wenn draußen ein Serienmörder herumläuft, dann spare ich mir vielleicht die Treppenstufen.“
„Momentan gibt es noch keinerlei Anzeichen dafür, dass es sich um einen Serienmörder handeln könnte. Kannten Sie Frau Müller denn genauer?“
„Wir waren alte Schulfreundinnen.“
Rene schaute Frau Leibner intensiv in die Augen, woraufhin sie ihre Aussage korrigierte. „Gut, Freundinnen ist vielleicht ein zu großes Wort. Wir waren in einer Klasse.“
„Und haben seit dieser Zeit Kontakt gehalten?“, fragte Lea.
„Nein, leider nicht. Ich habe sie immer bewundert. Während ich die Intelligente war, war sie die Beliebte. Sie sah halt damals schon gut aus. Erst letztens habe ich sie auf Facebook wiederentdeckt und habe ihr eine Freundschaftsanfrage geschickt. Ich war so glücklich, als sie die angenommen hat. Immer wieder war ich kurz davor, sie anzuschreiben, aber ich wusste einfach nicht, was ich schreiben sollte. Wahrscheinlich wusste sie nicht mal, wer ich bin. Ich werde es wohl niemals herausfinden.“ Bei den letzten Worten war Frau Leibner immer leiser geworden.
Rene dagegen hielt sich nicht damit auf, ihr Mitgefühl zu spenden, sondern machte mit den Standardfragen weiter. „Wissen Sie, ob Frau Müller Feinde gehabt hat?“
„Feinde? Christina? Nein.“ Frau Leibner tat nach wie vor so, als wären die beiden Freundinnen gewesen, musste aber dann eingestehen: „Na ja, so nah standen wir uns eigentlich nicht, aber ich kann es mir nicht vorstellen. In der Schule war sie sehr beliebt, und ich denke nicht, dass sich das heute geändert hat, wenn ich mir ihr Bild betrachte.“
„Sie haben angegeben, dass sie bei Facebook befreundet waren. Hat sie da mal etwas gepostet, was auf Schwierigkeiten auf beruflicher oder privater Ebene hindeuten könnte? Finanzieller Art oder persönlicher?“
„Probleme? Ihr einziges Problem war, glaube ich, dass sie nicht wusste, ob sie nach Bali oder Mauritius fliegen sollte. Nur einen Tag hätte ich dieses Leben führen wollen. Sie hat immer gestrahlt, Partys, Bilder vom Strand. Immer war sie mit einem Haufen Freundinnen unterwegs.“
„Was ist mit einem Freund?“
„Laut Beziehungsstatus war sie jedenfalls ledig. Und die Fotos lassen auch nicht darauf schließen. Wahrscheinlich ist er noch nicht auf seinem weißen Schimmel dahergeritten gekommen. Sie war schon immer eine Prinzessin. Doch am Ende hat ihr das wohl auch nichts gebracht.“
„Fällt Ihnen sonst noch etwas ein, was uns vielleicht helfen könnte?“, erkundigte sich Lea abschließend.
„Leider nein, aber immerhin wissen Sie jetzt, um wen es sich bei Ihrem Opfer handelt.“
„Und dafür sind wir Ihnen sehr dankbar.“ Lea gab Frau Leibner ihre Karte. „Wenn Ihnen doch noch etwas einfallen sollte …“
„Werde ich mich bei Ihnen melden“, vollendete die Frau den Satz.
Als sie die Wohnung verlassen hatten, meinte Rene: „Wie gut, dass der Fahrstuhl kaputt ist. Ich kann eine kleine Sporteinheit jetzt gut vertragen.“
„Mir hat sie leidgetan.“
„Du fandest ja auch Emilie süß.“
„Ich bin auch nur eine Frau.“
„Ja, meine.“